Das klackende Geräusch und das Vibrieren des Steines riss Neire aus seinem fast Trance-ähnlichem Zustand. Er richtete sich langsam auf und blickte sich um. Neben ihm kniete Bargh, der weiter die Verse ihres Gebetes an die große Göttin aufsagte. Der Krieger Jiarliraes war gekleidet in seinen silbern schimmernden Plattenpanzer, auf dem einige Scharten schwerer Schwerthiebe zu sehen waren. Neires Blick glitt unweigerlich an der Silhouette seines Gefährten und Dieners vorbei, als er sich umdrehte. Der Kopf des ehemaligen Paladins trug die jetzt verheilten, rötlich schimmernden Brandwunden Jiarliraes Feuer, die hier und dort sein ehemals volles Haar ausgedünnt hatten. Bargh hatte die Augen geschlossen und so war der rote Rubin, der sein rechtes Auge ersetzte, nicht zu sehen. Als Neire sich in Richtung der segmentierten Säule umgedreht hatte, sah er, dass Halbohr zu ihnen aufgestoßen war und gerade von der Säule abließ. Die Wut fuhr augenblicklich durch Neire, als er den elfischen Söldner betrachtete. Er widersetzt sich meinen Anweisungen und stört unser Gebet. Für viel weniger wurden Frevler in Nebelheim hingerichtet. Die Decken, die sie zuvor angezündet hatten, waren heruntergebrannt und warfen einen Schimmer von rötlicher Glut durch den von Rauch erfüllten sechseckigen Raum. Obwohl Neire von der Glut des Feuers hinfort blickte, spiegelte sich doch der rötliche Glanz in seinen Augen. Er zog seinen Degen mit der gewellten Klinge und dem schlangenverzierten Griff. Halbohr hatte ihm immer noch den Rücken zugedreht. Neire legte seinen Kopf quer und ein verrücktes, mordlustiges Lächeln war in seinem schönen Gesicht zu sehen. Er setzte den Degen zu einem Stich an und machte einen leisen Schritt in Richtung von Halbohr. In diesen Moment hörte er jedoch das Ächzen von Bargh und bemerkte, dass der Krieger sich begann aufzurichten. Neire ließ augenblicklich den Degen sinken, als sich Halbohr umdrehte: „Halbohr! Ihr seid zurückgekehrt von unten. Was habt ihr getan?“ Er sah, dass der Söldner einen Blick von Freude im Gesicht hatte. Vielleicht hat er die Funktion der Säule verstanden, doch das ändert nichts an seinem Frevel. „Wir hatten gerufen, ihr möget die Säule drehen Neire. Doch nichts ist passiert.“ Kurz nachdem Halbohr geantwortet hatte, war Bargh an seine Seite getreten. Neire blickte hinüber zu ihm und murmelte abfällig und in zischelnden Singsang. „Er ist ein Ungläubiger und er weiß nicht was Pietät ist.“ Kurz darauf drehte er sich wieder Halbohr zu. „Und Gundaruk? Wo ist er?“ Es dauerte nicht lange, bis Halbohr antwortete. „Er ist unten geblieben und bewacht die Türe.“ „Also traut ihr ihm, Halbohr?“ Neire sah, dass sich Halbohrs Miene veränderte und langsam wieder diesen indifferenten, militärisch-nichtssagenden Blick annahm. „Ich traue ihm genauso wenig, wie ich euch traue Neire.“ Neire spürte, dass ihn diese Worte zutiefst trafen. Habe ich ihm nicht bereits zweimal das Leben gerettet? Er sollte mir unterwürfig dienen, mir zujubeln. Er sollte beten zu Jiarlirae, beten für seine arme, schwache, für die ewige Verdammnis bestimmte Seele. Neire blickte Halbohr an und sprach jetzt langsam und eindringlich. „Habe ich euch nicht bereits zweimal das Leben gerettet? Alleine das verpflichtet euch schon mir zu trauen und zu dienen. Und Gundaruk, was hat er schon für euch getan?“ Er sah, dass seine Worte Halbohr erreichten, doch da war plötzlich die hünenhafte Gestalt von Gundaruk, die am Einstieg der hinabführenden Treppe auftauchte. Neire sah seine grünlich pulsierenden Augen in der Dunkelheit und hörte die Stimme in dem fremden, veralteten Akzent: „Kommt, schnell. Die untere Türe hat sich geöffnet.“
Sie hatten daraufhin alle ihre Waffen gezogen und waren in die Tiefe zurückgekehrt. Den oberen Raum hatten sie unbewacht gelassen. Stufe um Stufe waren sie vorsichtig hinabgeschritten. An jeder Ecke hatten sie gelauscht. Auf der Hut vor dem, was auch immer sie dort vielleicht freigelassen hatten. Doch es war ihnen nichts begegnet und als sie an der untersten Türe ankamen, sahen sie, dass diese weit geöffnet war. Dahinter führte eine steile Treppe hinab. In der Tiefe erahnten sie eine größere Halle, die sie von ihrer Position nicht einsehen hatten können. Halbohr hatte aus der Tiefe ein schweres rhythmisches Atmen gehört. Nach kurzer Beratung war Halbohr als erstes die Stufen hinabgeschlichen. Bargh und Neire sowie Gundaruk waren ihm schließlich gefolgt.
