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Reading Challenge 2020

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Menthir:
Ich bin mir nicht sicher, dass es so einfach ist, dass die Aussage immer oder zumindest grundsätzlich vor dem Hintergrund steht. Tendenziell kann ich das unterstützen, aber in unterschiedlichen Graden spielt Herkunft, Umfeld und der persönliche Hintergrund doch eine mehr oder weniger - eben je nach Einzelfall - große oder entscheidende Rolle. In Zeiten von Trump lernen wir ja auch zunehmend, dass es teils gar keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, was jemand nun sagt oder worüber er spricht; und die Fakten, Probleme und Diskurse müssen dann aus den Metadaten und den Hintergründen rekonstruiert werden. Aufmerksame Leser von Autobiographien kennen diese Besonderheit in anderer Spielart.

Deswegen ist es bei mir durchaus so, dass das Wissen um den Hintergrund einer Person eine Rolle spielen kann. Gleichwohl, ich betone es nochmal, muss es keine Rolle spielen. Allerdings gibt es Werke, in denen es wünschenswert wäre, wenn man dessen Aussage isoliert von Autor und seinem Hintergrund betrachten könnte, aber es will nicht gelingen, und andererseits gibt es auch Werke, wo diese Verbindung da sein könnte, man die Aussage aber gleichwohl isolieren kann.

Nehmen wir als Beispiel das Buch "Die Farbe Lila" von Alice Walker. Das steht in meinem Schrank, ungelesen, aber ich kenn die Spielbergverfilmung, um den Kern des Buches sehen zu können. Dieses Buch, welches sich mit dem Schicksal afroamerikanischer Frauen in den Südstaaten beschäftigt, geschrieben von einer Afroamerikanerin. Hier sind Buch, Aussage und Autorin verschmolzen.
Sicher gibt es auch die fantastischen Werke, wo es entweder eine geringere Verschmelzung gibt, oder sie als Leser, der sich nicht mit dem Autor beschäftigt, insofern soweit ignorieren oder einfach übersehen kann, dass ich eher meinen Hintergrund und meinen Horizont ungefiltert in das Werk interpretieren kann; oder eher die Aussage isolieren kann.

Wenn ich also davon spreche, dass ich mehr weibliche Autoren lese möchte, heißt es nicht, dass ich mir einer patriarchalischen Schuld bewusst bin und deswegen glaube, ich müsste Frauenbücher einfach in meinem Lesezyklus quotieren. Jeder, der mich in den letzten Jahren in dieser Challenge gesehen hat, merkt sicher, dass ich mich gerne mit meinen Büchern beschäftige, über die Lektüre des Buches hinaus.
Das bedeutet also auch nicht, dass ich künftig stark politisch-feministische Literatur lesen möchte.

Ich denke aber unbedingt, auch wenn wir nicht immer anhand von Stereotype erkennen können, ob Mann oder Frau, oder Behinderter, oder LBGT-Community-Mitglied ein Werk geschrieben hat, dass es unterschiedliche Erfahrungswelten gibt; die vielleicht nicht immer exklusiv zu einer Gruppe gehören, aber von dieser Gruppe eben tendenziell eher erlebt, wenn nicht gar gelebt werden. Ja, manchmal ergänzt sich dieses auch, wenn auch auf tragische Weise.

Hier als Beispiel das Tagebuch der Anne Frank, welches durch das Schicksal, durch die Verflechtung aus Geschlecht, jüdischen Hintergrund und Zeitgeschichte eine besondere Wirkung entfaltet; und eben nicht in seiner Aussage per se dadurch zu isolieren ist, wie sehr man es auch möchte.

Ich lese allerdings bei weitem nicht nur eskapistische Literatur - je weiter ein Werk von uns entfernt ist, desto eher erscheint es sich jedoch von dem Autor trennen zu lassen. Das allerdings ist häufig sicherlich auch nur Schein.

