Ich möchte Chris McDowalls Into the Odd lobhudeln. Jetzt wo offiziell ist, das System Matters mit Electric Bastionland und Mausritter zwei ältere Versionen des Systems auf deutsch herausbringen wird, lohnt es einen Blick auf die aktuelle Remastered-Ausgabe zu werfen.
Das DIN-A5 große Buch hat netto ca. 150 Seiten, die von Johan Nohr gestaltet wurden. Das ist der Mensch, dessen Hirn Börk Borg entsprungen ist und der auch u.a. an Symbaroum beteiligt war. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Free League das Buch herausgibt.
Die vielen Seiten sind in erste Linie dem großzügigen Layout geschuldet, das mit viel negativem Raum spielt und mir persönlich sehr gut gefällt. Es ist mit surrealistisch anmutenden Kollagen illustriert, die aber überhaupt nichts mit dem Setting zu tun haben und daher auf mich wenig inspirierend wirken. Zumindest sind sie "odd" (also merkwürdig).
Etwa 10 Seiten beschreiben die Spielregeln inklusive Charaktererschaffung. Weitere 10 Seiten sind Beispiele für magische Artefakte, sog. Arkana (singular Arkanum), die dem ansonsten recht "normalen" vom 19. Jahrhundert inspirierten Setting etwas übernatürliche Würze geben. Man findet auf 5 Seiten ein Spielbeispiel, dem dann 26 Seiten für die Spielleitung folgen. Dazu später mehr.
Eigentlich ist das Spiel dazu gedacht, in einer selbstgemachten Sandkiste gespielt zu werden, doch nicht zuletzt durch Kickstarter-Stretchgoals gibt es jetzt über 50 Seiten mit einem mehrebenigem Dungeon mit bummelig 60 Räumen und einer Hexcrawl-Karte mit 24 Orten. Auf diese Weise kann man gleich los spielen. Als Anhang folgen noch 40 Seiten mit Zufallstabellen, die merkwürdigerweise jeweils 39 Einträge haben, und am ehesten einer Weltbeschreibung nahekommen, in dem sie regeln, wen und was man in der Stadt, Bastion, finden kann, was der Stadtrat gerade beschlossen hat, was passiert, wenn man etwas Unbekanntes isst, was in der Umgebung so los ist, und wie man alternativ Charaktere auswürfeln kann, die nicht aus der Stadt kommen, sondern der Unterwelt oder dem Umland oder von wo ganz anders.
Ich rechne dem Autor hoch an, dass er äußerst knappe und auf den Punkt gebrachte Formulierungen nutzt. In viel zu vielen Büchern wird geschwafelt was das Zeug hält, weil Autoren pro Wort bezahlt werden und dicke Bücher besser in Läden zu verkaufen sind. Hier reicht meist ein Absatz pro Konzept.
Die Regeln folgen der OSR-Tradition und sind absolut minimalistisch.
Charaktere haben drei Attribute (Stärke, Geschick, Wille, 3W6) und Ausdauer (im Original Hit Protection, 1W6). Wer Schaden erleidet, verliert erst seine Ausdauer, danach Stärke. Sinkt diese auf 0, ist der Charakter tot. Andere Effekte können andere Attribute reduzieren. Sinken sie auf 0, ist der Charakter mindestens temporär raus. Um diese Effekte abzuwehren, würfelt man Rettungswürfe mit W20≤Attribut. Oder man macht einen Glückswurf mit W6, wobei "hoch ist gut" gilt und der SL das Ergebnis interpretiert. Da es keine Fertigkeiten o.ä. gibt, fügt man sich im Kampf einfach reihum solange Schaden zu, bis eine Seite aufgibt oder tot ist, was wahrscheinlicher ist.
Das ist alles.
Mir gefällt, dass Kampf mechanisch extrem uninteressant ist, wodurch die Regeln signalisieren, dass Kämpfen nicht der Hauptfokus dieses Spiels ist. Erkunden ist es, den Sense of Wonder der Welt erleben, Schätze finden, Macht erlangen, in der Stadt bekannt werden. All das erfordert einfach nur Rollenspiel und kaum Regeln. Würfelwürfe dienen nur zur Gefahrenabwehr und sollten sparsam eingesetzt werden, denn die Erfolgschancen sind im Schnitt nur 50%, die Todesspirale unerbittlich und Waffenschäden extrem.
