Die Luft um sie herum war erfüllt von flimmernder Hitze und beißendem Rauch. Es roch nach brennendem Stein, nach Gasen aus dem Erdinneren und nach Schwefel. Sie hatten nicht lange am See aus Lava verweilt und den brennenden Strom hinter sich gelassen. Auch der Eisenfeste Sverundwiel hatten sie den Rücken gekehrt und das imposante Bauwerk bald nicht mehr gesehen. Die Luft war zwar etwas kühler geworden, trotzdem hatte ihnen, insbesondere aber Kulde, die Hitze zu schaffen gemacht. Sie hatten sich daher entschieden eine Zeit zu rasten, um sich auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Ihr kurzes Lager hatten sie im Schutze einer großen Felsnadel aus dunklem Basalt angebrochen. Sie waren alle durstig gewesen und hatten getrunken. Der jugendliche Hügelriese Kulde, der bereits eine Größe von mehr als vier Schritten erreicht hatte, hatte ungeduldig seinen Wasserschlauch hervorgezogen und gierig getrunken. Er war so hastig gewesen, dass ein Teil des Wassers an seiner Kleidung aus Fell und Rüstungsteilen heruntergelaufen war. Edda hatte dem nicht lange zugesehen und sprach den Riesen an. Der Morgen war bereits angebrochen, doch die ersten Strahlen der Sonne drangen nicht durch die Rauchschwaden. „Kulde, ihr solltet langsam trinken… es ist nicht gut so schnell zu trinken. Glaubt mir, ich weiß wovon ich spreche. Ich komme aus dem fernen Süden, aus Vintersvakt. Aus der großen Hitze.“ Die fast 17-jährige Schülerin der Akademie Schwarzenlohe schaute Kulde mit ihren großen blauen Augen an. Auch in Eddas symmetrischem Gesicht waren Wassertropfen zu sehen, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatten. Sie stand vor dem sitzenden Kulde, der sich mit dem Rücken an die Felswand gelehnt hatte. Trotzdem überragte der Riese die junge Frau noch. Kulde glotzte Edda an, als ob er ihre Worte nicht verstehen würde. Sein Mund war schwachsinnig geöffnet, bevor er anfing zu sprechen. „Aber… Kulde dursshtig… dursshtig grossh.“ Edda schüttelte den Kopf und lächelte Kulde an. Ihre schwarzen langen Haare klebten an ihrer Stirn. „Nein… nein Kulde. Glaubt mir, ich weiß wovon ich spreche. Trinkt langsam, auch wenn ihr Durst habt. Sonst verschüttet ihr noch alles. Und… je mehr ihr trinkt, desto mehr schwitzt ihr auch.“ Kulde nickte, doch es schien, als hätte er ihre Worte nicht verstanden. Dennoch fügte er sich der Anweisung Eddas und trank nicht mehr. Als sich Edda wieder ihrem Zauberbuch zuwendete, hatte Kulde bereits vergessen, dass er durstig war. Sie verbrachten danach einen Teil des Vormittags in schweigsamer Stille. Nur das Schnarchen von Kulde war zu hören, denn der Hügelriese hatte den Kopf nach vorne sinken lassen und war in einen Schlaf gefallen. Dann erhob sich Neire und sprach zu seinen Begleitern. Kulde, Heergren und Edda bildeten einen Kreis mit dem Kind der Flamme. „Wir werden bald aufbrechen und ich frage euch hier und an diesem Ort: Seid ihr auf der Seite der Schwertherrscherin? Seid ihr auf der Seite von Jiarlirae.“ Heergren, der nicht unter dem Einfluss von Neires Augen stand, antwortete zuerst. Heergrens kobaldblaue Augen funkelten in seinem glatzköpfigen Schädel, unter dessen rechtem Ohr eine wulstige, noch rote Narbe zu sehen war. „Ich diene ihr und stehe auf ihrer Seite, jawohl. Wäre es nicht wegen ihr und wegen Meister Halbohr, wäre ich jetzt bereits tot. Sie holte mich aus dem Gefängnis und gab mir meine Chance auf Ruhm und Reichtum.