Halbohr stand am Fuße der Treppe und blickte in den grünlichen Nebel vor ihm. Der wabernde Dunst bedeckte den steinernen Boden des dunkelelfischen Gewölbes, das sich vor ihm auftat. Die Halle, vor langer Zeit in das Felsgestein geschliffen, hatte riesige Ausmaße. Sie war so groß, dass er sie nicht vollständig durchblicken konnte. In der Mitte sah er eine viereckige Konstruktion aus Metall- oder Steinplatten aufragen. Ähnlich einer Pyramide verjüngte sich das Ungetüm nach oben hin und endete in einer Plattform kurz unter der Decke der Halle. Dort sah Halbohr dunkle breite Metallrohre vom Gewölbe in das Konstrukt hineinführen. Außerdem waren den detailversessenen Augen des elfischen Söldners nicht die beiden Türen entgangen, von denen eine auf der Rechten und eine andere auf der Linken zu sehen war. Halbohr hatte den Boden vor sich abgetastet und war sich sicher, dass dort keine Falle auf ihn wartete. So befestigte er das Stück Filz seines Mantels als Atemmaske über seinem Mund und machte den ersten Schritt in die Halle hinein. Er bewegte sich auf das Konstrukt zu, in dessen Mitte er eine vieleckige Vertiefung sah, die er als Mechanismus für einen komplizierten Schlüssel vermutete. Angst bereitete ihm das tiefe Atmen, das er noch immer hörte. Es schien aus dem Inneren des Konstruktes zu kommen, wie auch das grünliche Gas, dass er durch einen faustbreiten Riss auf der rechten Seite der Konstruktion austreten sah. Halbohr begann vorsichtig die Vertiefung zu untersuchen, die sich tatsächlich als ein Schloss herausstellte. Die Komplexität des Mechanismus war beeindruckend. Eine Falle konnte er hier allerdings nicht finden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Gundaruk sich zu seiner Rechten und Neire und Bargh zu seiner Linken um das Konstrukt und an den Türen vorbeibewegten. Halbohr ließ von dem Schloss ab und folgte leise Gundaruk um die rechte Seite herum. Hinter dem Konstrukt war eine Rückwand der Halle zu erkennen. Gundaruk war bereits vorgeschritten und hatte sich mit Bargh und Neire vor einem mehrere Schritte hohen und breiten Portal getroffen, das in der Mitte der Wand zu sehen war. Trotz der fast unmenschlichen, abnormalen Größe von Gundaruk überragte das Portal den Speerkrieger etwa um das Doppelte. Halbohr schlich sich näher heran und sah, dass Neire mit dem vernarbten linken Arm auf das riesige Symbol deutete, dass über den beiden Türflügeln zu sehen war – eine silberne Spinne mit glühend blauen Augen. „Sehet, es ist das Hauswappen der Familie von Duorg. Es muss sich um ihren Kerker, um ihr Gefängnis handeln.“ Halbohr konnte erkennen wie die Hand von Neire in die verschiedenen Ecken des silbernen Musters zeigte. Erst jetzt sah er den Schimmer eines bläulichen, magischen Vorgangs, als ob er im Netz dieses Symbols verankert wäre. Er hörte Neire fortfahren: „Wahrscheinlich ist es eine magische Schutzbarriere, wie wir sie zuvor in dem oberen Raum gesehen haben. Die Duorgs, falls noch welche von ihnen übriggeblieben sind, möchten nicht, dass wir hier eintreten.