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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea
Jenseher:
Tiefer und tiefer waren sie hinabgestiegen. In die Eingeweide der Erde. Die Luft war kälter hier und der faulige Gestank der Pilze und Pflanzen wich einem erdigen Geruch von Wasser und Stein. Sie konnten nicht sagen, wie lange sie durch die vollkommene Dunkelheit geschritten waren; vielleicht waren es nur einige Stunden. Bargh, der die Gruppe in die Tiefe führte, blieb plötzlich stehen und drehte sich dann um. Sein silberner Plattenpanzer schimmerte – trotz einiger Beulen und Kratzer - nass in der Finsternis. Er hatte die heilige Hellebarde, die er nicht mehr führen wollte, über seine Schulter gelegt. Rötlich glänzte der kostbare, makellose Rubin im Sockel seines rechten Auges. „Schaut Neire, eine Höhle. Irgendwo aus der Ferne höre ich ein Summen.“ Für einen kurzen Moment lauschte der Priester der Schatten und Feuer und sein Blick glitt in die Dunkelheit. Neire war hinter Bargh geschritten; Gundaruk und Halbohr waren ihnen in einigem Abstand gefolgt. Vor ihnen tat sich eine große Höhle auf. Lange Tropfsteinzapfen ragten hier und dort aus dem Dunkel hinab. Als ob sie ihre Gegenstücke suchten, die vom Boden der Höhle aufragten; doch nirgends trafen sich die alten Formationen, zu groß war die unterirdische Kammer im Stein. Die Streiter traten vorsichtig an den Eingang heran. Sie sahen kein Ende der Höhle. Neben dem leisen Summen von Insekten hörten sie ein Tropfen und ein durch den Stein gedämpftes Rinnen von Wasser. Neire schritt jetzt an die Seite von Bargh und deutete in die Dunkelheit. Das Fleisch seines linken Armes war grauenvoll verbrannt und durchzogen von tiefen Rissen und Furchen. In der Dunkelheit schimmerte es in ähnlicher Konsistenz wie zu Basalt erkalteter flüssiger Stein. „Seht, Bargh… dort, Leiber. Tote Spinnen.“ Gundaruk und Halbohr waren bereits zu ihnen aufgeschlossen und auch sie konnten das Knäuel von Leichnamen erkennen. „Bleibt ihr hier, ich werde mir das anschauen.“ Die Stimme von Halbohr war leise, aber klang entschlossen. Die muskulöse, gedrungene Gestalt des elfischen Söldners schlüpfte mit erstaunlicher Geschicklichkeit an ihnen vorbei und über den felsigen Untergrund. Die Wunden der Kälte, die die braune Flechte ihm zugefügt hatte, hatten kleine Blasen auf seiner Haut geworfen, die hier und dort schon aufgeplatzt waren. Doch auch wenn Halbohr den Schmerz spürte, er ließ es sich nicht anmerken. Er schlich vorsichtig zu den Körpern der monströsen Tiere. Die meisten der toten Riesenspinnen lagen auf dem Rücken und waren ineinander verschlungen. Es sah so aus, als hätten sie gegeneinander gekämpft; acht Exemplare an der Zahl. Er konnte keine weiteren Spuren, keine Ursache für den Kampf feststellen. Doch er vermutete, dass sie aus den oberen Höhlen stammten. Hier gab es nichts mehr zu entdecken. Er erhob sich und schritt vorsichtig zur Wand zurück, um den Rest der Höhle zu erkunden. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie die große, unübersehbare Gestalt aus dem Eingang hervortrat und sich ihm näherte. Er sah Gundaruks grünlich funkelnde Augen in der Dunkelheit. Der Riese, der ihn um fast das doppelte seiner Größe überrage, trug den silbernen Speer, den er dem toten Loec genommen hatte. Er hatte ihn zu seinem Eigentum gemacht und das gestickte Band mit den goldenen Runen um den Schaft gewickelt. Bei jedem Schritt stützte sich Gundaruk auf den Speer wie auf einen Gehstock, was ein wiederhallendes Geräusch durch die Höhle warf. Halbohr wollte sich gerade umdrehen und Gundaruk ermahnen leise zu sein, da sah er es vor sich aufragen. Ein großes obsidianernes Portal - mehrere Schritte breit und hoch. In das Felsgestein eingelassen, war es verziert von geschwungenen goldenen Runen. Gebannt näherte er sich Schritt für Schritt. Das hatte er nicht erwartet. Der Kontrast von schwarzer Steinkunst zum natürlichen Felsgestein warf einen Bann über ihn; güldene Rätsel der Runen lockten ihn näher. Hinter sich hörte er auch die schweren Schritte von Gundaruk langsamer werden. Das Pochen des Speeres auf dem Stein verstummte. Gemeinsam verharrten sie vor dem Portal und betrachteten die Runen. Kaum bemerkten sie, dass das Summen der Insekten lauter und lauter wurde.
