Zwei Dinge vorweg:
Kannst du den Titel anpassen (z.b. auf "Matrix im Wandel der Zeit/Editionen" oder sonst etwas mit mehr Aussagekraft)? Sonst findet man das hier in 6 Monaten nicht mehr...
Und das Thema betrifft für mich nicht nur die Matrix, obwohl die natürlich als konkreter Fokus gut geeignet ist. Der Rest ist nämlich hauptsächlich Atmosphäre und die große Meta-Sicht auf das Setting.
Ich versuche mal, ob ich das beides unter einen Hut bringe.
Um den Ursprungskontext direkt aus dem Weg zu räumen:
Einfach so lassen wie das Internet kann man die Matrix offensichtlich nicht, weil es zum Einen schon frühere Editionen gab und zum Anderen das Setting sich ja gewisser Vorlagen bedient, wo es auch schon anders war - hat sich also erledigt.
Die Kernfrage bei dem ganzen Thema ist, ob man SR als "Retro-Future" betrachtet und das Setting entsprechend ausrichtet oder ob man sich das Elend aufhalst, mit aktuellen oder absehbaren Entwicklungen halbwegs Schritt zu halten.
(Randbemerkung: In waffentechnischer Hinsicht gibt es in SR in jeder Edition irgendwelchen Kram, der zum Erscheinungszeitpunkt grad als der neueste heiße Scheiß beworben wurde oder irgendwo als Projekt rumgeisterte. Aus keinem dieser Dinge ist wirklich was geworden, was mMn durchgehend absehbar gewesen wäre. Damit hat man die Editionen sehr eng zeitlich verortet - was grundsätzlich kaum vermeidbar ist. SF ist immer der Spiegel ihrer Zeit. Aber es zeigt schön die Haltung der Autoren zu dem Thema auf: es wird recht unreflektiert der Entwicklung hinterher gerannt).
Über mehrere Editionen betrachtet stellt man fest, dass die Autoren sich nicht klar für einen Weg entschieden haben. Ich würde sagen, sie hätten sich auch gar nicht für einen Weg entscheiden können.
Dem Thema Retro-Future trägt man mit dem SR2050-Quellenbuch Rechnung, auch wenn die Motivation dahinter leicht anders gelagert ist: Es ist als kleines Schmankerl für die Altspieler gedacht, denen das Setting früher besser gefiel. Auch hier gilt, dass die beiden Faktoren natürlich zusammenhängen, aber wirklich reflektiert hat man das auf Autorenseite gefühlt nicht. In dieser Richtung macht das allerdings nicht viel aus.
Relevanter ist es bei der Frage, wie sehr man versucht, das Setting aktuell bzw. futuristisch zu halten. Hier steht SR ganz schnell im Spannungsfeld zwischen dem, was heutzutage Near-Future-SF ist und was SR in seinen Anfängen war. Will heißen, wenn man zu viele neumodische SF-Aspekte aufgreift, läuft man Gefahr, das Setting zu entkernen und hat dann irgendwann kein SR mehr (was ja auch der Hintergrund eines Großteils der Altspielerkritik ist).
Nochmal:
Man kann sich nicht einfach kopfüber in die Zukunft stürzen, weil man dann recht flott kein "richtiges" SR mehr hat, aber man kann das Setting auch nicht als statische Retro-Future auslegen, weil a) man das noch nie so gehalten hat und erst mal genau ergründen müsste, was die Kernthemen des Settings sind und in welcher Form man die relevant halten kann und will, und b) man damit große Teile der Zielgruppe verliert.
Selig jene Konkurrenzprodukte aus längst vergangenen Tagen, die irgendwann den Geist aufgegeben haben und sich damit allein schon aus realweltlichen Gründen dieser Frage gar nicht stellen müssen. Die sind in sich abgeschlossen und können als Retro-Future bzw. als veraltete SF in ihrer Blase existieren. Aber das sind eben auch keine lebendigen Systeme mehr.
Gescheiterte Wiederbelebungs-/Aktualisierungsversuche wie Cyberpunk v3.0 mögen da als mahnendes Beispiel dienen, wie man es nicht macht.
Aber diese Frage ist der große Knackpunkt für die Zukunft von SR als Spiellinie und bislang zeichnet sich da keine Entspannung ab. Es knirscht seit Mitte der 90er mal mehr, mal weniger im Gebälk und man kann auf allen Seiten (also Autoren, SL und Spieler) wenig mehr tun, als die Augen zuzukneifen und sich irgendwie durchzuwursteln. Alles andere würde ein enormes inhaltliches und unternehmerisches Risiko bedeuten.