“ Heergren nickte und sein langer geflochtener Bart wippte, als wolle er seine Worte unterstreichen. Auch Kulde schloss sich Heergren an und sprach mit langsamen lispelnden Lauten. In seinem hässlichen Gesicht mit der fliehenden Stirn und der platten Nase klebten seine dünnen, von Schweiß nassen, schütteren Haare. Er bewegte seinen Unterbiss ungelenk, während er seine Worte erhob. „Herrin gut, Herrin sshtark. Herrin von Feuer. Feuer heissh, Feuer sshtark.“ Zuletzt trat Edda an Neire heran. Sie legte ihre Hand um seine Schultern und lachte. „Ja, Kulde ihr habt Recht. Doch Neire zeigte mir auch das Heiligtum, die schwarze Sphäre der Schatten. Ich glaube an Jiarlirae, die Macht über Portale in Höllenwelten besitzt. Ich glaube und vertraue auch ihrem Propheten. Er zeigte mir die schwarze Kunst der Schatten. Und im Gegenteil zu den Priestern des Eises, verdammt sollen sie alle sein, erzählte er mir von Jiarliraes Geheimnissen und von der heiligen Stadt, von Nebelheim.“ Als sie die Priester des Eises ansprach, verzog Edda ihr hübsches Gesicht, als würde sie sich vor etwas ekeln. Jetzt antwortete Neire und schaute sie alle feierlich an. „Ich habe gebetet und um ihre Hilfe gefleht. Wir werden aufbrechen und ihren Segen haben. Da ihr Jiarlirae dient, wird euch ihr Segen zuteilwerden. Es ist der Schutz vor dem Feuer, den sie euch verleiht. Für euch, Kulde, soll es ein großer Kampf werden. Ihr habt noch keinen Namen, wie Gruschuk, der Grausame. Ihr müsst kämpfen Kulde! Ihr müsst heute für Jiarlirae kämpfen und euch euren Namen verdienen.“ Kulde streckte sich und erschien noch größer. Er ließ seine Muskeln spielen. Für einen Hügelriesen war er muskulös, offenbarte fast keine Spuren von Körperfett. Er schlug sich auf die Brust und streckte seinen Morgenstern in den von Schwaden gefüllten Himmel. „Kulde issht grossher Krieger. Kulde grössher, Kulde sshtärker als Grusshuk. Kulde bereit für Kampf.“ Neire nickte und seine Stimme verfiel in einen choralartigen Singsang. „Lasset uns beten, die alten Verse von Nebelheim. Sprecht mir nach, Diener von Jiarlirae. Sprecht die Weisen der Dame des aufsteigenden abyssalen Chaos und preiset die schwarze Natter, als Abbild unserer Göttin. Weinet nicht um die verglimmenden Feuer, weinet nicht um die erlischende Glut. Denn die Dunkelheit birgt ihre Ankunft, Schatten ist das Licht unserer Göttin und Flammen der Morgen ihrer Heiligkeit.“ Die Stimmen von Edda, Heergren und Kulde beteten die Worte. Kulde stammelte zwar, konnte aber einige Silben richtig sprechen. Ihre Stimmen hallten vom Felsen zurück, verloren sich aber im dumpfen Brodeln von ferner Magma und im Pfeifen der Gase des Höllenkessels.
