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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea
Jenseher:
Der Schneefall hatte zugenommen und der Tag ging dem Ende zu. Die dunklen Wolken lagen bedrückend über dem Tal. Nebel kroch die Bergwände hinab. Einige der Riesen hatten Fackeln entzündet, die den Platz in ein geisterhaftes Flackern hüllten. Neire zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Er konnte sich kaum noch bewegen. Die Fesseln schnitten in seine Hände und seine Füße. Er war vollkommen nackt. Nackt, wie auch die beiden Gestalten neben ihm, die zu Flehen begonnen hatten. Nach seiner Verkündung hatten sie Brennholz aus dem ganzen Dorf herangeholt und zu einem großen Haufen aufgeschichtet. Dann waren hastig drei Pfähle in das Holz gestellt worden. Unter den Schreien von Runa und Osbart, waren die beiden von einigen Orks entkleidet und an die beiden äußeren Pfähle gebunden geworden. Neire hatte selbst seine Kleidung abgelegt, war auf den Haufen geklettert und hatte sich anbinden lassen. Immer wieder sah er die neugierigen Blicke der Menge, die seinen linken, bis zur Schulter schwärzlich verbrannten, Arm betrachteten. Dort funkelten die drei roten Rubine, die Herzsteine, die mit dem Fleisch seiner Schulter verwachsen waren. Auch die Narbe an seinem seitlichen Bauch war zu erkennen. In der Kälte schimmerte sie rötlich. „Bürger von Wiesenbrück. Wir gekommen… für Gottesurteil.“ Die Stimme Königin Huldas schallte über den Platz. Sie sprach mit dem schweren Akzent ihrer riesischen Weise. „Urteil bedeuten Feuer und durch Prüfung muss gehen. Müssen brennen in Feuer, in Reinigung. Gunst der Göttin belohnt Prüfung. Es beginnen.“ Hulda war nähergekommen und warf ihre Fackel auf das Holz. Einige der Riesen taten es ihr nach und begannen zu jubeln. Neben ihm hörte Neire Runa schreien. Ihr Flehen hatte sich in blanken Hass gewandelt. „Ihr seid wahnsinnig Flammenkind, ihr werdet verbrennen. Ist es das, was ihr wollt? Habt ihr das meinem Siguard erzählt? Verflucht sollt ihr sein. Bei allen Höllenteufeln möget ihr in diesem Feuer schmoren.“ Neire lächelte sie an, mit klappernden Zähnen. Dann blickte er verträumt zur Menge. Zuerst konnte er den Rauch riechen, der vom trockenen Holz aufstieg. Dann waren dort die ersten Flammen. Er spürte die wohlige Hitze, die ihn wärmte. Schon nach kurzer Zeit brannte es auf seiner Haut. Die Schmerzen waren fast unerträglich und Tränen liefen an seinen Augen hinab. Neben ihm hörte er jedoch panische Todesschreie. Sie wurden lauter und lauter. Es roch nach verbranntem Fleisch, nach schwelenden Haaren. Die Flammen waren jetzt um ihn und Neire begann die Todesschreie nachzuahmen. Dann vollführte er die Transition der Schreie in den Singsang seiner schlangenhaften Gebete. Er spürte die Schmerzen, sah das helle Feuer. Als die Schreie erstarben, begannen sich seine Fesseln zu lösen. In roten Glutstücken brachen sie auseinander und fielen hinab. Auch die Reste der Leiber von Runa und Osbart sanken in sich zusammen. Die Flammen waren so hell, dass er ihre leblosen Körper nicht mehr sah. Um ihn herum waren die Flammen, ein Zischen und ein Knacken von infernalischer Glut. Verzerrte, ferne Rufe der Menge drangen an ihn heran. Alles war wie in einem Traum. Ein Traum von Feuer und von Schatten im Schnee. Dann stieg Neire durch die Glut hinweg. Er näherte sich der Menge. Er trat heraus aus dem Feuer und Schneeflocken fielen auf seine makellos weiße Haut. Er war das Kind der Flamme – verbrannt mit den Sündern und Blasphemikern auf einem Scheiterhaufen und wiedergeboren in Flamme und Düsternis. Er war ihr Kind, ihr wahrer Prophet. Neire hob seinen linken schwarz-verbrannten Arm und formte seine Hand zu einer Faust. Die Herzsteine in seiner linken Schulter pulsierten rötlich-glühend. In seinen gold-blonden Locken schienen die Flammen noch zu tanzen, seine Augen wie von der Feuersbrunst rot zu leuchten. Seine Worte waren kraftvoll, ein zischelnd-hörbarer Schimmer in eisiger Winternacht. „Sehet den Ruhm der Göttin, den Ruhm von Jiarlirae.“ Und sie riefen ihm zu oder träumte er es nur. Sie frohlockten ihm, riefen ihn als Kind der Flamme an. Sie warfen sich nieder vor ihm in den kalten, dunklen Schnee. Neires Stimme überschlug sich, als er in den warmen Rauch des Feuers und in den schattenhaften Frostnebel blickte, der von den Berghängen kam. Er hatte seinen Namen für diesen Ort gefunden. Er rief der Menge zu: „Der Segen von Jiarlirae wird diesem Ort zu teil werden, der von nun an NEBELGARD heißen soll.“
Sie saßen im wohlig warmen Raum des Gasthauses zum alten Nussbaum. Ein Feuer prasselte im Kamin und erhellte den alten dicken Stamm des Baumes, in dessen Rinde Schnitzereien zu sehen waren. Der Geruch von gebratenem Ziegenfleisch und gerösteten Zwiebeln strömte aus dem Küchenbereich, aus dem sie dumpfe Klänge von Töpfen und Messern hören konnten. Bis auf Eirold, Mordin und Neire war die Halle des Gasthauses leer. Der Wirt, Raimir Gruber, hatte ihnen drei Krüge mit dunklem Bier gebracht und war dann verschwunden. Jetzt saßen sich Neire und Eirold am Tisch gegenüber. Mordin hatte am Feuer Platz genommen und starrte in die Flammen. Neire saß mit dem Rücken zum Kamin und blickte in das Gesicht des Dorfvorstehers. In dem flackernden Licht wurden die Falten des Alters zu Furchen und Schluchten. „Ihr habt weise gehandelt Eirold, doch meine Göttin verlangt die Wahrheit. Sie verlangt die ganze Wahrheit, falls sie auch eure Göttin werden soll.“ Wieder sah Neire die Furcht in den Augen des alten Mannes, dessen Blick wirr im Raum umherglitt. Eirold fing an zu stammeln. „Prophet… natürlich habe ich euch nicht alles erzählt. Wir hatten Probleme nach den Angriffen der Riesen. Seit sie wieder in den Bergen verschwunden sind. Drei Häuser sind vollständig niedergebrannt und es gab Streit über die Unterbringungen. Auch die Schäden der Flut sind noch nicht ganz beseitigt.“ Neire schüttelte den Kopf und sein Blick verfinsterte sich. „Das will ich alles nicht wissen, Eirold. Erzählt es Meister Halbohr, wenn er wieder hier ist. Ich möchte wissen, was ihr vor mir verbergt.“ Beim Namen Halbohr konnte Neire ein kurzes Aufflackern in den Augen von Eirold sehen. Dann blickte der Dorfvorsteher auf den Tisch und blieb stumm. Neire schaute einen Augenblick in das Feuer und konzentrierte sich. Die Flammen änderten langsam ihre Färbung und die Gaststube wurde karmesinrot vor seinen Augen. Er spürte das Pochen auf den Augen, doch es war längst nicht so stark wie einst in der Festung König Isenbuks. Neires Stimme zischelte in einem fremden Singsang. Leise anfangs, doch dann hörbar lauter. „Eirold, solltet ihr einem alten Freund nicht alles erzählen? Die Wahrheit und nur die Wahrheit, wie es sich alte Blutsbrüder versprochen hatten?“ Eirold hob seinen Kopf und in seinen Augen war ein rötlicher Schimmer. „Ja, mein Prophet… ja Neire… einem Freund wie euch kann ich es natürlich anvertrauen. Vor euch brauche ich keine Geheimnisse zu haben.“ Sie beide lächelten sich jetzt an und tranken an ihrem Bier. Dann fuhr Eirold fort. „Es war vor langer Zeit, da ich nach Wiesenbrück… äh… Nebelgard kam. Die Arbeit war hart und das Leben karg, doch nach ein paar Jahren konnte ich mir ein Haus kaufen. Auch nahm ich mir ein Weib. Wedrun war ihr Name. Wir hätten wahrscheinlich wie alle hier Kinder bekommen, wären alt geworden und dann gestorben. Es sollte aber alles anders kommen.“ Wieder hob Eirold seinen Krug, nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Schaum vom Mund. „Es war eines Abends, als ich in den Keller ging, um etwas von unseren Vorräten zu holen. Es war Winter und draußen fegte ein kalter Wind über den hohen Schnee. Es muss bestimmt mehr als zwanzig Jahre her sein.“ Neire unterbrach den alten Mann. „Wann war es Eirold, könnt ihr nicht erinnern?“ Auch Mordin hatte sich vom Feuer zu Neire und Eirold gedreht und lauschte aufmerksam. „Es war… ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Es muss kurz vor der vorletzten Ankunft des Linnerzährn gewesen sein. Es war noch nicht lange Winter und die Gruppe um die Abenteurer war noch nicht eingetroffen.“ Neire unterbrach Eirold wieder. „Niroth, Kara, Wargo, Faere und Adanrik, waren das nicht ihre Namen?“ Eirold nickte zögerlich. „Ja das mag sein. Ich erinnere mich nicht richtig… Nun, naja… ich ging also in den Keller und da sah ich den toten Fuchs. Ich weiß bis heute nicht, wie das Tier dort hinab gekommen war, doch er lag vor einer Wand und hatte im Boden gewühlt. Blut war an seinen Vorderpfoten und an seinem Maul zu sehen. Es sah fast so aus, als ob das Tier wie tollwütig nach etwas gegraben hätte. Ich brachte danach die Vorräte zu meiner Frau, doch in dieser Winternacht stieg ich wieder hinab und begann an zu graben. In den Morgenstunden wurde ich fündig. Ich hatte eine alte Treppe freigelegt, die weiter hinabführte und an einer schwarzen Türe endete. Meine Neugier hatte mich gepackt. Ich öffnete die Tür und fand dahinter eine Treppe die noch tiefer nach unten führte, in ein steinernes Labyrinth. Die Wände schimmerten in einem Schwarz, als ob sie das Licht meiner Lampe aufsaugen würden. Ich stieg hinab und fand weitere Türen. Einige verschlossen, doch andere führten in uralte Räume.“ Jetzt war es Mordin, der Eirold unterbrach. „Was habt ihr gefunden Eirold? Was war es?“ Eirold zuckte auf, als wäre er aus einem Traum erwacht, doch Neire beruhigte ihn. Dann fuhr der Dorfvorsteher fort. „In den nächsten Tagen und Wochen stieg ich immer wieder hinab. Ich studierte alte Schriften, fand seltene Gegenstände, dort verborgen. Dann war es Wedrun, mein törichtes Weib. Sie war mir gefolgt und hatte den Eingang entdeckt. Ich hatte es nicht gemerkt. Als ich am nächsten Tag arbeitete, muss sie wohl hinabgestiegen sein. Ich weiß nicht was sie dort entdeckt hatte, denn ich habe sie seitdem nie wieder gesehen. Voller Kummer widmete ich mich nun vollends dem Studium der alten unterirdischen Ruinen. Aus Wochen wurden Monate und aus Monaten Jahre. Ich lernte die Schrift zu verstehen, die Runen der schwarzen Künste zu lesen. Denn es waren die alten Meister der grauen Rasse, die diese Kerker erbaut hatten. Vielleicht unter ganz Nebelgard. Ich lernte ihre Kunst zu nutzen und verschaffte mir meine Vorteile. Jetzt wisst ihr es, mein Freund. Die ganze Wahrheit. Die schwarze Kunst half mir auf dem Weg zur Macht. So wurde ich Dorfvorsteher von Wiesenbrück… äh, Nebelgard. Die Geister der Bürger sind schwach, wendet man den Zauber nur im richtigen Augenblick an.