Neire und Bargh hatten sich zu den Leichnamen der Spinnen begeben und betrachteten das Knäuel der toten Körper. „Bargh, wieso sind sie tot? Wieso liegen sie hier?“ Neire, hielt noch immer seinen Degen in der rechten Hand. Die gewellte Klinge blitzte auf in der Dunkelheit. Ein rötlicher Schimmer lag in seinen Augen, als er den Kopf querlegte und nachdachte. Bargh hingegen grummelte und kniete sich in seiner schweren Rüstung hernieder. Er zog seinen Dolch vom Gürtel und begann ihn wie einen Hebel am chitinernen Hinterleib anzusetzen. Er gab ein helles Knacken als er den Panzer des Monsters aufhebelte – ein Knacken, das etwas zu hell war. „Seht, Neire, sie sind von innen vertrocknet. Als ob…“ Bargh dachte nach, doch der ehemalige Paladin mit dem von Brandnarben gezeichneten Gesicht blieb stumm. Schließlich richtete er sich auf, schulterte wieder die Hellebarde und sprach zu Neire: „Ist das der Weg den wir schreiten müssen Neire? Werden wir das Feuer in die Tiefe bringen, um die obere Welt von unten aus anzuzünden?“ Neire, wie aus den Gedanken gerissen, betrachtete Bargh. Er dachte zurück an Nebelheim, an die drohende Gefahr. „Wir müssen Nebelheim retten. Das ist unser Weg Bargh. Das Feuer alleine, wie auch die Schatten, bergen nicht die Geheimnisse unserer Göttin.“ Er dachte an den Dualismus. Nebelheim, das im glühenden Zwielicht in einem ewigen Zweikampf lag. Er dachte an alte Bücher, die er einst gelesen hatte. „Schatten alleine löschen alles Sichtbare. Sie führen zum absoluten Stillstand. Feuer alleine zerstört alles Lebende, es löscht alles Gewesene aus. Die Geheimnisse von Jiarlirae liegen im Chaos. Chaos ist Leben und Zerstörung. Und Jiarlirae - Sie ist mehr. Mehr als die Summe aller ihrer Teile.“ Neire sah, wie Bargh an seinen Lippen hing. Er fuhr fort mit seiner Rede und das Lispeln seiner gespaltenen Zunge verstärkte sich. „Tief unter dem Meer, Bargh, liegen absolute Schatten, ein Reich von Düsternis und Kälte. Nur durch das Feuer aus der Erde, in einem Tanz von glühendem Gestein und Dunkelheit, wird das Leben, werden Inseln geboren. Sie werden geboren um vielleicht wieder zerstört zu werden. Dieses sind die Geheimnisse von Feuer und Schatten, sie werden unseren Weg begleiten.“ Er sah wie Bargh ihn anlächelte, ja fast gerührt war von seiner Rede. „Neire, ihr sprecht wahrlich tiefe Worte. Ich bitte euch, lasst mich an eurer Weisheit teilhaben.“ Sie hätten sich weiterunterhalten, sie hätten über die Geheimnisse von Feuer und Schatten gerätselt und der größten Göttin unter den Göttern gehuldigt, hätten sie nicht das Summen gehört und den Lichtschein bemerkt, der von einem Teil der Höhle ausging.