Hier ist ein Beispielcharakter, nennen wir ihn Otto: Stärke 12, Geschick 10, Wille 8; Ausdauer 5.
Weil ich weder außergewöhnlich schlecht noch besonders gut gewürfelt habe und auch noch Glück bei der Ausdauer hatte, habe ich keine besondere Ausrüstung. Aus der Tabelle lese ich ab: Harpune W8, Knüppel W6, Säure. Leicht magnetisch. Das letztere ist eine Eigenheit meines Charakters, die viele, aber nicht alle haben. Wer gute Attribute hat, bekommt hier häufig einen Nachteil, wer echt mies gewürfelt hat, zum Ausgleich magische Talente.
Mechanisch war's das. Der Rest ist fluff. Es wäre nett gewesen, noch ein paar Tabellen mit Aussehen und anderen körperlichen oder sozialen Eigenschaft gehabt zu haben, aber die muss man sich dann von woanders klauen.
Empfohlen wird übrigens, dass der Charakter noch einen Begleiter hat, einfach damit man ein bisschen kampfstärker ist und ggf. gleich weiterspielen kann, wenn der Hauptcharakter stirbt. Daher… Stärke 8, Geschick 14, Wille 12; Ausdauer 1. Pistole W6. So einen Zweitcharakter kann man auch zum "Auszubildenden" erklären und dann steigern auf aufbauen und als Nachfolger übernehmen, wenn sich der eigene Charakter nach vielen erfolgreichen Expeditionen als reicher Mann oder reiche Frau zur Ruhe gesetzt hat.
Man könnte auch noch Leute anmieten, doch dazu bräuchte man Geld und ich habe es vielleicht übersehen, aber Startcharaktere haben keins. Als SL würde ich ja sagen, sie können Schulden machen, denn dann gibt es gleich einen Grund auf Schatzsuche zu gehen. In diesem Fall lohnt es sicherlich, für 20 Silber pro Tag noch vier Söldner mitzunehmen.
Nebenbei: Into the Odd hat endlich mal ein 1:100 Verhältnis von Kupfer zu Silber und von Silber zu Goldmünzen. Das finde ich viel sinnvoller als das 1:10 der meisten anderen Systeme, wo es sich überhaupt nicht lohnt, die verschiedenen Münzen zu unterscheiden. Wenn man aber von 5 Pfennig den Tag leben muss, sind jetzt 5 Gulden ein echtes Vermögen.
Für Startcharaktere stehen 36 Arkana zur Auswahl, z.B. eine Schicksalsrose: Zerbreche diese keramische Rose, um für die nächste Aktion eine Erfolgschance von 50% zu haben. Nach einem Tag formt sich die Rose neu.
Und alleine dadurch, dass ich lese, dass es z.B. einen "Rebirth Coffin" gibt, formt sich bereits ein Abenteuer, denn dem Gerücht, dass so ein Arkanum in einem Dungeon tief unter der Stadt verborgen sei, sollte diverse Gruppen anspornen, konkurrierende Expeditionen zu starten. Oder vielleicht hat der Lord-Protektor von Bastion kürzlich so ein Arkanum erworben und andere Leute heuern die Gruppe an, weil sie es viel nötiger zu brauchen glauben.
Damit die Charaktere auch wissen, wohin mit ihrem Gold, wird auf einer Seite geregelt, wie man dieses in eigene Unternehmen investieren kann. Die Knappheit der Regeln finde ich ist ein gutes Beispiel für den Stil von Into the Odd.
Es kostet 10 G, ein Unternehmen zu gründen. Es kostet jeden Monat 1W6 G. Es generiert 1W4 G. Es gibt aber auch immer ein Problem, das stattdessen 1W4 G kostet, wenn es nicht gelöst wird. Macht ein Unternehmen Profit, steigt der Würfel von W4 auf W6, W8, usw. bis W12.