“ Eirold lachte und jetzt stimmte auch Mordin in das Lachen von Neire ein. Neire trank einen Schluck seines Bieres, bevor er zu Eirold sprach. „Eure Geschichte ist wahr und nach dem Gefallen von Jiarlirae. Habt Dank für eure Ehrlichkeit. Ihr müsst mir zudem später diesen geheimen Eingang zeigen. Wer hätte gedacht, was sich unter Nebelgard verbirgt.“ Die Antwort von Eirold kam augenblicklich. „Natürlich zeige ich euch die unterirdischen Ruinen. Ihr seid Jiarliraes Prophet. Vielleicht seht ihr etwas dort, was ich nicht sehen konnte… Einen Gefallen müsst ihr mir aber tun, mein Freund.“ Neire nickte, als Eirold fragend abwartete. „Die Bürger von Nebelgard haben Angst. Ich glaube nicht, dass ihr es seid oder eure Riesen. Wir wurden überfallen. Sie haben unser Dorf geplündert und einige Einwohner erschlagen oder geraubt. Es war eine Horde von Riesen, doch andere als eure Feuerriesen. Kleiner, doch riesig. Primitiver, dümmer und unorganisiert, doch nicht weniger gefährlich. Wir haben Angst, dass sie zurückkommen und sich holen, was übriggeblieben ist. Das was wir noch haben ist nicht viel.“ Neire hatte ernsthaft zugehört. Jetzt lächelte er. „Ihr steht nun unter Jiarliraes Schutz. Habt keine Angst mehr Eirold. Sagt, wisst ihr wo diese Riesen herkamen?“ Eirold nickte zögerlich. „Ich glaube ja. Ein Jäger erzählte, dass er sie nordwestlich von hier gesehen hätte - vier Tagesreisen. In der Nähe des Halgahorns. Wenn ich mich richtig erinnere, in der Hirinrother Alm am Flüstersee. Doch es gibt keine Alm dort, gab vielleicht auch niemals eine. Die Ammenmärchen erzählen von einer weißen Weide, die dort seit jeher stand. In einer mondlosen Winternacht, sollte ein Blick durch die Zweige des Baumes die Feuer der Sterne offenbaren. Manch einer sprach gar von wilden Träumen, die einem dort widerfuhren. Einst kam ein Sternenkundiger in die Schneeberge und baute dort einen Turm, der Legende nach um die Weide.“ Neire deutete auf die alte Rinde des Nußbaums, die inmitten des Raumes aufragte. „So wie hier, so wie im Gasthaus zum alten Nußbaum?“ Eirold nickte und fuhr fort. „Vielleicht hat es damit etwas auf sich. Vielleicht war der Sternenkundige hier. Vielleicht gehörte er zur grauen Rasse. Ich habe der Geschichte nie richtig geglaubt, denn heute sind nur noch Ruinen am Flüstersee. Sie sind längst überwuchert vom Wald, von der weißen Weide keine Spur. Selbst die Jäger meiden die Gegend um den See, soll sie doch verwunschen sein. Verwunschen, das sagten sie sei…“ Mit einem lauten Krachen flog die Tür zur Küche auf und der Wirt, Raimir Gruber, erschien mit seiner Tochter Edda. Ein Lächeln war in dem Gesicht des Mannes mit den kurzen blonden Haaren, als er zu seiner fast erwachsenen Tochter sprach. „Erzählt ihr wieder eure alten Spukgeschichten, Eirold? Wir stehen unter dem Schutz der Göttin von Feuer und Schatten, da ist mit diesen Schreckensmärchen nichts mehr zu gewinnen.“ Seine Tochter lachte laut und warf ihre langen, blonden Haare zurück. Dann stellten sie die großen Teller mit dem dampfenden Ziegenbraten und den gerösteten Zwiebeln auf ihren Tisch. Auch brachten sie volle Krüge mit schäumendem Bier. Eirold stimmte in das Lachen ein und pries Jiarlirae. Doch Neire blieb diesmal still. Er dachte an die Hirinrother Alm und den Flüstersee. Er stellte sich den Blick durch die weiße Weide in den Sternenhimmel vor und fragte sich, was ein Sternenkundiger dort wohl gesucht hatte. Er fragte sich, ob die Geschichte wahr war und wo die Riesen jetzt ihr Unwesen trieben.
Jenseher:
Neire schnappte nach Luft und taumelte zurück. Die Energie, die er für den neuen Spruch hatte aufbringen müssen, raubte ihm alle Kräfte. Seine Knie zitterten. Dann blickte er auf das schwarze dünne Material, das einst wie dunkles Kristallglas, jetzt durchsichtig war. Das Ne’ilurum war kunstvoll dünn geschmiedet. Es hatte die Höhe eines großen Menschen und war mehr als halb so breit. Der Blick des Jünglings ging durch die Scheibe, in der er seine Silhouette wie ein schwaches Spielbild sah. Viel Zeit war vergangen, seit ihrer Eroberung von Nebelgard. Er war seitdem gewachsen und sein Gesicht hatte einige kindliche Züge abgelegt. Es waren zwei Winter vergangen seit Bargh, Halbohr und Zussa aufgebrochen waren und mittlerweile hatte der Frühling schon ein zweites Mal in diesem Teil der Schneeberge Einzug gehalten. Noch einen Augenblick betrachtete Neire seine Schönheit: Die weiße makellose Haut, die hohe Stirn und die gerade Nase. Seine gold-blonden, vollen Locken fielen ihm weit über seine Schultern hinab. Seine Augen schimmerten bläulich, doch schlangenhaft, vertikal geteilt. Auch seine gespaltene Zunge erinnerte in an sein nebelheimer Erbe. Dann blickte er auf sein jüngstes Werk und durch den Stahl hindurch. Tatsächlich vermochten seine Augen die Schwaden durchdringen, die über dem einstigen Bergdorf lagen. Die Macht seiner schwarzen Kunst, die jetzt im Stahl des seltsamen Erzes der Irrlingsspitze lag, machte es ihm möglich. Dass sein neuer Spruch erfolgreich gewirkt hatte, erfüllte ihn mit einem jauchzenden Glücksgefühl. Seine Kraft kehrte bereits zurück. Doch was er dort betrachtete, übertraf für einen Moment seine Erwartungen. Durch das Fenster konnte er in die Ferne blicken. Es war ein sonniger Tag und er sah die schneebedeckten Gipfel aufragen, die das Tal umgaben. In der Ferne thronte die steile weiß-glitzernde Pyramide der Irrlingsspitze über allen anderen Bergen. Er ließ seinen Blick in nächste Nähe hinabgleiten und sah unter ihm Nebelgard liegen. Das Dorf hatte sich geändert, seit sie es vor zwei Wintern erobert hatten. Neue größere Häuser waren entstanden und der Deich, der den Ort vor den Wassern der Fireldra schützte, war mit einer Stadtmauer erweitert worden. Er sah auf den matschigen Straßen Gestalten, die ihren Geschäften nachgingen. Rauch stieg aus vielen Schornsteinen auf. Auf der anderen Seite des Flusses und jenseits der Fireldrabrücke, hatte sich eine kleine Barackenstadt angesammelt in der die Flüchtlinge lebten, die aus den umliegenden Landen nach Nebelgard gekommen waren. Es handelte sich um arme, ausgestoßene oder zwielichtige Menschen, von denen einige in Acht und Bann standen. Sie hatten diese Hütten erbaut, arbeiteten auf den Baustellen von Nebelgard und hofften auf ein besseres Leben. Sie hofften auf den Reichtum und den Ruhm, der durch den Segen Jiarliraes kam, sollten sie auch als Henker, Soldaten, Huren, Waschweiber, Diebe, Spione oder Tagelöhner arbeiten. Sie träumten von einem Leben im Tempel oder vom Wissen schwarzer Kunst, denn sie hatten die Geschichten gehört, die man sich über Nebelgard erzählte. Es waren diese Geschichten an die Neire gerade dachte, als ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Es waren die Geschichten, die er sich von den Spähern gerne und immer wieder erzählen ließ. Sie berichteten von einer dunklen Stadt, die Tag und Nacht und in jeder Jahreszeit unter einer dunstigen Glocke von Nebel lag. Man erzählte sich, dass das Feuer gewaltiger Essen der Unterberge und das Tauwasser von Bergschnee den Nebel schufen. In dieser Stadt sollte man schnellen Reichtum erlangen können, doch in einem weiteren Satz wurde dann gewarnt vor den dunklen Machenschaften, die dort im Gange waren. Besonders der letzte Teil der Legenden interessierte Neire. Es wurde berichtet von einer Bergfeste die im Bau war, von Riesen des Feuers, die die Errichtung der Zitadelle vorantrieben. Die Geschichten begannen fast immer mit Meister Halbohr, der als hinterlistiger Verräter und grausamer Heerführer die Stadt beherrschte. Sie endeten meist mit der Legende des Propheten, dem Kind der Flamme. Es wurde erzählt von einer Göttin, deren Geheimnisse in Flamme und Düsternis offenbart werden sollten. Es wurde berichtet vom Kind der Flamme, das mit Sündern auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war und doch wiedergeboren und schöner als je zuvor aus des Feuers Brunst stieg. Neire liebte diesen Teil der Geschichte. Doch er verwarf die Gedanken. Jetzt war er stolz auf das Erreichte. Auf die Wirkung seines neuen Zaubers und auf das sehende Fenster aus Ne’ilurum. Er wollte weitere Fenster folgen lassen, um den Nebel der Stadt in jede Richtung zu durchblicken. Der Gedanke holte ihn in das hier und jetzt zurück. Er hatte so viele Dinge, denen er nachgehen wollte. Er liebte es sich im sich im Turm der Schatten aufzuhalten. Das Gebäude war inmitten von Nebelgard errichtet worden. Sie hatten dafür das Fundament das Haus von Eirold Mittelberg abgerissen. Die Nachtzwerge unter Granrig Hellengrub hatten den Turm aus Steinen geplant, die die Reste von Ne’ilurum in sich trugen. Das fünfeckige Gebäude überragte ganz Nebelgard und barg in den Tiefen die Geheimnisse der grauen Rasse der Elfen. Doch der Turm war erst vor kurzem fertiggestellt worden. Eirold war Neire treu ergeben und wachte über die niederen Geschosse. Die oberen Ebenen gehörten Neire. Hier rief er seine engsten Vertrauten zusammen und hatte Laboratorien jenseits des Tempels des Jensehers. Neire schüttelte den Kopf und trat vom durchsichtigen Ne’ilurum Stahl zurück. Die Kammern des Turmes und die Laboratorien mussten weiter gestaltet werden. Jede Aufgabe schien eine neue nach sich zu ziehen. Jede Forschung an Zaubern erschuf neue Ideen. Neire verstaute seine Zutaten und machte sich auf den Weg hinab. Er musste zurück in den Tempel des Jensehers, wo seine wahren Forschungen warteten.