Deswegen glaube ich, dass ich unabsichtlich, und vor allem bis gestern unbewusst, mir einfach Erfahrungswelten vorenthalten habe und aus diesem Grund möchte ich diesen Part nachholen. Weshalb ich für Hinweise auf gute Autorinnen immer offen bin. :)
Und die darin verwurzelte Frage, warum mein Bücherschrank so männlich ist, ist sicher auch spannend für mich (der ist nämlich auch ererbt, gekauft, aus Haushaltsauflösungen zusammengefrickelt, erschenkt etc.), der sich sicher zu wenig mit den Chancen im Literaturbetrieb auseinandersetzt.

Dementsprechend nochmal vielen Dank für die vielen Hinweise. :)

Weltengeist:

--- Zitat von: Huhn am 27.05.2020 | 14:36 ---Ich glaube, wir reden voll aneinander vorbei. Ich stimme dir zu, dass man nicht einfach feststellen kann "In diesem Buch kommen dumme Frauen vor - das hat bestimmt ein Mann geschrieben" oder auch andersherum. Das ist natürlich Quark. Aber ich behaupte mal, dass einfach die Chance, dass du vernünftige Frauenfiguren in relevanten Rollen hast, größer ist, wenn eine Frau dieses Buch geschrieben hat als wenn ein Mann es schrieb (wenn wir in Genre gehen, die um vielschichtige oder wenigstens nicht völlig plakative Darstellung der Protagonist*innen bemüht sind). Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, falls es dazu irgendwo Zahlen gibt.

Am Ende geht es doch im Rahmen der Challenge vor allem um die Frage, was sinnvoller ist zu lesen, will man seinen Horizont erweitern - Bücher von Frauen oder Bücher über Frauen, Bücher von Frauen über Frauen oder nichts davon? Und halt die Frage, ob ein Buch, um "horizonterweiternd" zu sein, genau das gefragte Thema zum Inhalt haben muss (Autobiographien von emanzipierte Frauen oder sowas) oder ob es auch interessant wäre, genau das zu meiden und nach verdeckteren Strukturen zu schauen.

Ich könnte mir vorstellen, dass eine Mischung cool wäre.  :think:

--- Ende Zitat ---

Ich glaube, das ist eine schöne Zusammenfassung der Diskussion - dem könnte ich mich Satz für Satz anschließen. Auch dann, wenn wir das Wort "Frauen" durch andere Kategorisierungen ersetzen. :d

Kurna:

--- Zitat von: BobMorane am 27.05.2020 | 13:27 ---Vieleicht schreiben ja auch einige Fantasy/SF Autorinnen unter Männernamen.

[...]

--- Ende Zitat ---

Oder unter Namen, wo man es nicht erkennt. Catherine L. Moore hat zum Beispiel sehr lange Zeit nur als C.L. Moore veröffentlicht.
Ich vermute, zu ihrer Zeit (ihre erste veröffentlichte Geschichte war 1933) war das auch noch wichtiger.
Ich möchte sie hier auch gleich als Empfehlung nennen. Ich habe einen Sammelband mit Kurzgeschichten von ihr, wo einige sehr schöne dabei sind.