Das ist so zwar superabstrakt, aber dennoch eine Art Abenteuergenerator. Haben die Spieler z.B. beschlossen, in eine Spinnenfarm für feinste Seide zu gründen, fallen sofort mögliche Probleme ein: Die Spinnen (wir reden hier von hundsgroßen Exemplaren) entkommen, die Arbeiter streiken, ein Sturm kappt die Stromversorgung und unverarbeitete Seide verdirbt, ein Konkurrent stiehlt eine Spinnmaschine, die dem Lord-Protektor versprochene Lieferung verschwindet, die Spinnen erkranken an Purpurbrand, usw. Ganz PtbA würde ich ja die Spieler selbst fragen, was wohl alles schlimmes passieren könnte und sie auf diese Weise mitbestimmen lassen, worauf sie Lust hätten.
Nach dem gleichen Prinzip könnte man auch eine Luftschiff-Spedition gründen. Nun kostet so ein Schiff aber deutlich mehr als 10 G, wenn ein normales Segelschiff bei 100 G beginnt. Also ist deren Schiff entweder komplett und absolut rott oder nur geliehen oder niemand wollte es, weil man an Bord immer sehr merkwürdige Träume hat, in denen man jede Nacht im Schützengraben irgendeines Krieges stirbt und 1 Punkt Wille verliert.
Ich möchte die Abenteuerschauplätze nicht spoilern, aber zumindest erwähnen, dass sie OSR-typisch extrem minimal beschrieben sind. Statt Vorlesetexten gibt es wenige Stichwörter und zu jedem Raum zur Orientierung alle weiteren Verbindungen.
1. Die Grube (dunkle Höhle mit Wellenecho; klingt metallisch)
→ Kriechgang (feucht, zu 5)
↓ Nische (zu 2)
↓ Mit Schaum gefüllter Durchgang (salzig, harmlos, zu 13)
← Wand aus roten Korallen (weich, fleisch, kann weggehackt werden, dann zu 3)
↑ Abhang (zu 0)
↓ Rutsche (schmal, 7m tief, zu 4)
Ein Monster würde so beschrieben werden:
Gelber Wurm (STÄ 17, GES 5, WIL 5, 15 A, R 2, Biß W10); getrieben von Hunger; kritischer Treffer bedeutet verschluckt zu sein, -W6 STÄ pro Runde durch Verdauung bis zur rausgezogen oder ausgeschnitten.
Müsste mein Charakter von weiter oben gegen dieses Monster kämpfen, würde der Wurm zubeißen und W10=3 Schaden anrichten. das kann Otto wegstecken und hat noch 2 A. Er richtet seine Harpune auf den Wurm und feuert: W8=4. Das war nur ein Streitschuss nach Abzug der Rüstung: Noch 13 A. Unser Begleiter, nennen wir sie Bea, feuert mit der Pistole: W6=3. Auch das prallt fast vollständig an der Rüstung des Wurms ab (12 A). In der nächsten Runde stürzt er sich auf Bea: 8 Schaden. 1 A ist sofort weg, die STÄ wird um 7 reduziert und ein RW:STÄ ist fällig und ich sage mal gegen den ursprünglichen Wert. Es gelingt mit eine 2. Aber Bea hat nur noch Stärke 1! Otto lädt eine weitere Harpune nach und die Frage, wie viele er davon wohl hat, wird mit W6=3 entschieden, und feuert für 1 Punkt Schaden, was wirkungslos ist und er ruft Bea zu, zu verschwinden. Sich aus dem Kampf zu lösen ist ein RW:GES, legt die SL fest und der Wurf misslingt mit einer 18. Otto wirft sich in der dritten Runde daher schützend vor Bea und der Wurm attackiert ihn mit 5 Schaden. Das kostet ihn zwar nur die restliche Ausdauer und 3 STÄ, doch der RW:STÄ misslingt, wodurch die Treffer als kritisch zählt und so das Schicksal von Otto besiegelt. Bea kann sich zurückziehen und noch einmal schießen (1 Schaden), doch das spürt der Wurm nicht. Otto lebt noch drei Runden, bis ihn der süße Tod erlöst. Bea kann schwer verletzt nach Bastion zurückkehren und andere vor den Gefahren in der Eisenkorallengrotte warnen. Natürlich werden sie alle nicht hören.