Ohne den Sonnenschein war die Luft kalt und er sah seinen Atem kondensieren. Er schritt durch den Matsch der Gasse, die bergauf führte. Schlamm und Unrat häufte sich mit nichtgetautem, schwarzem Schnee, der an die Seiten der Häuser geschafft worden war. Der Nebel war dicht und überall. Er trug den Geruch von Feuer und Vergänglichkeit. Nuancen, die sich auf angereicherten Lüften dermaßen intensiviert hatten, dass sie nur noch als beißender Gestank wahrgenommen werden konnten. Neire hatte sich nach dem Verlassen des Schattenturms in eine graue Robe gehüllt, die seinen gesamten Körper und Kopf bedeckten. Er war in Gedanken versunken und dachte an die Vergangenheit und die Zukunft. Als er die Bäckerei passierte, aus deren Hintergasse der Geruch von warmem Brot den Gestank verdrängte, hörte er den einen schmatzenden Schritt im Schlamm, der näher war, als er eigentlich sein sollte. Nach dem Geräusch vernahm er ein weiteres… dann noch eins. Die Schritte kamen näher, doch durch die tiefgezogene Robe konnte er niemanden sehen. Dann drehte er sich um und fasste in das Leere. Sein Herz pochte und er war auf alles vorbereitet. Eine Hand hatte er an seinem Degen. Im Drehen schlug seine Hand gegen einen Widerstand, wie etwas Weiches. Für einen Bruchteil eines Augenschlages konnte er die Umrisse einer Gestalt sehen, die nach seinem Gürtel gegriffen hatte. Der Angreifer fühlte sich ertappt und zog ruckhaft seine Hand zurück. Neire sah, wie sich die Konturen einer bemäntelten Gestalt formten, die nun durch die Hintergasse des Bäckers flüchtete. Augenblicklich lief Neire hinterher, erinnerte sich dann aber an die Worte der schwarzen Kunst. „Erstarre!“ Seine Stimme hatte eine rohe und urtümliche Gewalt in sich. Die Fäden von Flamme und Düsternis waren in das Machtwort verwoben. Neire zeigte mit dem Finger auf die Silhouette und im Licht des offenen Hintereingangs begann sie ihre Richtung zu ändern. Sie wurde langsamer und stieß mit einem Stapel von Mehlsäcken zusammen. Weiterer Staub wurde in die Luft gewirbelt. Der Schlamm war hier weniger und Vordächer zogen sich lang über Hintergasse hinweg. Neire schritt vorsichtig näher und zog seinen Degen aus dunkel glänzendem Ne’ilurum. Die Gestalt schien wie eingefroren, übermannt von seiner schwarzen Kunst. Im Zwielicht waren nicht viel mehr als ihre Umrisse erkennbar. Neire legte den Degen an den Hals der Kreatur, die etwas kleiner als er war. Er flüsterte die Worte, als er die Kapuze der Robe zurückzog. „Wer seid ihr, dass ihr es wagt das Kind der Flamme zu bestehlen?“ Im Nebel erschwerten die aufgewirbelten Mehlpartikel die Sicht, doch er war in der Lage das Gesicht seines Angreifers zu erblicken. Was er sah, erfüllte ihn mit Erstaunen. Ihm gegenüber stand eine zierliche junge Frau, kaum älter als 17 Winter. Sie hatte langes schwarzes Haar und eine schneeweiße Haut. Eine feine Schicht von Mehlstaub hatte sich über ihre vollen roten Lippen gelegt. Ihr hübsches Gesicht besaß einen teilnahmslosen, überlegenen Ausdruck. Dieser Ausdruck schien nicht aufgesetzt, war ihr Gesicht doch unter seiner schwarzen Kunst fast erstarrt. Neire konnte nur sehen, wie sich ihre strahlend-blauen Augen langsam bewegten. Doch da war keine Furcht in ihrem Blick. Sie schien ihn interessiert zu betrachten. Ihre Hände waren in schwarze Handschuhe gehüllt und hatten gerade nach ihrer Waffe, einem Kurzschwert getastet. Neire strich über ihr Gesicht und ihre Lippen. Der Mehlstaub rieselte hinab und die Muskeln ihrer Wange fingen an zu zucken. Sie blieb jedoch stumm. Neire trat näher an sie heran und vernahm ihren süßlichen Geruch von Vanille und Honig. Er öffnete ihre Hand und griff nach dem Schwert, während er zischelnd sprach. „Ich nehme an ihr werdet diese schöne Waffe nicht gebrauchen wollen, wenn ich euch aus der Erstarrung entlasse. Es ist schon verwunderlich, dass ihr mich versucht zu bestehlen und in euren Augen keine Furcht zu sehen ist.“ Neire sprach die Wahrheit, doch er verheimlichte, dass er von ihrer Schönheit und ihrer Anmut verzaubert war. In der Rechten hielt er ihre Klinge, die einen schwarzen Opal am Ende des Griffstücks eingelassen hatte. Der Stahl der Schneide glitzerte silbern in der Düsternis. Mit der Linken, seiner verbrannten Hand, vollzog Neire eine schnelle Geste, als würde er eine Rune in die Luft zeichnen. Er beendete damit seinen Zauber. Langsam kehrte Leben in die Gestalt zurück. Ihre schwarzen Augenbrauen fingen an zu zucken und ihre Lippen begannen sich zu bewegen. Die ersten Worte waren langsam, klangen fast gelähmt. „Ich… ich wusste nicht… Ich wusste nicht wer ihr seid. Verzeiht, Kind der Flamme. Mein Name ist Edda, Edda von Hohenborn. Ich kam nach Nebelgard wegen des Goldes, was man hier verdienen kann. Doch ich wollte euch nicht bestehlen.“ Sie trat einen Schritt zurück und blickte sich um, als würde sie nach Fluchtmöglichkeiten suchen. Als sie von Gold sprach, lächelte Neire und sie erwiderte sein Lächeln. „Oh, eure Hand war dort, wo sie nicht hingehören sollte und ein einfaches Menschlein hätte euch wohl nicht bemerkt, Edda. Ich bin aber kein einfaches Menschlein. Ich bin Neire von Nebelheim, Prophet von Jiarlirae und Herr des Turmes der Schatten. Ihr seid mir jetzt etwas schuldig und ich habe euer schönes Schwert.“ Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb sofort, als Neire seine Forderung stellte. Edda stieß einen Seufzer aus und ließ bewusst übertrieben ihre langen, geschminkten Augenwimpern sinken. Allein ausgelöst durch diese Geste, spürte Neire ein warmes Gefühl durch seine Brust fließen und lächelte erneut, als sie antwortete. „Ich fürchte, ich habe keine Wahl. Doch ich bitte euch mir eines zu versprechen, Neire. Auch wenn ich nicht euer Göttin Jiarlirae diene, will ich nicht auf dem Scheiterhaufen enden.“ Jetzt war es Neire, dessen Miene sich verfinsterte. Er spürte die Wut – oder war es Enttäuschung – als Edda so über seine Göttin sprach. Er spürte, dass er wollte, dass sie Jiarlirae liebte, so wie er es tat. So wie einst Lyriell es getan hatte. Doch je länger er nachdachte, desto schneller verflog die Wut. Sie hatte schließlich Jiarlirae nicht verneint. Neire nickte und sagte: „Gut ihr habt mein Wort. Nun kommt. Ich habe im Tempel des Jensehers einige Dinge zu erledigen und ihr sollt dort eure Aufgabe erhalten.“
Neire und Edda waren der breiteren Gasse gefolgt, die mittlerweile in Serpentinen den Berg hochführte. Die Häuser schienen alle neueren Ursprungs zu sein. Düsterer Nebel und schwebende Asche verdunkelten auch hier das Sonnenlicht und der Matsch der Straße erschwerte das Gehen. Neire war bis jetzt schweigsam hinter Edda gegangen. Die Diebin hatte es nicht gewagt ihm eine Frage zu stellen oder zu sprechen. Sie spürte wohl, dass er ihr Schwert gezogen hatte und es ihr jederzeit in den Rücken stoßen konnte. „So sagt Edda, von woher kommt ihr? Erzählt mir von eurem Weg hierhin. Eurer Reise nach Nebelgard.“ Sie hatten mittlerweile die letzten urigen Häuser passiert, auf deren steinernen Mauern hölzerne Obergeschosse mit mächtigen, runenverzierten Dachgiebeln ruhten. Als Neire die Frage stellte, war nur noch der Nebel um sie herum. Die Geräusche seiner zischelnden Stimme wurden geschluckt von den Schwaden. „Ich komme von weit her. Von einer südlichen Insel. Dort liegt eine Stadt, die Vintersvakt genannt wird.“ Neire antwortete sofort. „Winter im tiefen Süden? Ich habe von der Wärme des Südens gelesen. Wieso dieser Name Edda?“ Sie drehte sich um und lachte auf, bevor sie weiter fortfuhr. „Es ist warm in Vintersvakt, oh ja. Es ist sehr warm. Doch die Stadt liegt an einem hohen Berg, der seit jeher eine weiße Spitze trägt. Man sagt der Schnee besänftigt das Feuer, das im Inneren des Berges tobt. Nur der weiße Rauch über der Spitze zeugt noch von diesem Feuer. Man sagt, seit der Ankunft der ersten meiner Vorfahren ist die Kuppe weiß gepudert. Seitdem wachen die heiligen Männer des Frostviggier über Vintersvakt. Dort oben, von ihrem Tempel im ewigen Schnee. Sollten sie einst nicht mehr dort wachen, so sagt man, wird das Feuer wieder ausbrechen und Vintersvakt zerstören.