Neire blickte seine Mitstreiter an, die vor ihm gingen. Das Donnern und das Tosen der Ströme von Magma verschluckten alle anderen Geräusche. Der See aus flüssigem Gestein schimmerte in orangenen bis hell-gelben Tönen; die Luft flimmerte vor Hitze. Nur durch die Schutzmacht von Jiarlirae, durch den Bannspruch, dessen Macht Neire seinen beiden Gefährten Heergren und Kulde gewährt hatte, waren die beiden in der Lage hier unbeschadet zu wandeln. Er hatte Kulde und Heergren die Schutzrune aus Quecksilber auf die Stirn gemalt und die silberne Flüssigkeit brennend in ihrer Haut schwinden sehen. Kulde hatte den Schutz mit - Feuer aussh, nissht mehr heissh, Göttin sshtark - kommentiert. Ihm selbst gab die Göttin fortwährenden Schutz und Edda trug den magischen Ring, den er ihr geschenkt hatte. Sie waren zum glühenden See hinabgeschritten, der durch die gleißenden, dünnflüssigen Fontänen gespeist wurde, die aus den Köpfen der zwergischen Kriegerstatuen hervortraten. Rechts neben ihnen ragte der schwarze Stahl der Festungswand auf. Sie schritten über die dunklen Stufen zu dem riesigen Portal, das in der Mitte der vier Statuen lag. Der See war jetzt hinter ihnen. Wäre es nicht um den Schutz vor der Hitze gewesen, hätten ihre Kleidung und Haare längst Feuer gefangen. Jetzt blickten sie auf das doppelflügelige, etwa fünf Schritt hohe und breite Portal, dessen linker Flügel verbogen war. Es so aus als ob jemand den Flügel hätte herausreißen wollen, wie vor langer Zeit. Neire schlich sich voran und untersuchte die Türflügel, während Edda nach Spuren suchte. Der Jüngling fand einen Mechanismus, der von einem eingelassenen Türknauf gesteuert wurde. Der Türknauf des anderen Flügels war durch die Beschädigung unbrauchbar geworden. Neire spürte wie Edda an ihn herantrat. Er hörte ihre Stimme, als sie ihm ins Ohr rief. Sie machte einen ängstlichen Eindruck auf ihn, seitdem sie sich Sverundwiel genähert hatten. „Es sind Spuren hier, einige Spuren. Von Riesen, aber auch von anderen. Kleinere Wesen. Die Spuren sind alt. Älter als sechs, vielleicht sieben Monde.“ Neire nickte und blickte in die Gesichter, die von brennendem Magmaschein erhellt wurden. Alle hatten ihre Waffen gezogen, als er begann den Türknauf zu drehen. Leise hörten sie ein Klacken, wie von einer Vielzahl von Mechanismen. Dann begann Neire den Flügel des Portals aufzudrücken. Anfangs musste er die Trägheit überwinden, doch dann glitt die Türe lautlos auf. Im Inneren lag eine imposante Kammer. Sie war unbeleuchtet und aus schwarzem Obsidian. Im unteren Bereich konnte er zudem zerstörte Türen sehen. Treppen führten auf Podeste und auch auf eine höhere Ebene. Vorsichtig lauschend schlich der Jüngling voran. Neires feine Ohren hörten ein fernes Geräusch, wie ein krankes Stöhnen, das sich mit einem heiseren, dunklen Husten abwechselte. Die Ferne der Geräusche sagte ihm, dass das, was immer es auch war, hinter einigen Türen und Kammern sein musste. Er zog seinen Tarnmantel zurück, blickte sich um und winkte die anderen hinein. Heergren drückte als letzter den Portalflügel zu und das Magmalicht verschwand in den Schatten. Das donnernde Geräusch der Fluten war jetzt gedämpft und die Luft war viel kühler. Neire hörte das Schnaufen von Kulde, der sich unsicher und blind in der Dunkelheit umschaute. Erst das Licht einer Fackel, das Neire für den Riesen entzündete, nahm ihm seine Starre. Neire reichte das Feuer seinem großen Begleiter, dessen penetranter Schweißgestank sich jetzt im Inneren der Halle ausbreitete. Er zeigte auf die Türen und zischelte zu Heergren und Edda. „Wartet hier, ich höre ein Geräusch, doch es ist weit entfernt. Ich werde mir anschauen, was hinter den Türen ist.