“ Halbohr war mittlerweile zur Gruppe aufgeschlossen und sah, dass Bargh seine Stimme erhob. Es fiel ihm sofort auf als dieser begann zu sprechen. Ein leises Lispeln war auch von Bargh zu hören. Zudem bemerkten die feinen Augen von Halbohr, dass Blut aus den Mundwinkeln von Bargh lief. „Die Türen scheinen alle verschlossen, doch wir könnten versuchen das Wesen, das dort atmet zu töten. Wir könnten es durch den Riss angreifen.“ Halbohr konnte sehen, dass auch die Zunge von Bargh gespalten war. Anscheinend hatte er sich selbst verstümmelt und die Spitze zerbissen oder aufgeschnitten. Die Wunde schien noch frisch zu sein. „Bargh, wart ihr schon einmal fischen?“ Die seltsame Frage Gundaruks ließ Bargh und Neire aufhorchen. Halbohr fühlte, dass plötzlich irgendeine Art Anspannung um seine Gefährten war. „Was meint ihr Gundaruk? Fischen? Ja, als Kind war ich einmal fischen.“ Das konnte ja dann noch nicht so lange her gewesen sein, dachte Halbohr, als er den Krieger Jiarliraes betrachtete. Wie alt mochte Bargh wohl sein, 18, 19 Jahre vielleicht. Durch die Brandwunden im Gesicht sah er jetzt etwas älter aus. „Nun, dann solltet ihr ja wissen, dass man Fische nicht fängt, in dem man einfach blind ins Wasser sticht.“ Halbohr hörte die Antwort von Gundaruk und sah, dass Bargh und Gundaruk sich jetzt bedrohlich gegenüberstanden. „Ich habe einen Mechanismus gefunden, der es öffnen könnte.“ Halbohr wies mit seinem linken Dolch in Richtung des Konstruktes als er sprach. Er sah wie Neire zwischen den beiden hervorkam und ihn anlächelte. „Gut gemacht, Halbohr. Wir sollten jedoch bedacht vorgehen. Ich befürchte, dass dies mehr von diesem grünlichen Nebel freisetzen wird. Untersucht einmal meine Hand Gundaruk. Ich habe sie eben in den Nebel gehalten.“ Halbohr schaute jetzt zu wie Neire seine vernarbte linke Hand zu Gundaruk hinaufstreckte, der sie behutsam untersuchte. Es dauerte einige Zeit bis der Speerträger antwortete. „Neire, das sind die ersten Anzeichen einer leichten Verätzung. Das Gewebe beginnt abzusterben und es bilden sich weiße Stellen. Ähnlich wie bei einer Säure.“ Halbohr betrachtete weiter Neire, der anscheinend nachdachte. „Ich kann meine Göttin anrufen um euch vor Säure zu schützen. Doch es wird eine Zeit dauern. Lasst mich meine Vorbereitungen treffen, dann werde ich euch schützen und Halbohr kann den Mechanismus betätigen.“ Neire blickte jetzt auch in seine Richtung und Halbohr nickte. Auch wenn er nicht glaubte, dass der Segen der Göttin ihm helfen würde, so würde es ihm ja auch nicht schaden. Halbohr blieb in den Schatten zurück als der Rest der Gruppe sich in den Gang über der Treppe zurückzog. Er würde die Zeit nutzen um nach Fallen und geheimen Verstecken zu suchen. Er ahnte noch nicht, dass ihm der Segen von Jiarlirae das Leben retten sollte.