“ Neire spürte, dass er die heiligen Priester des ihm fremden Gottes nicht mochte. Er malte sich aus, wie sie versuchten das Feuer mittels Eis zu kontrollieren; wie sie die fortwährende Veränderung einfroren, um sie an ihre Gesetze zu binden. Er lachte auf. „Ha… eine Geschichte, die man vielleicht kleinen Mädchen erzählt. Seid ihr so aufgewachsen? Habt ihr den Geschichten der Frostviggier Diener gelauscht?“ Edda drehte abermals ihren Kopf zu ihm und rollte gelangweilt ihre Augen. „Andere Mädchen? Vielleicht ja. Ich hatte einen Vater der nie Zuhause war und meine Mutter starb bei meiner Geburt. Also spielte ich mit meinem Schwertmeister und er lehrte mich den Gesang der Klinge, die ihr nun für mich tragt. Als ich älter war, wurde ich dann von meinem Vater in die östlichen Küstenlande geschickt, um dort in einem unserer Schlösser zu leben. Burg Sturmhort am Ostend. Irgendwann wurde mir jedoch langweilig und ich kehrte von einem meiner Ritte nicht zurück. So kam ich nach Nebelgard, von dem ich einige Gerüchte gehört hatte.“ Neire ließ Edda ausreden, spürte aber, dass sie in Teilen log. Für heute wollte er es bei der Geschichte belassen, doch er würde sie wieder fragen. Die fernen Lande und Geschichten von Vintersvakt hatten sein Interesse geweckt. Mittlerweile waren Neire und Edda an das Ende der Straße gelangt. Nebelgard lag irgendwo hinter ihnen, verborgen in den dichten Schwaden. Hier oben war der Dunst lichter und sie sahen vor sich die Mauern aus gewaltigen schwarzen Steinquadern. Der Weg führte über eine provisorische Holzbrücke und überall ragten hölzerne Gerüste auf. Gedämpft klangen die Geräusche von Spitzhacken, Hämmern und Meißeln zu ihnen heran. Sie durchquerten die Burgmauern und kamen vorbei an Arbeitern. Menschen, Nachtzwerge und muskulöse Orks schufteten auf der Baustelle. Ab und an sahen sie schemenhaft die Gestalt eines Riesen gewaltige Steinquader schleppen. Die oberen Körperteile verschwanden unscharf im Nebel, so groß waren die schwarzen Körper der Feuerriesen. Dann durchquerten sie die Hallen eines fast fertiggestellten Hauptgebäudes. Als sie in den fackelerhellten Tunnel blickten, der in das Innere des Berges führte überholte Neire Edda und verbeugte sich gespielt elegant vor ihr. „Willkommen Edda im Reich von Flamme und Düsternis, willkommen im Tempel des Jensehers.“
Jenseher:
Sie war immer wieder zurückgekehrt. Sie wusste nicht wieso. Sie hatte auch nie darüber nachgedacht wieso sie zurückgekehrt war. Sie hatte nur über den Gedanken gebrütet, ob sie zurückkommen sollte oder nicht. Waren es die Geheimnisse des Tempels des Jensehers? Oder war es die unbeschwerte Erscheinung des kindlichen Propheten, ein Verlangen in seiner Nähe zu sein und an seinen Geheimnissen von Feuer und Schatten teilhaben zu können? Edda wusste nicht genau was es war. Sie konzentrierte sich auf das, was einst war, was ihr jetzt bevorstand. Sie dachte an ihre Aufgabe und ihre kommende Begegnung. Bereits zum dritten Mal war sie in die steinernen Hallen unter der Irrlingsspitze zurückgekehrt. Die erste Aufgabe, die ihr Neire gegeben hatte, war einfach gewesen. Sie hatte eine kleine Schatulle nach Kusnir bringen müssen. Ihr wurde ein Pferd zugewiesen und sie war schnell vorwärtsgekommen. Es war Sommer gewesen in den Schneebergen, doch je näher sie dem Herzogtum Berghof kam, desto wärmer war es geworden. Das Wetter hatte Edda nicht überrascht – Wärme war ihr aus ihrer Heimat, Vintersvakt, bekannt. Sie hatte sich gewundert über die große Anzahl an Karren, die teils von Pferden oder Ochsen über die Straße nach Kusnir gezogen wurden. Ebenso viele Karren kamen ihr entgegen. Güter, die nach Nebelgard gebracht wurden oder von dort stammten, mussten sich auf den Gefährten befunden haben. In Kusnir hatte sie die Schatulle dem neuen Ortsvorsteher geben, der den Namen Jorwin Raunenstharr trug. Sie hatte gehört, dass sein Vorgänger Kurst mit einigen anderen unglücklichen Seelen auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Alle, die in den Flammen zu Grunde gegangen waren, hatten das Knie vor Jiarlirae nicht beugen wollen. Edda hatte natürlich versucht die Schatulle zu öffnen. Die kleine Kiste war verschlossen gewesen und sie hatte ihre Dietriche benutzt. Das Schloss war für sie kein Hindernis gewesen und im Inneren hatte sie einige wertvolle Platinumstücke und mehrere Fläschchen mit einer schwarzen Flüssigkeit entdeckt. Die Violen hatte sie als Extrakt der Droge Düsternis erkannt, von der sie in Nebelgard bereits probiert hatte. Eines der Fläschchen hatte sie dann für sich behalten, bevor sie die Schatulle wieder verschloss. Der weitere Teil ihrer ersten Aufgabe war ohne besondere Ereignisse verlaufen. Auf dem Rückweg von Kusnir hatte sie einige Abende im Freien verbracht und sich an Düsternis berauscht. Sie hatte sich ein Lager im weichen Gras und unter den Bäumen kleiner Haine gesucht, die in dieser unbewohnten hügeligen Wiesenlandschaft aufragten. Unter dem Blattwerk uralter Weiden und unweit eines plätschernden Bächleins hatte sie den Sommersternenhimmel betrachtet. Geträumt hatte sie vom Tempel des Jensehers und von Neire. Edda hatte sich an ihre Dialoge erinnert und darüber nachgedacht, was sie ihm sagte, wenn sie ihn wiedersehen würde. Sie hatte sich gefragt, ob sie ihre Instinkte wieder betrügen würden, wie damals in Vintersvakt. In diesen Tagen hatte sie lange nachgedacht, wohin sie reiten solle. Sie war dann doch zurückgekehrt und hatte, wie von ihr erwartet, den nächsten Auftrag erhalten. Der Auftrag war ungleich schwerer und unangenehm gewesen und hatte einiges von Edda abverlangt. In der Flüchtlingsstadt vor Nebelgard sollte sie eine alte Frau beschatten, die unter dem Namen Mutter Ormrynda für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Edda hatte sich in Lumpen gehüllt, sich nicht mehr gewaschen und war für eine Zeit in der Barackensiedlung vor den Toren der Stadt abgetaucht. Sie hatte Mutter Ormryndra ausfindig gemacht und schon bald festgestellt, dass sich Ormrynda als Hüterin und als Mensch gewordene Schlange ausgab. Die alte Frau hatte sich als Predigerin Jiarliraes ausgegeben und war geübt mit einigen niederen Taschenspielertricks, um die Hungerleider eines Besseren zu überzeugen. Edda hatte einige Wochen im Dreck gelebt und mit ihrem Dolch und Kurzschwert in griffbereiter Nähe geschlafen. Die Zeit hatte sie an ihre alten Tage erinnert. An eine Zeit, an die sie nicht zurückdenken wollte. Zu groß war der Schmerz der Erinnerung. Sie hatte sich zudem um das harte Überleben in dieser Umgebung kümmern müssen. Nicht nur einmal wäre sie fast vergewaltigt worden, hätte sie nicht den Angreifern mit dem Kurzschwert geschickt durch das Gesicht geschnitten und sie so verjagt. Bei Mutter Ormrynda hatte das für Aufsehen gesorgt und sie war der älteren Dame nähergekommen. Die Frau war von Spenden der Hungerleider versorgt worden und Edda hatte sich gewundert, wieviel selbst die Ärmsten noch abgeben konnten. Doch sie hatte gewusst, dass sich die Menschen hier ein besseres Leben erhofften und die Opfergaben nicht aus freiem Herzen kamen. In den Abendstunden, wenn die Sommersonne bereits über den Bergen untergegangen war und ein magisch-bläuliches Himmelsglühen den Horizont über den weißen Gipfeln überzog, hatte Edda wie gebannt auf die düsteren Schwaden geschaut, die über Nebelgard waberten. Sie hatte sich auf dem Dach der Baracke niedergelassen und sich gefragt, ob sie all das Elend nur verlassen wollte oder ob sie sich nach Neire sehnte. Sie hatte sich sein Gesicht vorgestellt und seine zischelnden Worte fernen Singsangs waren in ihrem Kopf gewesen. Wie einstige