Zuerst war das Summen lauter geworden und sie hatten hier und dort ein Flattern gehört. Dann hatten sie die Motten gesehen, die sich in chaotischen Flugmustern auf sie hinabsenkten. Näher und näher waren ihnen die riesenhaften Insekten gekommen. Sie hatten die Größe von Fledermäusen gehabt und zuerst schienen sie sie spielend zu umkreisen. Zwei wabernde Trauben hatten sich gebildet. Eine um Gundaruk und Halbohr, die am Portal standen. Eine weitere um Bargh und Neire, die sich dem Portal näherten. Neire schritt hinter Bargh und duckte sich immer wieder unter dem Summen hinweg. Er war jetzt so nah am Portal, dass er die goldenen Schriftzeichen lesen konnte. Es war allerdings keine Sprache, die er lesen konnte. Eher ein Gesamtkunstwerk mit Einflüssen der Tiefensprache, Dunkelelfisch und der Drachensprache. Er war sich sicher, dass es eine Warnung war. Gefahr und Tod. Nicht so sicher war er sich bei einigen Runen, die Jäger oder Gejagter bedeuten konnten. Gerade wollte er seine Stimme erheben, als die ersten Insekten um sie herum begannen rötlich zu glühen. Das Geräusch des Flatterns wurde nochmals stärker. Gebannt blickten sie alle auf das Schauspiel, auf die rötlich glühenden Flügel in der Dunkelheit. Doch irgendetwas passierte mit ihrem Geist. Als ob sie in eine Art Trance geraten würden, sobald sie den Bewegungen der Motten folgten. Neire lächelte und schüttelte den Dämmerzustand ab. Er dachte an die Muster im inneren Auge, die er so lange betrachtet hatte. Jedoch sah er zu seinem Erschrecken, dass Bargh wie gebannt auf die Kreaturen blickte. Schaum bildete sich vor seinem Mund und er erhob das Langschwert wie zu einem Angriff. Neire wich instinktiv vor seinem Begleiter zurück und glitt in die Dunkelheit. Derweil war um Gundaruk und Halbohr bereits ein Kampf entbrannt. Wieder und wieder stießen die beiden nach den glühenden Insekten, die um sie herum wuselten. Fast jeder Stich mit dem Speer und dem Dolch tötete eines der Wesen, doch stets nahm eine neue Kreatur die Position der Getöteten ein. Zu ihrem Grauen sahen sie, dass das Portal neben ihnen sich begann zu öffnen. Eine Zeitlang blickten sie in die Dunkelheit und kämpften weiter, doch dann trat eine Kreatur hervor. Eine humanoide Gestalt mit langen Armen und grauer Haut. Gekleidet war sie in eine zerfetzte Hose. Die Hände wären klauenartig und der Schädel eingeschlagen. Unmöglich konnte die Gestalt, die etwas kleiner als Gundaruk war, noch am Leben sein. Auch schienen bei näherer Betrachtung einzelne Körperteile wie zusammengewürfelt; so als ob sie verschiedenen Leichnamen entnommen worden wären und zu dieser Kreatur zusammengesetzt.
Gundaruk keuchte und stach wieder in die Dunkelheit. Er versuchte nicht mehr in das rötliche Licht zu blicken, das von den Flügeln der Höhlenmotten ausging. Sein Körper fühlte sich immer noch wie eingerostet an. Wie lange habe ich wirklich in diesem Grab gelegen? Doch er hatte keine Zeit zum Nachdenken. Er blickte in Richtung der Gestalt, die sich jetzt vor dem geöffneten Portal aufgebaut hatte. Dann hörte er das Krachen von Metall. Gundaruk sah wie Bargh mit der Gestalt zusammengestoßen war. Bargh war in einen Kampfrausch gefallen und Schaum rann von seinem Mund hinab. Sein Langschwert war tief in den Hals der Kreatur gefahren. Einem Menschen hätte er wohl den Kopf abgehackt. Doch Gundaruk sah keine Wirkung. Wie in Zeitlupe hob die Gestalt ihre Fäuste und ließ sie auf Bargh herunterfahren. Das unschöne Geräusch einer ausgekugelten Schulter war zu hören und das Knirschen von Metall. Gundaruk stach weiter nach der nächsten Motte. Dann hörte er die Luft neben ihm explodieren. Zwei Kugeln aus glühendem Feuer hatten das humanoide Monster getroffen. Als der Lichtschein sich legte, sah Gundaruk, dass die Gestalt immer noch stand und Flammen auf ihrem Körper brannten. Sie schien unbeeindruckt zu sein, keinen Schmerz zu empfinden. Gundaruk blickte hinter sich und sah Neire auf sie zukommen. In seiner linken Hand brannte eine Flamme aus tanzendem Schattenmagma und seine Augen glühten rötlich. Sein liebliches Gesicht war jetzt von Zorn erfüllt und er rief gegen das Summen der Insekten an: „Tötet es, tötet das Monster.