Die einzige halbwegs gangbare Lösung wäre wohl eine Auftrennung in eine "SR Classic"-Line und eine deutlich ambitioniertere, geplante Weiterentwicklung des Settings in die Zukunft bis mindestens ca. 2100. Solange man mit den realen Jahreszahlen Schritt hält und in GRWs und Erweiterungen irgendwelche ad hoc-Modernisierungen raushaut, wird sich aber am aktuellen Zustand nichts ändern.
Und angesichts dessen, was die SR5-Autoren so liefern, gehe ich davon aus, dass für so einen Schritt weder die Notwendigkeit gesehen wird noch die Manpower und Organisationsfähigkeit vorhanden ist, das halbwegs ordentlich über die Bühne zu bringen. Von der Frage abgesehen, ob die derzeitige Besetzung grundsätzlich ein gutes Setting mit so veränderten Rahmenbedingungen zustande bringen könnte - ich bezweifle es.
Im schlechtesten Fall würde man damit im laufenden Betrieb das wiederholen, was Cyberpunk passiert ist. Dann gäbe es als Schatten seines früheren Selbst die SR Classic-Line und eine gescheiterte Weiterentwicklung des Settings. Nachvollziehbar, dass man diesen Schritt scheut.
Damit mal weg von der großen Vogelperspektive und zur Matrix.
Die hat spätestens seit SR4 das gigantische Problem, dass die Autoren nicht sauber zwischen System und Setting trennen. Will heißen, wie die Matrix spielweltintern funktioniert, was ihre technischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sind etc. pp., hat
eigentlich gar nichts damit zu tun, wie ich sie regeltechnisch abbilde und wie mein Kontakt mit der Matrix in der Spielpraxis aussieht.
Mit SR5 hat man diese unnötige Verflechtung noch weiter vertieft mit dem Ergebnis, dass die Matrix weder technisch irgendwie Sinn ergibt noch regelseitig elegant behandelt wird - das Schlechteste aus beiden Welten.
Das größte Beweisstück ist der Crash 2.0, der nur deswegen "nötig" wurde, weil man a) sich davor gescheut hat, Änderungen, die primär Regeln und Spielpraxis betreffen, ohne settingseitige Begründung zu bringen (vergleiche dazu das wesentlich enger umrissene und eleganter behandelte Thema Grounding in SR2050) und b) man nie verstanden hat, welche gigantischen technischen Freiheiten der erste Crash gebracht hat.
Der erste Crash ist
eigentlich ein Ereignis, mit dem sich fast jede technische Abweichung begründen lässt. Die Matrix ab 2034 hat mit dem Internet technisch absolut nichts mehr zu tun und als Autor hat man da völlige Gestaltungsfreiheit. Auch andere technische Entwicklungen wären davon betroffen, je nachdem, was denn zerstört wurde und was mit welcher Intensität wieder auf ein gangbares Niveau gebracht wurde.
Schließlich gibt es seit SR1 Technologien, die reine Fantasy sind und das auch bleiben werden, während andere Sachen rückständiger waren bzw. geworden sind. Das ist alles recht plausibel begründbar, aber man hat es nie verstanden, die technische Abweichung nach dem Crash entsprechend zu vermitteln und sich stattdessen von Kleinscheiß wie Wireless und Smartphones mit tausend nutzlosen Apps in der Settingentwicklung jagen lassen*.
Preisfrage: Könnte man heute bei einem vollständigen und nachhaltigen Zusammenbruch (d.h. keine kurzfristige Störung) der Kommunikationsinfrastruktur, großer Teile der Produktionsketten und der globalen Finanzsysteme ohne Weiteres wieder auf den aktuellen Stand kommen? In welchem Zeitraum und zu welchen Kosten? Und was, wenn relativ zeitgleich große Teile der Weltbevölkerung versterben und politische Systeme sich im Umbruch befinden oder ganz zerfallen sind?
Und gerade weil man im Prinzip von Anfang an den ersten Crash in seinen Auswirkungen ähnlich "verschenkt" hat wie andere historische Begebenheiten, hielt man es dann für eine gute Idee, den Crash 2.0 aufzuziehen, der zwar nominell noch umfangreicher war, aber in seinen konkreten Auswirkungen bis auf sein zugedachtes Wirkungsfeld völlig untergeht.
So als würde man zwischen zwei Editionen mal eben einen Weltkrieg in die Timeline schreiben als Begründung, warum eine Landesflagge plötzlich anders ist.
*Denn immer, wenn ich darum bitte, mir alle Dinge aufzulisten, wo SR wirklich gnadenlos von der Gegenwart überholt wurde, kommt nicht viel über diesen Krempel hinaus.