Melodien ihrer Kindesstatt. Eines Abends hatte ihr Mutter Ormrynda erzählt, dass der Tempel neue Diener suche, die in der schwarzen Kunst unterrichtet werden sollten. Ormrynda hatte ihr bereits einige ihrer Zaubertricks gezeigt, die größtenteils auf einfacher Täuschung beruhten. Sie hatte aber auch ein Wort von ihr gelernt, das die Schatten ihrer Bewegungen ein wenig länger werden lassen konnte. Mutter Ormrynda hatte sich über ihre Lernfähigkeit gefreut und die alte Frau hatte gehofft, dass sie so einen Zugang zu den Geheimnissen des Tempels des Jensehers haben würde. Edda hatte eingewilligt und die alte Frau verlassen. Sie war nach Nebelgard zurückgekehrt, doch anstatt sich als Schülerin der neuen Akademie Schwarzenlohe anzuschließen, war sie unverzüglich in den Tempel des Jensehers zurückkehrt. Dort hatte sie Neire sofort empfangen. Junge Orksklavinnen hatten sie gebadet und ihr ein fürstliches Mahl gebracht, während Neire sich mit ihr unterhalten hatte. Der Jüngling hatte ihr Wein eingeschenkt und an ihren Lippen gehangen. Nach der Zeit in der Flüchtlingsstadt, die immer öfters als Eldrabrück bezeichnet wurde, hatte sie sich so nach einem Bad gesehnt. Die Wärme und der Wein waren ihr zu Kopf gestiegen und sie hatten getrunken, gesungen und gelacht. Das glitzernde Licht der Fackeln, die Juwelen, der Reichtum und der das Licht absorbierende Stein, von dem das Gemach in ein angenehmes Zwielicht gehüllt wurde, hatten sie in einen träumerischen Zustand versetzt. Neire hatte ihr Haar mit warmem Wasser sowie Duftölen gewaschen und sie hatte wie in einer Trance weitererzählt. Dem nächsten Teil ihrer Aufgabe hatte sie ohne Zögern zugesagt. Den letzten Auftrag hatte sie mit Neire zusammen geplant. Sie war nach ihrem Aufenthalt im Tempel des Jensehers in die Akademie Schwarzenlohe eingetreten, in der sie anschließend die Aufnahmeprüfung bestanden hatte. Dort hatte sie einige Zeit mit anderen Schülern verbracht und Bücher studiert, von denen sie sehr wenig verstanden hatte. Sie hatten keinen richtigen Lehrer gehabt. Nur ab und an hatte ihnen Neire einen Besuch abgestattet und ihnen über die Geheimnisse von Flamme und Düsternis erzählt. Richtige Lehrstunden, wie die, die sie bei ihrem damaligen Schwertmeister in Vintersvakt hatte, waren es aber nicht gewesen. Ihre Zeit, in der kein Lehrmeister vorhanden war, hatten einige ihrer Mitschüler für andere Dinge verwendet. Sie hatten sich dem Wein, der berauschenden Substanz der Düsternis und dem Liebesspiel hingegeben. Edda hatte sich dann in ihr Zimmer zurückgezogen und studiert, so gerne sie auch mit ihren Gleichaltrigen abgegeben hätte. Sie hatte sich an das Wort der Macht zurückerinnert, mit dem Neire ihre Bewegungen hatte einfrieren lassen. Schon damals hatte sie gewusst, dass dies die Macht war, die sie einst selbst beherrschen wollte. Nach drei weiteren Wochen, die viel zu schnell vergangen waren, hatte Neire ihnen allen freie Tage zugestanden, die sie nach ihren eigenen Vorlieben gestalten konnten. Edda war nach Eldrabrück und zu Mutter Ormrynda zurückgekehrt. Sie hatte den wissbegierigen Fragen der alten Frau gelauscht und ihr erzählt, was ihr in der Akademie Schwarzenlohe widerfahren war. Das Gespräch hatte sich bis in die Abendstunden gezogen. Ormryndas Wachen, zwei grobschlächtige Schläger, von denen einer schielte, hatten dafür gesorgt, dass sie ungestört blieben. Schließlich hatte sich Ormrynda verabschiedet und Edda hatte sich vor ihr verbeugt und ihre bleiche, faltige Hand geküsst. Als sich die alte Frau umdrehte, hatte Edda zugeschlagen. Sie hatte ihr Kurzschwert gezogen, auf dem Neire das tödliche Gift aufgebracht hatte. Sie hatte Ormrynda das Kurzschwert in den Rücken gestochen und der Mutter der Schlange den Mund zugehalten. Das Schwert war in tief in den Rücken eingedrungen, hatte aber nicht das Herz von Mutter Ormrynda getroffen. Die ältere Frau mit dem grauen, schmutzigen Haar hatte angefangen zu zittern und war ohne ein weiteres Aufbäumen in sich zusammengesackt. Edda hatte daraufhin den Körper aufgefangen und ihn vorsichtig auf das einfache Lager im türenlosen Seitenraum gezogen. Sie hatte versucht so geräuschlos wie möglich zu sein. Bis auf das leise Knarzen der Bretter waren keine Geräusche zu hören gewesen. Dann hatte sie sich das Blut von den Händen gewaschen und ihre Kapuze übergezogen. Sie hatte anschließend die Hütte durch den Eingang und in die Nacht von Eldrabrück verlassen. Die beiden Wachen hatten sie zwar anschaut, ihr aber keine weiteren Fragen gestellt. Erst als Edda die Stadtwachen von Nebelgard, die an der Fireldrabrücke standen, passiert hatte, war die Anspannung von ihr abgefallen. Erst jetzt war ihr aufgefallen, dass sie unter ihrer Kleidung und in ihrer rechten Hand das Kurzschwert hielt. Ihre Linke hatte sie zur Faust geballt, so dass sich ihre Fingernägel in die Haut geschnitten hatten. Sie hatte Nebelgard durchquert und war dem Tunnel in den Tempel des Jensehers gefolgt. Jetzt, nach ein paar Stunden Fußmarsch war die Anspannung von ihr abgefallen und sie spürte die Müdigkeit des langen anstrengenden Tages, als sie in der großen Halle wartete, deren hohe Decke nicht gänzlich von dem Licht erhellt wurde. Edda betrachtete immer wieder die Wände, der mit einem grauen, geschliffenen Alabasterstein versehenen Halle. Rote und schwarze Banner waren dort aufgehängt, die goldene Runen der Chaosgöttin Jiarlirae trugen. Junge Orksklavinnen hatten ihr bereits das zweite Glas Wein gebracht, an dem sie hin und wieder trank. Die Halle war ab und an von den Dienern Jiarliraes betreten worden, die, ohne mit ihr zu sprechen, wieder in einer anderen Türe verschwanden. Augenblicklich war jetzt wieder das Geräusch einer Türe zu hören. Hervortreten sah sie jedoch das Kind der Flamme, gekleidet in einen roten Umhang mit den Stickereien von goldenen Chaosrunen. Neire warf seinen Kopf mit den gold-blonden Locken zurück und lächelte ihr zu. Sie schätzte das Alter des Propheten auf 17 Winter; so alt, wie sie selbst war. Edda erwiderte das Lächeln. Sie konnte ihren Blick nicht von Neires anmutigem Gesicht nehmen. „Edda, seid gegrüßt. Wie ist es euch ergangen? Ihr seht müde aus und müsst hungrig sein. Hat man euch Speise und Trank gebracht.“ Edda nickte und deutete auf das Glas. „Ich habe getan, was getan werden musste, Neire. Ormrynda ist tot. Sie ist gestorben durch meine Hand.“ Neire trat jetzt näher an sie heran und nahm ihre Hände. Dort waren noch geringe Verfärbungen des Blutes zu erkennen. Edda vernahm sein modrig-süßes Parfüm, das nach Erde und einer fremden Wurzel roch. Sie konnte die schlangenhaft geteilten Pupillen seiner nachtblauen Augen glitzern sehen. „Das sind wunderbare Nachrichten Edda und das müssen wir feiern. Nehmt etwas von dieser Substanz, die sich Grausud nennt und erzählt. Ich bin so gespannt eure Geschichte zu hören.“ Edda dachte nicht lange nach und leckte den grauen klebrigen Tropfen von Neires Finger. Sie verspürte den Geschmack von ranzigem Fett und exotischen Gewürzen. Augenblicklich fing ihre Zunge an zu kribbeln. Dann schossen Lichtblitze durch ihr Blickfeld. Die Zeit schien still zu stehen, Wärme floss durch ihre Gliedmaßen und sie dachte, sie würde schweben. Neires Antlitz leuchtete golden im Licht der Fackeln. Seine Haare zogen lange vielfarbig glitzernde Fäden, die an einigen Punkten wie helle Sterne schimmerten. Sie sah, dass Neire sich auch ein Glas Wein eingoss und einen Tropfen der seltsamen Substanz nahm. Dann fing sie an zu erzählen. Für eine Weile sprudelten ihre Worte hervor wie ein Wasserfall. Sie war glücklich und erfüllt von Freude. Sie saßen eng beieinander und Neire hörte ihr zu. Sie hatte die Entbehrungen, die Angst und den Schmutz vergessen. Selbst den Mord an Mutter Ormrynda erzählte sie mit sehnsüchtigem Rückblick, in ein nostalgisch verklärtes Gestern. Jetzt war es das, was einst war.