“ Dann schlich er sich aus dem Lichtkegel hinfort in die Dunkelheit. Hinter den zerstörten Portalen fand er einen Tunnel, der in den Basaltstein des Berges geschlagen war. Neire bewegte sich vorsichtig weiter. Er entdeckte einige Gewölbe, die auf Wach-, Schlaf-, Ess- und Küchenräume hindeuteten. Die Einrichtung war zerschlagen und auf dem Boden verteilt. Waffen hatten angefangen zu rosten. Nachdem er den Rundgang um die Halle erforscht hatte, kehrte er zurück. „Ein Tunnel, der in Räume führt. Dort wurde geplündert, wie es scheint.“ Heergren trat jetzt zu Neire und seine blauen Augen schimmerten im Fackellicht. „Was ist mit meinem Volk, Prophet? Habt ihr Leichen, Spuren eines Kampfes gesehen?“ „Nein, da war nichts Heergren. Keine Leichen und keine Kampfspuren. Es müssen aber die Feuerriesen gewesen sein, die hier gewütet haben.“ Heergren nickte enttäuscht und Neire legte ihm seine verbrannte Hand auf die Schulter. „Kommt Heergren. Wir werden herausfinden, was in der Eisenfeste Sverundwiel passiert ist.“ Neire schlich sich wieder voran, die Treppen hinauf, die auf einem Podest mündeten. Von dort aus konnte er auf das Fackellicht von Kulde hinabblicken. Jetzt sah Neire das Strahlenmuster, das in den Boden der Halle eingelassen war. Zwergische Runen schimmerten dort und breiteten sich von einem Mittelpunkt aus. Jeweils zwei Strahlen waren in Gold, Silber und Ne’ilurum gearbeitet. Von dem Podest führten zwei freischwebende Treppen nach oben. In eine Ebene, die über ihm bereits geöffnet war. Auf der anderen Seite des Portals war ein weiteres solches Podest zu sehen, von dem ebenso zwei freischwebende Treppen hinaufführten. Neire schlich weiter. Die Treppen endeten an metallenen, zylinderförmigen Einfassungen – dort wo sie auf der oberen Ebene mündeten. In der Dunkelheit eröffnete sich vor ihm ein spitz zulaufendes Gemach. An der gegenüberliegenden Wand sah er sechs Throne. Zwei waren jeweils aus Gold, aus Silber und aus Ne’ilurum. Der Boden war mit Fellen ausgelegt und das Gemach musste einst, wie ein nachtzwergischer Thronraum, pompös ausgesehen haben. Jetzt waren die Felle vergilbt und fehlten in einigen Bereichen. Er bewegte sich weiter nach vorn und horchte. Atmen und Stöhnen waren lauter geworden, doch immer noch weiter weg. Hinter ihm hörte er die Schritte seiner Kameraden. Jenseits der Türen des Sechsthronraumes fand Neire ein umfassendes Gewölbe, das eine Art Waffen und Schreibkammer darstellte. Armbrüste, Munition und eiserne Halterungen waren vor Schießscharten angebracht, die in den Sechsthronraum zeigten. Zwei Wendeltreppen führten weiter nach oben. Hier war sich Neire sicher, dass das Stöhnen vom Ende beider Treppen herrührte. Er wartete bis seine Kameraden aufgeschlossen hatten, gebot ihnen auf seine Rückkehr zu warten und schlich sich hinauf. Lauter und lauter wurde das Geräusch von Husten und Sabbern. Er wollte sich anschauen was dort war. Dann würde er zu seinen Mitstreitern zurückkehren.
