Senatorin Barin verfolgt hochkonzentriert den ablaufenden Countdown zur Liveschaltung und zuckt dann zusammen, als ein lautes Klirren irgendwo rechts von ihr ertönt. Kurz wandert ihr Blick zur Quelle des Geräusches. Die mit dem Senat für KI verbundene Kamera fängt für den Bruchteil einer Sekunde das hochrote Gesicht von Bethany ein, ehe Barin ihr Augenmerk wieder auf das holografisch gespeiste und auf den jeweiligen Betrachter ausgerichtete Rednerpult lenkt. Der Groß-Urbestro von Lunar City wartet dort soeben darauf, die ganze Veranstaltung feierlich eröffnen zu dürfen. Während er sich in den üblichen Lobhudeleien über die transgalaktische Zusammenarbeit, die begeisterungswürdige technische Innovation und seine persönliche Vorfreude auf die Initialisierung der großartigen und segensreichen Lunar CityKI ergeht, konzentriert sich Barin auf die wirklich wichtigen Dinge.
Interessiert beobachtet sie die Verhältnisse im Raum. Wer ist anwesend, wer fehlt? Wer sitzt wo? Wer spricht mit wem? Und mit wem nicht? Robert Dietrichs beispielsweise. Hat seinen Bruder Lukas strategisch klug hinter der Empore platziert. Oder hat sich der Bruder selbst dorthin versetzt? Wilde Gerüchte über den Einfluss von Lukas auf das von seinem Bruder gegründete Institut machen schon seit Langem die Runde. Manche sagen, er sei seinem Bruder lediglich eine freundschaftliche Stütze, während andere in ihm vielmehr eine Graue Eminenz im Hintergrund und die eigentlich geniale Kraft hinter den technischen Innovationen sehen.
Dann Tim Prasat, der Geschäftsführer des KI-Projektes. Auch wenn Barin noch nicht sicher ist, ob sie ihn persönlich wirklich mag, muss sie doch zugeben, dass das Projekt unter ihm gewaltige Fortschritte gemacht hatte. Sehr viel größere jedenfalls als unter seinem Vorgänger, Keynan Schmidt-Korn. Den hatte Barin schon im Publikum ausgemacht. Musste sich den Platz wohl auf privatem Wege organisiert haben. Barin konnte sich nicht vorstellen, wer den aufgrund eines Bestechungsskandals abgesetzten Ex-Geschäftsführer hätte einladen sollen.
Zu guter Letzt schweift Barins Blick noch kurz über diese Vertreterin von Brinkman Inc. Die vorhin das Glas rumtergeworfen hatte. Computerethikerin, verrät eine kurze Schaltung in die Gästeliste. "Offenbar ist Brinkman an dem Thema nicht viel gelegen, wenn sie eine solche Öffentlichkeitsnull vorschicken", denkt Barin und macht sich zufrieden eine kurze krypto-mentale Notiz. Sehr gut. Ethiker ... auch bloß so gescheiterte Möchtegernwissenschaftler, deren Lebensinhalt die Verhinderung großer Fortschritte ist.
Lauter Applaus beendet die belanglose Rede des Stadtoberen. Die öffentliche Fragerunde ist eröffnet. Senatorin Barin setzt schonmal ein routiniertes Lächeln auf. Ein interessierter Bürger (eine kurze Schaltung verrät Barin, dass Akio Nguyen [ID: 318574m8, 39 Jahre, geschieden, chronische Atemwegserkrankung] als Mechatroniker eines Logistikunternehmens arbeitet und eine Weiterbildung zur Wartung autonomer vertikaler Unterdruck-Förderband absolviert; Barin klappt desinteressiert die Schaltung ein) meldet sich: "Wertes Podium. Stimmt es, dass die KI zukünftig die gerechte und vernünftige Verteilung der Nachwuchsbetreuungsplätze übernehmen wird? Meine Töchter müssen nun schon seit Jahren einen vierstündigen Weg zu ihren unterschiedlichen Einrichtungen auf sich nehmen. Wird die KI das richten können oder übernimmt sie nur die neuen Jahrgänge?"