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„Wenn das Licht uns einst nehmen sollte…, wenn es uns unser Geheimnis stehlen sollte… wir dürfen es niemals dazu kommen lassen. Jiarlirae ist stark, sie würde es nicht zulassen.“ Edda war an die schwarze Sphäre herangetreten, die dort zwischen den drei spitzen Obelisken aus Ne’ilurum schwebte. Die Sphäre war mehr als doppelt so groß wie sie selbst und sie konnte förmlich die fremde Macht spüren, die dem seltsamen Konstrukt innewohnte. Sie ließ das Licht der Kammer auf sich wirken, das in der schwarzen Kugel verschluckt wurde. In den Steinwänden schimmerten dunkle Ne’ilurum Adern wie Kristallglas. Die kolossale Halle verfügte über Halbhemisphären-ähnliche Teilkammern, die sich in der Mitte trafen und sich überlappten. Neire hatte es als verborgenes Herz eines Gottes bezeichnet, als sie durch die doppelflügeligen Ne’ilurumtüren gegangen waren. Es war wie ein Herz, was in den Berg geschnitten wurde, um unglaubliche Energien zu beherbergen. Edda sprach zu Neire ohne sich umzudrehen. Sie spürte den Rausch des Grausud und des Weines, den sie danach getrunken hatten. Überall funkelte das Licht um sie herum und begann sich zu drehen. Nur die Kugel aus Dunkelheit bewegte sich nicht. „Es ist so schön Neire. Es ist das Heiligtum eurer Göttin und ich spüre ihre Macht.“ Sie hörte sich selbst frohlocken, als sie sprach. Sie fühlte sich hingezogen zu Feuer und Dunkelheit. Was konnte man Besseres tun, als in kindlicher Freude mit den Dingen zu spielen, bei der Offenbarung solch unglaublicher Möglichkeiten. Wie würde eine tanzende Flamme mit ihrem Schatten spielen? Neires Stimme war jetzt hinter ihr. „Ja, es schön. Doch es ist auch ein Portal. Eine Öffnung in eine andere Welt hinter den Sternen. Nicht die Welt meiner Herrin. Eine kalte Hölle kreischender Winde verbirgt sich auf der anderen Seite.“ Eddas Neugier wuchs bei jedem von Neires Worten. Jetzt lachte sie auf. „Wo seid ihr gewesen Kind der Flamme, während ich Mutter Ormrynda tötete. Wo seid ihr jetzt Neire, während wir das schwarze Portal eurer Göttin betrachten, das in eine Höllenwelt jenseits der Sterne führt?“ Sie spürte, dass Neire näher an sie trat und seine linke Hand ihr Haar zurückstrich. Sie konnte das Narbengewebe seiner verbrannten Haut an ihrer Wange fühlen. Dann flüsterte Neire in ihr Ohr, während er sie umschlang. „Ich bin hier Edda. Ich bin hier bei euch und es gibt nur uns beide.“ Sie drehte sich zu ihm um und er zog sie zu ihm. Als sich ihre Lippen berührten konnte sie das verrückte Kreischen des kalten Windes in der Ferne hören. Sie fühlte Neires gespaltene Zunge, die die ihre berührte. Da waren die Lichter des Herzens im Berg. Die Lichter des göttlichen Herzens, die schimmerten wie ferne Sterne. Und da waren sie: Edda und Neire. Sie waren wie zwei tanzende Flammen in berauschter Schwärze. Sie waren wie zwei sterbliche Menschenschlangen, verzaubert verschlungen im Erahnen eines unendlich-dimensionalen Meeres von Macht. Es war die Brandung des Urchaos, ein feuriger Reigen junger Geister, der an diesen sternenlosen Strand der Düsternis brauste.
Jenseher:
Die Tage vergingen wie im Rausch. Neire verbrachte einen Großteil seiner Zeit in der Akademie Schwarzenlohe. Er arbeitete in den Laboratorien und lehrte die neuen Schüler, die teilweise jünger als er selbst waren. In Wahrheit verbrachte er aber seine Zeit dort wegen Edda. Die anderen Schüler hatten dies schnell bemerkt; sie tuschelten und kicherten, wenn sie Neire und Edda zusammen sahen. An den Abenden und in den Nächten hielten sich Neire und Edda in den Laboratorien oder in Neires Schlafraum auf. Sie sprachen über die schwarze Kunst, die Formeln, von denen einige tödlich in der Wechselwirkung mit lebendem Fleisch waren und von denen andere fortwährende Dunkelheit und Verdammnis brachten. Sie sprachen auch über ihre Erfahrungen, über alte Geschichten, vergangene Kunst und neue Lieder. Edda wollte alles über Neires Kindheit in Nebelheim wissen und das Kind der Flamme erzählte ihr mit leuchtenden Augen von Jiarlirae. Wenn sie nicht forschten, tranken die beiden Wein, berauschten sich mit Grausud oder liebten sich dort, wo sie sich gerade befanden. Das Zeitgefühl ging ihnen verloren und Edda lernte schnell. Doch je länger die beiden in Schwarzenlohe verweilten, desto öfters klopften die Boten an die Pforten der neugegründeten Akademie. Meist waren es Unterredungen, zu denen Neire gebeten wurde. Zum einen mussten Entscheidungen beim Bau der Festung an der Felswand über Nebelgard getroffen werden. Zum anderen waren es aber auch viele kleinere Dinge, wie die Steuerung des Handels mit Unterirrling, Urrungfaust oder dem Herzogtum Berghof. In diesen Situationen fiel beiden der Abschied schwer und zog sich meist so lange, bis selbst die Boten unruhig wurden. Dann aber änderten sich die Dinge und es erschien ein anderer Bote an der Pforte von Schwarzenlohe. Es war eine junge Feuerriesin, die Neire zu einer Audienz mit Königin Hulda von Isenbuk bat. Neire willigte sofort ein und ließ Edda nach einem langen Abschiedskuss zurück. Die Feuerriesin, die sich ihm als Thialda vorstellte, führte Neire durch die Baustelle der Festung und den Tunnel, bis in das Gemach der Königin. Dort nahm Neire auf einem Stuhl Platz und wartete auf Hulda. Er betrachtete den Empfangsraum der Königin, während er die Wärme genoss, die von dem neu errichteten Ofen aus Ne’ilurum ausging. Der Jüngling hatte bereits ein Dunkelbraan erhalten und genoss den starken, bitteren Geschmack sowie die feine, säuerliche Note des urrungfauster Bieres. Dann öffnete sich die Tür zu Huldas Gemächern und hervor trat die Königin. Neire erhob sich und verbeugte sich tief, dann lächelte er der Anführerin der Feuerriesen zu. Hulda hatte sich in kostbare purpurne Gewänder gehüllt, die dem Anlass nicht entsprechend waren. Sie zeigten zu viel ihrer grau-dunklen Haut, die in langen Falten hinabhing. Huldas dunkle, schweinsartige Augen waren zusammengekniffen, als sie zur Begrüßung sein Lächeln erwiderte. Im flackernden Licht der Fackeln wirkte ihr Ratten-ähnlich spitz zulaufenden Gesicht älter, als es eigentlich war. Oder ging es ihr vielleicht nicht gut? Neire verwarf den Gedanken, als er den Reichtum des Gemachs betrachtete, den Hulda nach ihrer Ankunft hier angehäuft hatte. Nachdem sie die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, sprach Hulda den wahren Grund der Audienz an. Sie erhob das Wort in der Sprache ihrer Vorväter, in der Weise der Feuerriesen. „Neire, seit ich euch kenne seid ihr zu meinem besten Freund geworden und daher wage ich es offen mit euch zu sprechen.“ Neire nickte zustimmend und Hulda fuhr fort. „Es bedrücken mich einige Entwicklungen in meinem Volk, deren Anfänge ich schon seit unserer Ankunft beobachten konnte. Euch sind sie vielleicht nicht aufgefallen, da nur ein Feuerriese sein eigenes Blut derart kennt.“ „Was ist es Königin? Was bedrückt euch?“ Hulda beendete ihr Stocken, als Neires Frage sie bestätigte. „Anfangs waren es kleine Streitigkeiten zwischen meinen Kriegern. Rivalitäten, nichts Schlimmes. Es folgten Schlägereien, die mit einer zunehmenden Brutalität geführt wurden. Schließlich bildeten sich Gruppen, die nun mein Volk vergiften.“ Neire neigte fragend seinen Kopf und die Königin fuhr fort. „Es ist der fehlende König an meiner Seite. Es weckt Begehrlichkeiten. Jeder der fähig ist, will seine Macht zeigen, versucht Anhänger zu sammeln. Sie umwerben mich immer offensiver; sie möchten mit ihren Taten glänzen. Doch sie sind nicht geeignet als Nachfolger Dunroks. Sie sind nicht stark genug und auch nicht schön genug. Ich fürchte, dass es noch schlimmer werden wird. Wenn wir nicht etwas unternehmen, wird es bald Mord und Totschlag geben.“ Neire nickte, als er langsam die Schwierigkeiten verstand, die Hulda belasteten. „Ich verstehe euch, Königin. Ihr seid intelligent und weise in euren Vorahnungen. Ihr habt meinen Dank im Namen von Jiarlirae, dass ihr ehrlich zu mir sprecht. Wahrlich seid ihr eine große Freundin.“ Er verbeugte sich und die Königin erwiderte seine Geste. „Ich brauche euren weisen Rat Königin. Was kann ich tun? Sollte ich nochmals mit ihnen sprechen? Kann ich den Unruhen Einhalt gebieten?“ Hulda schüttelte ihr Haupt, bevor sie antwortete. Ihre verfilzten rötlichen Haare standen von ihrem hässlichen Kopf ab, auf dem Geschwüre zu sehen waren. „Ich fürchte nein. Ihr habt einen großen Einfluss Prophet und mein Volk respektiert euch. Doch, verzeiht meine Ausdrucksweise, ihr seid so klein. Eure Worte würden vielleicht eine Zeit wirken. Dann würde alles wieder anfangen. Vielleicht schlimmer als vorher.