Da richtet man sich mMn deutlich zu sehr an Stimmen aus, die ihren "modernen" Kram 1:1 in SR sehen wollen, obwohl gar nicht klar ist, inwiefern das in 10 oder 15 Jahren überhaupt noch Thema sein wird. Kein Sinn für Technikgeschichte, aber ein SF-Setting mitbestimmen wollen - keine gute Kombination.
Insbesondere dann, wenn Alltagstechnologie in Sicherheits- oder (Para-)Militärkontexte gestellt wird, was ja heute schon ein mehr als nebulöses Feld ist. Aber da wird hergegangen und gesagt: Meine dumme App XYZ kann dies und jenes, das muss also in 60 Jahren in einem völlig anderen Zusammenhang auch so sein, sonst ist euer Setting doof. Da könnte ich ein Eck aus dem Tisch beißen.
Zumal da auch die Frage aus dem Ursprungsthread mit der Settinghistorie wieder aufkommt: Was ist denn in SR "nur" nicht beschrieben anstatt in keiner Weise vorhanden? Was interessiert sich denn z.B. ein Runner für irgendwelche Minimalentwicklungen im Bereich sozialer Medien? Wobei gerade die sehr wohl beschrieben sind und sich sogar mit wenig Aufwand abstrakt darstellen ließen - denn der Unterschied zwischen SchülerVZ, WkW und fb interessiert doch im Abstand von einigen Jahren keine Sau, solange die grundlegenden Funktionen und (sozialen) Mechanismen beschrieben sind.
Nur weil dieser Kram nirgends explizit aufgeführt ist, heißt das doch nicht, dass er sich nicht völlig problemlos integrieren ließe, wenn einem da wirklich das Herz dran hängt.
Damit abschließend zum Hintergrund für das ganze Elend, nämlich die Spielpraxis mit dem Decker.
Alles andere, was die Matrix so kann, ist weitgehend Hintergrundrauschen und Fluff.
Aber der Decker muss eins können: Relevante Computersysteme manipulieren, und zwar so, dass sich der Rest der Gruppe nicht zu Tode langweilt.
Anhand dieser Zielsetzung ist ja schon klar, dass das ein spielmechanisches Problem ist und kein settingseitiges.
Dass der Decker irgendwo hinlaufen muss, um sich einzustöpseln, KANN dabei nie das Kernproblem sein - denn genau das ist doch für den Rest der Gruppe relevant und interessant: den Decker dahin zu bringen, wo er sein Ding durchziehen kann.
Zumal sich an diesem Umstand durch Signalstärken, WiFi-dichte Tapeten und ähnliches Gedöns mehr genau mal überhaupt gar nichts geändert hat
Das einzige, was durch das Thema Wireless neu auf dem Schirm aufgetaucht ist, ist ad hoc-Hacken von gegnerischen Gerätschaften wie stellenweise bei Ghost in the Shell u.Ä..
Ob man das im Setting haben will, ist eine Stilfrage, über die man sich streiten kann**.
Dass man es aber der ganzen Welt in einer viel zu kurz gedachten Form aufdrücken muss, damit Decker immer mit ihrer Kernkompetenz glänzen können und im gleichen Schritt spielmechanisch derart versaut, dass das Gegenteil eintritt - das war einfach nur ein Griff ins Klo.
Mir bleibt da nur zu wünschen, dass man diesen Ansatz in Zukunft als ähnlichen Fehlgriff erkennt wie Grounding und es still und heimlich zu Grabe trägt. Gerne auch mit einem halbwegs eleganten Kommentar wie in SR2050 bei genau diesem Thema.
**Das wäre übrigens noch was für zukünftige Editionen:
Nicht nur mehr oder weniger gelungene Regeln für die Anpassung von Tödlichkeit etc. (was z.B. ein Space Gothic 3 wesentlich besser hinbekommen hat), sondern auch mal eine kleine Übersicht, wie verschiedene Herangehensweisen an das Thema Cyberpunk so aussehen können und was man in welcher Form wie verwursten kann, wenn man das will.
Denn SR kann grundsätzlich von fast schon postapokalyptischem Gossenpunk bis hin zu Hochglanz-Zerhirnungskram wie Minority Report die ganze Bandbreite bedienen.
Das sollte man dann aber auch entsprechend vermitteln und nicht kommentarlos Sachen raushauen, die in alle Richtungen gehen und die Spielerschaft am Ende mehr verwirrt zurücklassen als alles andere.
Soll erst mal reichen...konkretere Matrixbetrachtungen hinsichtlich technischem Hintergrund und Auswirkungen auf das Spiel dann, wenn es hier im natürlichen Themenverlauf aufkommt.