Neire hatte die Schutzzauber auf Halbohr, Gundaruk und Bargh gewirkt. Jetzt wiederholte er ein weiteres Mal die Worte und legte sich die linke Hand auf die Brust. Er spürte für einen kurzen Moment das Brennen von Feuer, das in seinen Körper eindrang. Wie der Schmerz bis in die Finger und Zehenspitzen lief. Dem Glühen, das von seiner Hand ausging, folgten Schatten, die sich über seinen Körper ausbreiteten. Er lugte in Richtung von Halbohr und sah, dass der elfische Söldner sich bereits an dem Mechanismus zu schaffen gemacht hatte. Jetzt musste er das Gebet sprechen, sollte es zu einem Kampf kommen oder nicht. Verloren wäre der Segen keinesfalls, den er hier entfesseln würde. Das Gebet würde diesen Ort reinigen. Die Macht Jiarliraes würde hier eindringen. Neire stimmte die Verse des liturgischen Gesanges an, so wie es ihn die Platinernen Priester gelehrt hatten. Er dachte dabei zurück an die Lehrstunden bei Mordin. An seine Aura der Weisheit, an seine schlangenhaften wachen und fordernden Augen. Wie er mit ihnen gesungen hatte – den Anwärtern, die alle Kinder der Flamme werden wollten. Für einen kurzen Moment fühlte er eine innere Wehmut, als er an diese Stunden zurückdachte. Er hatte Mordin immer als höheres Wesen bewundert und der Platinerne Priester hatte etwas Majestätisches gehabt: Die geschickte Anmut seiner Bewegungen; der drahtige menschliche Torso mit der schimmernden Rüstung, getragen von dem breiten Unterleib einer Schlange… Neire beendete den Zauber und die disharmonischen Klänge erfüllten die von Chlorgas geschwängerte Luft. Halbohr war noch an dem Mechanismus zu Gange, doch es war ein vielfarbiges Licht zu sehen, das aus der Öffnung des Schlüssellochs kam. Da war auch ein Rasseln von Metall, das lauter und lauter wurde. Tatsächlich begann sich das Konstrukt zu bewegen. Zuerst fing es langsam an, doch dann begannen einzelne Metallteile wie eine Lawine nach unten zu rutschen. Wie als ob geführt, verschwanden sie im Boden und machten den Blick frei – den Blick frei auf etwas Grauenvolles. Nein, er konnte seine Augen nicht davon lösen. Wie erstarrt stand Neire dort an seiner Wand und betrachtete die Kreatur, die sich hinter den Platten verborgen hatte. Augenblicklich wurde er an Nebelheim zurückerinnert. An das große Fest, an die Menschenschlange des wahren Blutes, die das neue Zeitalter einst einläuten sollte. Doch dies war keine Menschenschlange die er dort sah. Die Kreatur war falsch. Besiegt, gefoltert, verstümmelt und in Ketten gelegt. Sie konnte keine Menschenschlange sein, denn sie diente den Duorgs. Tränen liefen über seine Wangen hinab, als Neire das Wesen betrachtete. Der Drache schimmerte grünlich in der Dunkelheit. Elegant waren seine Schuppen anzusehen, doch er war abgemagert. Viel schlimmer noch. Schwanz und Flügel waren abgehackt und gewaltige schwarze Ketten mit Widerhaken besetzen Nägeln in seinen Körper getrieben worden. Die einst stolzen Zähne seines Mauls waren zur Hälfte zertrümmert und die Kreatur schien in ein dickes Rohr verbissen zu sein, das zur Decke hinaufführte. Doch nur auf den ersten Blick. Ketten hatten den Kopf der Kreatur so fixiert, dass sie ihn nicht von dem Rohr wegbewegen konnte. Augenblicklich wandelte sich die tiefe Bestürzung, die in der Erinnerung an die Menschenschlange begründet war, in Wut und Hass. Eine Schlange die sich unterjochen hat lassen. Ein unterlegenes, abscheuliches Gewürm. Ich werde dich töten, töten für den Ruhm der wahren Menschenschlange. Neire erhob seine zischelnde Stimme, die sich jetzt vor Wut fast überschlug: „Sehet, die falsche Schlange. Unterjocht und gebrochen. Sie dient nicht Nebelheim. Tötet sie, mordet im Namen Jiarliraes. Für den Ruhm von Ziansassith.