“ „Ich verstehe, Königin. Es braucht Macht und es braucht Furcht, um euer Volk zu beherrschen. Es braucht einen König, der nur aus eurem Blute entstammen kann.“ Jetzt war es Hulda, die in ein breites Grinsen verfiel und ihre fauligen Zähne zeigte. „Deswegen seid ihr mein bester Freund Neire. Ihr seid so klug und weise. Ja, es braucht diesen König an meiner Seite, den König aus meinem Blute. Groß und stark soll er sein. Und schön, so wie einst König Isenbuk… bevor er fett und hässlich wurde. Und nicht zu intelligent muss er sein. Damit ich, Königin Hulda, herrschen kann. Damit wir Jiarlirae dienen können.“ „Wer kann es sein, Königin? Wer könnte euer König werden?“ Hulda antwortete ihm wohl überlegt. „Erinnert ihr euch? Ich erzählte euch einst von dem jungen Jarl Eldenbarrer, dem Träger der Flamme von Thiangjord. König Dunrok Isenbuk hatte damals bereits mit ihm Kontakt aufgenommen, um ihn als Verbündeten im Krieg gewinnen zu können. Aber ich glaube die beiden waren da bereits verstritten. Eldenbarrer schaute auf das hinab, was aus Dunrok geworden war. Ein fetter und träger Säufer. Doch er hatte Respekt vor Dunrok und wäre wohl seinem Waffenruf gefolgt.“ „Ihr erzähltet mir einst über die Eisenfeste Sverundwiel. Über ihre Geschichte und ihre Erbauer, die Nachtzwerge, habe ich gelesen. Den Legenden nach soll sie südwestlich von hier, im Höllenkessel liegen.“ Hulda nickte, als er sprach. Neire bemerkte ihre Aufregung. „Ich bitte euch Neire, brecht bald auf. Doch seht davon ab, meine Untergebenen mitzunehmen. Die alten Feindseligkeiten zwischen Dunrok und Eldenbarrer könnten wieder aufleben.“ Neire überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Königin Hulda, habt keine Angst. Ich werde einen Riesen aus Halbohrs Garde mitnehmen. Wir werden bald aufbrechen.“ Er erhob sich und verbeugte sich tief. Dann warf er seine gold-blonden Locken zurück, die ihm mittlerweile bis auf die Brust hinabfielen. Königin Hulda lächelte ihm ein letztes Mal zu, als sie die Worte des Abschieds sprach. In ihren Worten schwang ein emotionaler Ton, der auf mehr als Freundschaft deutete. „Ach mein Neire. Ihr seid mein bester Freund, mein Seelengefährte. Wenn ihr doch nur nicht so klein wärt. Ihr seid mein wahrer König und werdet es für immer sein.“
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Neire hatte mit allen gesprochen. Keiner hatte sich der Aufgabe verwehrt, doch den Hügelriesen Kulde aus seinen Aufgaben zu lösen, hatte sich am schwierigsten dargestellt. Neire hatte hierzu die Baustelle der Festung am Tunneleingang aufgesucht. Er hatte nach Fuldir Ausschau gehalten und war dem Riesen mit der schiefen Nase und den zerbrochenen Zähnen schließlich begegnet. Im Nebel hatte Fuldir eine Peitsche getragen und sich bereits wie ein König aufgeführt. Neire hatte die Augen des Jensehers eingesetzt. Er war so in der Lage gewesen, den Unteroffizier zu überzeugen, dass er sich mehr um die Arbeiten und nicht um andere Dinge kümmern sollte. Dann hatte er Fuldir befohlen Kulde herbeizurufen und ihn aus seinem Dienst zu entlassen. Fuldir hatte sich militärisch gefügt und Neire versprochen den Bau der Festung voranzutreiben. Die folgenden Tage waren sie mit den Vorbereitungen der Reise beschäftigt gewesen. Neire hatte den Nachtzwerg Heergren Nuregrum beauftragt einen großen Rucksack für Kulde anzufertigen. Als Heergren diese Aufgabe beendet hatte, hatten sie ihre Sachen gepackt und waren aufgebrochen. Sie wollten nur nachts reisen und verließen Nebelgard in den Abendstunden in südlicher Richtung. Sie waren zu viert: Neire von Nebelheim, Edda von Hohenborn, Heergren Nuregrum und Kulde, der Hügelriese. Der Himmel war von Wolken verhangen und der sommerliche Abend war nicht zu warm. Sie folgten dem Tal in Richtung des strömenden Gebirgswassers. Die Fireldra schimmerte von grünlich-grauem Gletscherwasser; ihr Rauschen erfüllte die Abendstille. Das Tal schlängelte sich durch die Landschaft und schon bald war Nebelgard hinter einem Bergrücken verschwunden. Als die Nacht einsetzte, hörten sie das Zirpen der Grillen. Sie vernahmen den Geruch von Bergblumen und dem des Grases der Wiesen. Irgendwann in der Nacht, sie mussten wohl schon einige Zeit gegangen sein, hörten Neire Stimmen in der Entfernung. Edda sah dort den Schimmer eines Lagerfeuers, auf der anderen Seite des Flusses. Sie berieten sich kurz, entschieden sich dann aber weiterzugehen und dem Feuerschein keine Beachtung zu schenken. Als dann der Morgen graute wurden sie müde und suchten sich einen kleinen Lagerplatz. Neire und Edda sprachen sich ab, die Wachen zu wechseln. Heergren und auch Kulde waren bereits in tiefen Schlaf gefallen. So verbrachten sie den Tag am Fluss. Neires Wache verlief ohne besondere Ereignisse. Er schaute immer wieder fasziniert auf den großen Leib von Kulde, dessen muskulöser, behaarter Oberkörper sich im Takt seines rasselnden Atmens hob. Einmal sah Neire ein Reh auftauchen, das neugierig in ihre Richtung glotzte. Als sie sich ausgeschlafen hatten, machte Neire ein Feuer und sie nahmen ihre Mahlzeit ein, die Kulde aus seinem schweren Sack beförderte. Nur Nuregrum blieb unter seiner Decke und im Schatten des Felsen liegen und sie brachten ihm geräucherte Würste und Brot. Dem Nachtzwerg ging es nicht gut im Licht. Seine Augen hatten zu tränen angefangen und er sprach von Kopfschmerzen. Neire und Edda unterhielten sich und erzählten sich lustige Geschichten. Neire fiel auf, dass Edda neugierig zu Kulde blickte, der schmatzend und rülpsend die dreifache Portion verschlang. Der Hügelriese hatte sich Felle und Teile einer Rüstung übergeworfen und saß auf dem Stamm einer alten umgekippten Eiche. Dann stand die zierliche junge Frau mit den schwarzen, langen Haaren auf und setzte sich neben Kulde. Zuerst bemerkte der Hügelriese Edda nicht, die in einen schwarzen Umhang gekleidet war. Sie trug ein abgewetztes Lederwams und einen kurzen Rock über einer Lederhose. „Euer Name ist Kulde und ihr dient Meister Halbohr, ist es nicht so?“ Edda sprach in einem lieblich neckenden Ton, als würde sie mit Kulde spielen. Der Riese hörte auf zu kauen und blickte mit geöffnetem Mund zu ihr hinab. Speichel sabberte schon bald aus seinem Maul hinab. Neire konnte den Schweiß und Uringestank von Kulde durch das Feuer und bis zu ihm riechen, obwohl er nicht wie Edda neben Kulde saß. „Uhhh?“ sagte Kulde und blickte mit seinen kleinen schwarzen Augen in Richtung Neire. Kulde hatte dünnes braunes fettiges Haar und einen ausgeprägten Unterbiss, der seinem Gesicht eine zurückgebliebene Hässlichkeit verlieh. „Meisschter Halbohr, ja… Neire Freund“ sprach er schließlich und Fleischbrocken fielen aus seinem Maul hinab, als er wieder zu kauen begann. Neire betrachtete Edda, doch sie zeigte keine Anzeichen von Abscheu, rümpfte nicht ihre Nase. Im Gegenteil. Sie berührte mit ihrer behandschuhten Hand den langen Arm von Kulde, der von Narben gezeichnet war. „Ihr tragt einige Narben, Kulde. Woher habt ihr sie?“ Wieder blickte Kulde zu Neire, als er zu überlegen begann. Dann schluckte er und drehte sich zu Edda hinab. Der Riese, dessen menschliches Vergleichsalter noch nicht ganz 17 Jahre war, sprach langsam und lispelnd. „Narben von Kampf… Kulde kämpfen… Kulde sschiegreissch… Kulde sshtark… Kulde sschiegreissch.“ Dann blickte Kulde wieder zu Neire und der Jüngling der Flamme nickte ihm lächelnd zu. Er sah die grausame Brandnarbe des rechten Ohrs, von dem nur noch der Gehörgang zu sehen war. Sie würden wohl noch eine Zeit zusammen reisen, dachte Neire. Ihn freute die Furchtlosigkeit von Edda, doch spürte, dass er auch Angst um sie hatte. Kulde gehorchte ihm zwar, aber Neire wusste nicht wieviel die Augen des Jensehers dazu beitrugen. Der junge Riese hatte im Tempel seinen Zorn bereits gezeigt, als er einen Ork erschlagen und ihn dann auf dem Feuer gebraten und gegessen hatte. Kulde war gewachsen und groß für einen Hügelriesen. Bereits jetzt hatte er die Größe über vier Schritten erreicht. Zudem hatte er fast täglich mit Heergren und Granrig trainiert. Er trug seinen Morgenstern mit Stolz, dessen Kopf aus Ne’ilurum größer als der Oberkörper von Edda war. Neire ließ die beiden reden, doch er warf ein Auge auf Edda. Er würde einschreiten, falls es erforderlich sein würde. Neire wusste, dass er Edda beschützen wollte, koste es was es wolle.