Kulde keuchte und knirschte mit den Zähnen. Er hatte nicht alle Worte verstanden, die Neire gesagt hatte. Zu schnell hatte der Prophet, sein bester Freund, zu ihm gesprochen. Er hatte das Wort Kampf und das Wort Feuerriesen gehört und seine Wut war explodiert. Jetzt kniff er die Augen zusammen und ging Schritt für Schritt die Wendeltreppe hinauf. Den Morgenstern trug er in der Rechten und die Fackel in der Linken. Heergren und Edda gingen hinter ihm, doch das hatte Kulde bereits vergessen. Jetzt hörte auch er ein Stöhnen und ein Sabbern. Dann war da ein Husten. Er ging schneller und schabte am Stein entlang. Kulde wollte kämpfen. Er wollte beweisen, dass er stärker als Gruschuk war. Stärker und grausamer. Er wollte töten. Dann war da plötzlich das Ende des für ihn engen Ganges. Da war Bewegung. Ein aschfahles Gesicht blickte ihm entgegen. Der Riese war größer als er und hatte rotes, verdrecktes langes Haar. Schaum hatte sich vor seinem Mund gebildet und seine bernsteinfarbenen Augen blickten, wie von einem wirren Hass getrieben. Die Gestalt vor ihm schrie, als sich spastisch, wie von einer Tollwut, seine Muskeln verkrampften. Sein Gegner hob seine Hand zum Schlag. Kulde nahm nicht die eiternden Wunden und die abgerissene linke Hand der Kreatur wahr. Er schlug mit seinem Morgenstern zu. Die schwere Kugel rammte gegen die Rüstung des Feuerriesen. Für den zweiten Angriff hatte er nicht genügend Weg zum Ausholen. Kulde versuchte sich noch unter dem Faustschlag hinweg zu ducken, doch die Wucht traf ihm auf den Kiefer. Er schmeckte das Blut, fühlte den Schmerz und seine Wut wurde zu Zorn, als er seinen Gegner verhöhnte. Kulde drängte den Feuerriesen zurück, mit all seiner Kraft. Dann holte er aus und rammte die Ne’ilurum Kugel gegen den Schädel seines Widersachers. Das Jochbein wurde eingedrückt und ein Auge quoll heraus. Mit spastischen Muskelzuckungen sank der Feuerriese zusammen. Kulde blickte sich um. Er brüllte, grunzte und schnaubte. Er wollte kämpfen und töten. Er sah nicht die tiefen Schnitte im Rücken des toten Riesen, die Neire dem Gegner zugefügt hatte. Dann war da dieses Geschöpf, wie ein Insekt. Er hob den Morgenstern zum Schlag. „Kulde, ihr blutet… lasst mich eure Wunde ansehen.“ Kulde kam die Stimme bekannt vor, er hörte seinen Namen. Der junge Riese hielt die Fackel hinab und sah das schöne Gesicht von Edda. Ihre Lippen glitzerten rötlich im Schein der Fackel. Kulde grinste sie an und seine Wut versiegte. Er nickte ihr zu, als er seine Muskeln spannte. „Guter Kampf, sshiegreissher Kampf. Kulde sshtark.“ Der stinkende Riese beugte sich zu dem Mädchen hinab und ließ sich auf ein Knie sinken.
Edda wendete geekelt ihren Blick ab. Der zweite Feuerriese hatte sie nicht angegriffen und lag siechend auf dem Boden. Er hustete Geifer aus seinem Maul und gab ein wehleidiges Stöhnen von sich. Sein linker Arm war ihm an der Schulter abgerissen und einer seiner Füße fehlte. Der gesamte Körper der Gestalt war von eitrigen Wunden bedeckt. Die Haare hatten angefangen auszufallen und ein großer Teil seines offenen Kiefers offenbarte eitriges Muskelfleisch. Neire hatte den Körper der Gestalt vorsichtig untersucht, nachdem sie die Wunde von Kulde versorgt hatten. Der Jüngling hatte ihr gesagt, dass er in den Wunden Konturen, wie von stumpfen Zähnen hatte entdecken können. Als Edda sich gerade abwendete hörte sie das leise Flüstern von Neire. „Edda kommt und schaut. Es gibt eine Bibliothek hier.