“ Der Gesang des Gebets beflügelte seine Worte und er sah, dass sie angriffen. Bargh, Halbohr und Gundaruk. Doch die Kreatur, deren Augen milchig schimmerten und bereits vor langer Zeit ausgestochen waren, begann sich zu wehren. Tief bäumte sie ihren Körper auf und die Ketten klirrten. Dann stieß sie ihren totbringenden Atem aus. Eine Gaswolke, die den Raum wie eine Welle durchfloss und sich an den Wänden brach. Halbohr und Gundaruk waren mitten im Gas. Der göttliche Segen stand ihnen bei, doch Halbohr sank ohnmächtig zusammen in den grünlichen Schwaden. Gundaruk war noch auf den Beinen und kämpfte tapfer weiter. Dann beschwor Neire die Magie des Feuers, die Mächtigste, die er hatte - vergeblich. Die Luft explodierte um die Kreatur und vertrieb das Gas, aber der Drache schien immun zu sein gegen sein Feuer. Doch war da Bargh. Er schoss mit seiner Armbrust und der Bolzen bohrte sich durch das Auge tief in das Gehirn der Kreatur. Ohne großen Kampf und wildes Gezucke ging sie hernieder und hauchte ihr Leben aus. Als ob sie den Tod herbeigesehnt hätte. Neire jauchzte und frohlockte. Er lief augenblicklich zu Bargh, legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn an. Dann sprach er eines der heiligsten Gebete, welches er in Nebelheim erlernt hatte. Denn sie hatten heute etwas Großes vollbracht. Sie hatten die falsche Menschenschlange getötet:
Ziansassith war die Menschenschlange des wahren reinen Blutes. Er stieg hinab zur schwarzen Natter, Abbild unserer Göttin. Er war der treueste Anhänger Jiarliraes und gab sein Leben, damit Feuer und Schatten weiter existieren können. Feuer ist sein Reich, Schatten seine Seele. Vollendet seine Herrlichkeit, in seiner Form als Yeer’Yuen’Ti.
Neire sah, dass Bargh gerührt war von seiner Lobpreisung und er fuhr fort. „Bargh, heute ist ein großer Tag. Wir haben die falsche Menschenschlange getötet. Ihr habt sie getötet. Bargh. Ab heute seid ihr ein Drachentöter. Bargh, der Drachentöter.“
Bargh und Neire hatten eine Weile frohlockt in den sich auflösenden Schwaden des ätzenden Atems. Sie hatte auch gesehen, dass Gundaruk den immer noch bewusstlosen Halbohr nach oben trug, um ihn in dem sechseckigen Raum auf eines der steinernen Betten zu legen. Sie beide hatten ihm geholfen, den Körper des bulligen Elfen die steile Treppe hinaufzuziehen. Gundaruk wollte sich um Neires bezahlten Beschützer kümmern und er hatte ihnen aufgetragen, ihm eine Drachenschuppe mitzubringen. Jetzt war Gundaruk verschwunden und sie waren alleine mit dem Leichnam der Kreatur in der großen Halle. Nachdem sie den leblosen Körper abgesucht hatten, kletterte Neire auf den Kopf und seine Stimme hallte durch den unterirdischen Saal: „Bargh, schaut. Ich habe etwas gefunden.“ Er wartete bis Bargh an den massiven Kopf herangetreten war und zeigte auf das Auge. „Seht, ihr habt durch euren tödlichen Schuss in das Auge einen Zugang geöffnet.“ Ein Gefühl von Ekel überkam Neire, als er begann seine linke Hand in das Auge einzuführen. Das Innere war noch warm und roch nach Eiter. Er spürte Sehnen und Muskeln. Als er den Arm fast bis zum Ellenbogen in das Auge hineingesteckt hatte ertastete er das Gehirn der Kreatur. Doch die Substanz war nicht weich, wie er es kannte. Er griff zu und riss ein fast faustgroßes Stück hervor. Das Gewebe war auch nicht blutig, sondern grau und hatte den Gestank von Fäulnis inne. Der Geruch und der Anblick erzeugte einen leichten Würgereiz, doch Neire biss in die Substanz, kaute und würgte es hinunter. Dann reichte er den Rest lächelnd zu Bargh, hinab, der ihn beobachtet hatte. „Bargh, kostet von dem Gehirn der Kreatur. Wir haben sie besiegt und werden uns ihre Kräfte aneignen.“ Bargh nickte und fing an den Rest zu verzehren. Derweil hatte der Jüngling auf dem Kopf platzgenommen und blickte wohlwollend auf seinen Kameraden hinab. Natürlich glaubte Neire nicht, dass sie sich durch das Essen des Gehirns irgendwelche Kräfte dieser Kreatur aneignen würden. Doch es würde Bargh vorbereiten auf Nebelheim. Und es würde ihn entfremden – entfremden von seinem alten Leben. Die Vergangenheit musste für ihn ein für alle Mal unerreichbar sein. Jetzt war er ein Drachentöter, ein Krieger Jiarliraes, geküsst von der brennenden Düsternis.