Sindaja:
Und wieder ein paar Bücher gelesen:
#31: A.F. Harrold: The Song from Somewhere else.
Ein düsteres Kinder-/Jugendfantasybuch über das Thema Mobbing. Leise und sensibel erzählt – mit Troll und Katze.
#32: Judith Vogt: Roma Nova (GK #4: Ein Buch, welches in der Shortlist des Phantastik-Preises des SERAPHs steht.)
Sandalenfilm meets SF. Eine stimmungsvolle Übertragung „römischer“ Kultur auf ein etwas düsteres Science Fiction Settling. Nicht ohne Grund heißt ein Protagonist Spartacus. Macht wirklich Spaß (eine Rezension kritisierte Schachtelsätze, die mir gar nicht aufgefallen sind...) und man könnte sich mehr Bücher in dem Universum vorstellen.
#33: Lord Dunsany: Time and the Gods Sammelband von 6 Büchern. (GK #6: Ein Buch dessen Original über hundert Jahre alt ist, also vor 1920 herausgegeben wurde) – Herausgegeben 1905, 1906, 1908, 1910, 1912, 1916.
Eine Sammlung „alter“ Fantasy-Geschichten. Poetisch, aber vom Lesespaß her sehr durchwachsen. Am schwersten habe ich mich mit der ersten Sammlung „Time & the Gods“ getan. Es fühlte sich ein wenig an wie der Anfang des Silmarillions, aber kam dann nicht so recht „in die Pötte“. Die eher „Menschenbezogenen“ Geschichten fielen mir dann wieder leichter, auch wenn ich unter „spannend“ etwas anderes verstehe. Vielleicht vergleichbar mit dem Lesen vieler Märchen oder Sagen hintereinander. Einzeln nett, in der Masse etwas ermüdend. Ich dachte aber oft, daß viele der Geschichten schöne Aufhänger für vielleicht eher Old-School, manchmal auch cthulueske Abenteuer sein könnten.

Kurna:

--- Zitat von: Huhn am 27.05.2020 | 10:23 ---Ich habe meine Goodreads-Liste ausgewertet, die ich seit 2017 führe + meine Liste der gelesenen Bücher in der Reading Challenge 2016. Kommt heraus: 35 von 106 aufgeführten Büchern sind von Frauen geschrieben worden, das entspricht etwa 33 %. Das führe ich aber tatsächlich auf meine Lesegewohnheiten zurück: Ich habe im Gegensatz zu euch beiden recht viele Kinderbücher und Schmonzetten/Romanzen gelesen und da scheint mir der Anteil an Autorinnen einfach höher zu sein. Ansonsten lese ich auch ganz gerne Bücher mit weiblichen Hauptfiguren und auch da ist der Anteil an Autorinnen gefühlt etwas höher - zumindest wenn man keine Lust auf schlecht geschriebene pseudoemanzipierte Zimtzicken hat.

Was in der Auswertung etwas mehr Arbeit machen würde, weil man es halt nicht einfach am Namen sieht, wäre, mal zu gucken, wie viele Bücher von People of Colour oder auch von Menschen mit Behinderung oder so ich gelesen habe. Ich glaube, da sieht der Anteil bei mir deutlich trauriger aus und vielleicht wäre das für mich mal ne schöne Challenge.  Auf der anderen Seite lese ich halt ungerne Bücher, bloß um sie für eine Challenge gelesen zu haben. Insbesondere diese Dinger, die ich in der Schule immer als "Problembücher" bezeichnet habe, mag ich gar nicht - ihr wisst schon, diese Bücher, in denen es darum geht, dass so alltägliche Leute ein schlimmes Problem haben (meistens Diskriminierung, (psychische) Krankheit, Todesfälle, Sucht oder so). Der grausame Alltag in grauen Blöcken. Brrr. Die Herausforderung wäre dann also, Bücher aus Genre zu finden, die ich gerne lesen möchte und die von entsprechenden Personen verfasst wurden. Oder alternativ vielleicht, die entsprechende Personen als Hauptfiguren in den Fokus der Story rücken. Hmm. :think: Zum Glück gibt es ja für alles auf Goodreads Listen.  ;D

--- Ende Zitat ---

Vielleicht hast du ja in Zukunft etwas bessere Chancen, auch mal auf Romanzen zu stoßen, die etwas mehr Diversität zeigen (sowohl inhaltlich als auch bei den Schreibenden, Artikel in Englisch):
https://www.theguardian.com/books/2020/may/22/romance-writers-of-america-racism-row-new-prize-ritas-vivian

Anscheinend ist das Thema zumindest beim entsprechenden amerikanischen Verband so hoch gekocht, dass jetzt langsam ein Umdenken stattfindet. Interessant in den Zusammenhang auch die englische Wiki-Seite zur RWA, wo das noch etwas weiter zurück gehend erläutert wird:
https://en.wikipedia.org/wiki/Romance_Writers_of_America

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