Jenseher:
Sie waren einige Tage gereist, in der Edda die Zeit mit Neire genossen hatte. Sie gingen beieinander in der Nacht und teilten ein Lager von Winterdecken und Fellen bei Tag. Die Tage waren warm gewesen und es hatte nicht geregnet. Sie hatten keine weiteren Begegnungen gehabt und hatten nach zwei weiteren Nächten der Wanderung das Tal der Fireldra in Richtung Westen verlassen. Edda hatte nach Spuren gesucht, während Neire versucht hatte sich nach seinem Kartenwissen zu orientieren. Am insgesamt vierten Tag waren sie immer höher gekommen und am fünften Tag waren sie über vereinzelte Schneefelder geschritten. Die Bäume waren kleiner hier und die Landschaft war karger. Berggipfel konnten sie immer noch nicht erkennen, da die Bewölkung anhielt. Langsam spürte Edda die Strapazen der Wanderung. Eigentlich war sie lange Tagesmärsche gewöhnt. Blasen hatte sie nicht und auch ihre Füße taten nicht weh. Die kühleren Temperaturen und die Höhe machten ihr aber zu schaffen. An diesem Morgen hatten sie sich in einem lichten Nadelwald niedergelassen, der vor einer Felswand endete. Ein kleines Feuer brannte vor dem Stein, vor dem sie die Decken ausgebreitet hatte. Sie blickte ins Feuer und fragte sich, was Jiarlirae Neire mitteilte, wenn er in die tanzenden Flammen starrte. Am Ende eines jeden Tages hatte sie interessiert dem Fackelritual zugeschaut, das Neire nach Einsetzten der Dunkelheit vollführte. Sie selbst sah nichts in den Flammen, doch sie spürte die wohlige Wärme des Feuers. Jetzt trat Neire zu ihr und gab ihr einen Kuss. „Hier meine Liebe. Trinkt. Wir werden den ganzen Tag hier sein, bis die Sonne sich wieder gesenkt hat. Wir haben genug Zeit, Edda.“ Edda nahm den Weinschlauch und trank mehrere große Züge. Augenblicklich spürte sie den Rausch – ein flaues Gefühl, als sie den Wein in ihrem nüchternen Magen fühlte. Ihre Laune stieg, als sie an den Schlaf und das Lager von Decken dachte. Sie kicherte, als sie Neire antwortete. „Haben wir genügend Zeit Neire? Ich weiß es nicht… wir sollten aufpassen… hihi… Heergren nicht zu wecken. Kulde schläft ja wie ein Stein.“ Dabei schaute Edda in Richtung des Riesen, der auf der anderen Seite des Feuers saß. Kulde blickte auf sie hinab und versuchte das Wort mit seinem Unterbiss nachzusprechen. „Ssshhtein… Shtein…“ grummelte der Riese lispelnd und schwerfällig, während er seinen Unterkiefer seltsam vorwärts bewegte. Edda blickte zum schattigen Lager von Heergren, doch sie bemerkte keine Reaktion. Er hatte sich bereits unter seine Decke verkrochen, die er als Schutz vor dem Licht über sich ausgebreitet hatte. „Vielleicht spielen wir ein Spiel? Was meint ihr? Kulde? Neire?“ Edda erhob sich aus ihrem Kniesitz und streifte das Fell ab. Sie konnte ihren Atem in der kühlen Morgenluft kondensieren sehen. Kulde grübelte, dann verzog sich sein Gesicht in ein Grinsen. Sie konnte sehen, dass seine Zähne trotz seines jungen Alters bereits faulig waren. „Sshhtein Sshpiel… Kulde liebt… werfen Sshtein… ja“. Edda hörte Neire lachen, doch sie schüttelte mit dem Kopf. „Nein Kulde, kein Steinspiel. Nein, nein, nein. Wir spielen ein viel besseres Spiel. Ihr flüstert Neire etwas ins Ohr und dann muss ich raten. Neire darf das Wort sagen, aber er darf nur seine Lippen bewegen. Keinen Ton darf er sagen. Wenn ich geraten habe, seid ihr dran Kulde.“ Kulda saß dort mit geöffnetem Mund. Sabber lief an seinem Kinn hinab und er hatte die Augen zugekniffen, als würde er überlegen. Dann sagte er: „Sshpiel?“ Edda wurde bereits unruhig, doch Neire trat zu dem Riesen hin. Der Jüngling zog Kulde am Arm und sagte. „Kommt Kulde. Wir müssen etwas weggehen. Edda darf es nicht hören, kommt.“ Neire führte Kulde zur Seite und Edda hielt sich die Ohren zu. Sie sah, wie sich Kulde hinabbeugte und versuchte zu flüstern. Doch das Wort war so laut, dass sie es trotz zugehaltener Ohren hörte: „Sshtein“, sagte Kulde. Dann trat er zurück, richtete sich auf und lehnte sich gegen einen Baum. Einige Tannenzapfen regneten auf sie hinab, als der Baum unter dem gewaltigen Körper Kuldes knarzte und sie sprang zu Neire. „Sagt es Neire, aber macht kein Geräusch.“ Neire formte die Worte mit seinem Mund. Edda konnte seine makellosen Zähne und die gespaltene Zunge sehen, er flüsterte jedoch nicht Stein. Vielleicht war es sein Nebelheimer Akzent, den er pflegte. Hätte sie das Wort nicht gehört, hätte sie „Steig“ geraten, doch Edda drehte sich zu Kulde, lachte und sagte. „Das war leicht Kulde. Ihr habt Stein gesagt.“ Der Mund von Kulde fiel noch weiter hinab, als er erstaunt zu ihr blickte. „Ohh, risshtissh… kluge Frau, oh ja…“ „Jetzt ihr Kulde. Jetzt müsst ihr raten.“ Kulde nickte, als hätte er das Spiel verstanden und Edda ging zu Neire. Sie trat an ihn heran und lächelte ihm zu. Sie spürte das Kribbeln im Bauch, roch den Geruch seines exotischen Parfüms. Sie fuhr ihm durch die gold-blonden Locken, strich seine Haare zurück und ihre Lippen berührten sein Ohr. Sie flüsterte ihm zu: „Liebe.“ Dann wandte sie sich ab. „Jetzt ihr Kulde. Schaut auf Neires Lippen. Was habe ich gesagt?“ Jetzt weiteten sich Kuldes Augen, doch sie waren immer noch klein. Sein Mund hing klaffend geöffnet, er stierte Neire an. Dann sagte er: „Sshtein es issht. Es issht Sshtein“ Neire fing zuerst an zu lachen, dann stimmte Edda kein. Sie konnten nicht mehr aufhören. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen, bis ihnen der Bauch wehtat. Kulde lachte mit. Tief und debil. Er freute sich, weil er glaubte gewonnen zu haben. Selbst von Heergrens Lager kam ein kurzes Lachen und dann ein Fluch: „Hahaha, bei der Herrin von Flamme und Düsternis. Dieser verdammte, dumme Riesenbastard.“ Sie lachten und lachten, dann wischte sich Edda die Tränen aus den Augen und sprach zu ihrem großen Begleiter. „Nein Kulde, Stein war falsch. Es ist die Liebe und es ist nur die Liebe!“ Erst lachte Kulde weiter, doch dann weiteten sich seine Augen. In seinem Gesicht fing es an zu arbeiten. Da war Wut und Zorn. Kulde schritt zur Felswand und rammte seine Faust gegen den Stein. Brocken rieselten hinab, als die Wand zitterte. Edda sah Blut von Kuldes Faust rinnen. Dann lehnte er seinen riesigen Rücken gegen die Wand und ließ sich dort hinabrutschen. Er wippte mit seinem Oberkörper, vor und zurück, als er wieder und wieder die Worte sagte. „Blödes Sshpiel, dummes Sshpiel…“ Edda ging zu Neire und gemeinsam schlüpften sie unter die Decke. Sie tranken dort Wein und erzählten sich die Geschichte des Spiels. Sie kicherten und sie erzählten. Edda kuschelte sich an den warmen Körper von Neire und so schlief sie ein.
~
Sie waren in der Dunkelheit gewandert. Die nächste Nacht und noch eine weitere. Edda hatte in der Gebirgswildnis nach Spuren gesucht und Neire hatte die grobe Richtung vorgegeben. Sie waren gut vorangekommen und hatten die größten Höhen der Kristallnebelberge erreicht. In der siebten Nacht ihrer Wanderung war es dann aufgeklart und sie hatten den Sternenhimmel über sich sehen können. Eisbedeckte schroffe Wipfel ragten in unerreichte Höhen auf und Gletscher glitzerten schattenhaft in der Ferne. Doch die Landschaft war einer Änderung unterzogen gewesen, je weiter sie nach Süden vorgedrungen waren. Sie waren tiefer und tiefer abgestiegen und schließlich waren sie an eine Art Wetterscheide gelangt. Unter sich hatten sie in eine Landschaft sehen können, die wie eine Art Hochplateau aufragte. Überall war Rauch aufgestiegen und in der Ferne hatten rötliche Lichter geglitzert. Ihnen war wärmere Luft entgegengeströmt, die nach Schwefel roch. Nach einem weiteren Lager während des Tages hatten sie sich an den Abstieg gemacht und waren durch die seltsame Landschaft gewandert. Je weiter sie in den Höllenkessel vorgedrungen waren, desto schroffer waren die Berge geworden. Sie hatten die verschiedensten Farbtöne gesehen, von schwarz bis rostbraun. Dann waren sie an den Lavastrom gelangt, der die Landschaft wie ein rot glitzerndes Band durchzog. Die Luft war hier unerträglich warm und besonders Kulde schleppte sich mühevoll voran. Schweiß lief vom Körper des jungen Riesen und er trank gierig von dem Quellwasser aus einem großen Schlauch. Edda und Neire kamen besser mit der Hitze klar. Auch Heergren litt unter der Hitze, kämpfte aber verbissen und ohne Klagen. Sie entschieden sich dem Lavastrom zu folgen, da Neire in den alten Geschichten von einem Fluss aus Feuer gehört hatte. Einige Stunden folgten sie in gebührendem Abstand der schnell fließenden Masse aus flüssigem Stein, dann sahen sie es vor sich liegen. Das Morgengrauen hatte mittlerweile eingesetzt und die ersten Sonnenstrahlen durchdrangen die Wolken von Schwefel- und Gesteinsgasen nicht. Ein schwarzer Berg war vor ihnen zu sehen, aus dessen Kamm nadel-artige Spitzen aufragten. Das Massiv war riesig und zeigte gewaltige Verfärbungen von Eisenadern. In der senkrechten Felswand, von der Teile im giftigen Nebel verschwanden, sahen sie das kolossale Konstrukt aus schwarzem Stahl. Es war die Festung Sverundwiel die sie dort erblickten. Die Vorderseite schien aus massivem Metall zu sein und schloss mit den Wänden des Berges ab. Vor der Schwarzeisenwand waren die Statuen von Kriegern zu sehen, die sich dort riesenhaft erhoben. Es waren vier Stück an der Zahl und sie waren auf metallenen Plattformen aufgebacht. Sie stellten Nachtzwerge in mächtigen Helmen und Panzern dar. Krieger die Hämmer trugen. Aus ihren Mündern strömte ein nicht abebbender Quell von heißem flüssigem Stein, der in hellerem Gelb schimmerte. Die Fluten schossen wie Wasser hervor und sammelten sich in einem riesigen See unter ihnen. In der Mitte der Statuen war ein großes Portal zu sehen, zu dem Stufen hinaufführten. Von der Macht des Bauwerks gebannt, kauerten sich die Streiter hinter einen Felsen. Um sie herum war ein Feld von schwarzer vulkanischer Asche. Sie spürten ein beständiges Rumoren des Bodens – ein Vibrieren, das stets anschwoll oder abebbte. Mit trockenen Zungen und heiseren Stimmen berieten sie ihr weiteres Vorgehen. Sie hatten die Eisenfeste Sverundwiel erreicht und es war ihnen eines bewusst. Nur wenn sie weitergehen würden, nur wenn sie den brennenden See aus flüssigem Gestein passieren würden, würden sie das Portal erreichen. Dann würden sie vielleicht erfahren, ob der junge Jarl Eldenbarrer, Träger der Flamme von Thiangjord, die Eisenfeste hatte unterwerfen können.
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