Gundaruk zog den massiven Körper Halbohrs die Stufen hinauf. Er dachte nach. Wie Halbohr ihn in der Dunkelheit hatte warten lassen. Dann war ein Mechanismus betätigt worden, der die Tür geöffnet hatte. Hatte Halbohr in Kauf genommen, dass er dort unten alleine war. Hätte er ihn im Stich gelassen? Die Gedanken von Gundaruk kreisten nicht lange um das Erfahrene. Mit seinen Kameraden war er im Krieg gewesen. Doch verraten worden war er nie. Die Bilder des Krieges waren jetzt zurückgekehrt in seinem Kopf. Grauenvolle Wunden und Blut. Wie er Überlebende mit der Kraft der Natur geheilt hatte. Er hatte ihnen geholfen, doch einige hatten für immer Verstümmelungen behalten. Auch wenn Halbohr ihm seine Hilfe bis jetzt nicht gedankt hatte, wusste Gundaruk, dass er ihm jetzt helfen musste. Er kannte die Gedanken von Leistung und Gegenleistung nicht. Unter seinen Leuten hatte jeder ohne zu fragen für den anderen gehandelt. Gundaruk war mittlerweile in dem sechseckigen Eingangsraum angekommen und legte Halbohr behutsam auf eines der Steinbetten. Er bemerkte Verätzungen an Halbohrs exponierter Haut und den Atemwegen. Gundaruk holte einige getrocknete Blüten hervor, die er mit einer Handvoll Wasser einweichte. Dann rief er, zu den Göttern der Haine und der Quellen, der Eichen und der Buchen, dem ewigen Kreislauf der Natur. Er sah, dass die Blätter verwelkten als er Halbohr den Trank einflößte. Seine Magie wirkte und es kehrte Leben zurück in seinen Begleiter.
Eine Zeitlang hatte Gundaruk bei Halbohr gesessen und nachgedacht. Immer wieder war seine Hand in seine Tasche geglitten und hatte den glatten, kalten Kristall berührt. Doch er erinnerte sich an die Worte von Neire, der vor Verrücktheit und Besessenheit gewarnt hatte. Dann waren Bargh und Neire zurückgekehrt und hatten ihm die Schuppe gegeben, nach der er sie gefragt hatte. Lange hatte er das Stück des Leibes betrachtet und immer wieder in den Händen gedreht. Die Schuppe war so leicht, und doch härter als jeder Stahl… Halbohr war noch immer bewusstlos und so hatte er sich kurz mit Neire beraten. Sie hatten entschlossen eine Zeit in diesem Raum zu rasten. Bis es Halbohr besser ging. Gundaruk hatte die erste Wache übernommen. So lauschte er den Stimmen von Bargh und Neire, die zwischen drei Fackeln saßen und seltsame Verse beteten. Das Licht warf lange tanzende Schatten in den Raum und erhellte Neires nackten Oberkörper. Gundaruk starrte fasziniert auf den Jüngling und betrachtete den verbrannten linken Arm. Die Narbe Neires zog sich bis zum Oberarm. Dort funkelten drei rote Juwelen, als ob sie mit der Haut des Armes verwachsen wären. Gegenüber sah er den Feuerrubin in Barghs rechtem Auge schimmern. Gundaruk blickte abwechselnd zu seinen neuen Mitstreitern und dachte zurück an seine alten Kameraden. Er sehnte sie sich so herbei, die alte Zeit – seine Zeit.