“ Bei den Worten vergaß Edda ihre Furcht und schritt durch die dunklen Hallen. Seitdem sie mit Neire die Kunst der Schatten studiert hatte, konnte sie auch fast völlige Dunkelheit durchblicken. Ihr selbst kam es so vor, als würde sie mit einem dritten, unsichtbaren Auge blicken. Ein drittes Auge, dessen Kraft sie wie einen Muskel trainieren konnte. Sie kam vorbei an weiteren Wachräumen, deren Einrichtung geplündert und verwüstet war. Dann eröffnete sich das Felsgemach vor ihr, in dem sie Regale aufragen sah. Auch hier waren die Spuren von Zerstörung zu erkennen. Auf dem Boden lagen zerrissene und zerfetzte Bücher. Die Regale waren an einigen Stellen beschädigt. Neire stand dort, gebeugt über ein Pult. Er hatte seinen Schattenmantel zurückgezogen und blätterte in einem Wälzer. Als er sie eintreten sah, flüsterte er. „Kommt Edda. Das müsst ihr euch anschauen. Es sind ihre alten Aufzeichnungen. Ihr versteht doch die Sprache der Nachtzwerge.“ Edda nickte und ging zu Neire. Sie hatte die Sprache der Duergar gelernt, seitdem sie sich in der Akademie Schwarzenlohe eingeschrieben hatten. Sie war zwar noch nicht besonders geübt in der Sprache, konnte aber bereits viele Worte verstehen. „Was habt ihr gefunden Neire? Was steht in den Schriften?“ Neire gab ihr ein anderes Buch und lächelte sie an. „Hier, lest das Edda. Wer weiß wieviel Zeit wir haben. Es sind alte Aufzeichnungen über die Eisenfeste Sverundwiel. Einige Schriftstücke sind nur Auflistungen, andere aber erzählen die alte Geschichte dieses Ortes.“ Edda begann neugierig zu lesen. Sobald sie oder Neire neue Geheimnisse über diesen Ort entdeckten, teilten sie das Gefundene. So lernte sie über die Gründerväter dieses Ortes, die sechs Baumeister der Feste. Ein jeder dieser Altvorderen war ein Meister seines Faches. Ihre Namen waren: Dardal Vengerbergh, Meister des Goldes. Hulthrum Aschfall, Meister des Stahls. Thodek Nihthruk, Meister des Erzes. Hhelmin Niederstein, Meister des Steins. Daerdrin Balnheim, Meister des Feuers. Nimnor Steinbart, Meister des Werkzeugs. Sie alle wurden als stolze Vertreter der nachtzwergischen Rasse dargestellt und hatten Sverundwiel mit dem Ziel errichtet, Reichtum durch den Handel mit Oberweltlern anzuhäufen. Dieses Vorgehen hatte unter den Nachtzwergen wohl für Unmut gesorgt, betrachteten die die Duergar doch die Oberweltler als niederen Abschaum. In den Pergamenten gab es zudem Hinweise über Schätze jenseits des Goldes, verborgen in unerforschten Tiefen. Edda las von den Geheimnissen der Minen und Wichtigkeit der Suche nach neuen Erzen. Die Dokumente verfolgten aber andere Themen, je jüngeren Ursprunges sie waren. Sprachen die alten Schriften noch von den Künsten der Erzsuche und dessen Verarbeitung, geriet das Minengeschäft mehr und mehr in den Hintergrund. In den neueren Aufzeichnungen fand sie philosophische Ansätze über die Dualität des Seins, über Leben und Tod. Ein anderes Schriftstück ging auf Artefakte und verborgene Dinge ein. Im Speziellen wurde von einem Kragen der Träume gesprochen, der sich wohl irgendwo in der Nähe befinden sollte. Edda hatte schon in ihrer Heimat alte Geschichten gehört. Über Künste, die einem ein Eindringen in die Träume anderer erlauben sollen. Sie las die alten zwergischen Runen und hatte fast vergessen, an welchem Ort sie sich hier befand.