“ Als Gundaruk den priesterlichen Gesang eines disharmonischen Chorales aus Neires Mund hörte, spürte er den Mut in ihm aufkommen. Er erkannte die Todesgefahr, die von der Kreatur ausging. Sie oder ich. Ich muss schneller sein. Er näherte sich und sah, dass auch Halbohr ihm folgte. Mit all seiner Kraft stieß er den silbernen Speer in den Leib. Das Fleisch begann sich dunkel zu verfärben und platzte auf. Leichenwasser und gelber Eiter drangen aus der Kreatur hervor. Das Wesen drehte sich sofort zu ihm um und begann ihn anzugreifen. Gundaruk sah aus den Augenwinkeln, dass auch die Angriffe Halbohrs die Kreatur nicht verletzen konnten. Halbohr wich bereits zurück. Alles kam Gundaruk jetzt so langsam vor. Wie durch einen Nebel hörte er die hasserfüllte Stimme Neires. Der Jüngling schrie Halbohr hinter ihm an: „Ihr seid ein Feigling Halbohr, flieht ihr doch vor dem Kampf. Denkt an den Vertrag.“ Dann kam die rechte Faust des Wesens auf ihn hinab. Gundaruk versuchte auszuweichen und einen Angriff mit dem Speer auszuführen. Doch er war zu langsam. Er spürte wie ihm die Luft aus den Lungen wich, als die Faust ihn an der Seite traf. Er schnappte nach Luft und biss die Zähne zusammen. Der faulige Gestank des Monsters ließ ihn sich fast übergeben. Doch da war ein Widerstand, als er den Speer tiefer und tiefer in den Brustkorb stieß. Bis die silberne Spitze aus dem Rücken heraustrat. Das Wesen vor ihm begann zu zittern und auf die Knie herabzusinken.
Sie alle hatten keine Wahl gehabt. Sie mussten Bargh folgen. So waren sie dem Krieger Jiarliraes nachgeschritten, der wie in einer Art Trance durch das Portal gewandelt war. Nachdem Gundaruk in einem Zweikampf auf Leben und Tod das Monster niedergerungen hatte, waren plötzlich die rot schimmernden Motten verschwunden. Wie durch äußere Einflüsterung beschworen, hatte sich Bargh ruckartig in Richtung des Portals zugewendet. Jetzt folgten sie ihm in das, was dahinter war. Ein breiter Tunnel führte sie bereits einige Zeit hinab in die Tiefe. Sie versuchten auf Bargh einreden, doch er zeigte keine Reaktion. Irgendwann sahen sie die Wand aus Schatten vor ihnen aufragen. Der Tunnel, der hier zunehmend waagerecht wurde, war von der zwielichtigen Dunkelheit in der völligen Düsternis durchzogen. Hinter der Grenze der Schatten war die Umgebung nur schemenhaft zu durchblicken. Sie erahnten eine weitere Höhle, in der ein Thron stand. Es sah so aus, als ob eine Gestalt auf dem Thron sitzen würde, doch sie konnten weder Einzelheiten sehen, noch konnten sie erkennen ob die Gestalt auf dem Thron sich bewegte. Bargh war in den Bereich der Schatten hineingeschritten und hatte sich niedergekniet. Gundaruk, Halbohr und Neire blieben in einigem Abstand zu den Schatten stehen und beobachten Bargh. Er schien wie aus einem Traum zu erwachen. „Neire, wo bin ich? Was ist passiert?“ Einen kurzen Moment herrschte Stille, dann antwortete Neire. „Bargh, ihr seid hier hinabgegangen, wie benommen. Wir sind euch gefolgt. Kommt zu uns, tretet heraus aus den Schatten.“ In diesem Moment hörten sie alle die weibliche Stimme, die aus dem Gewölbe hallte. Sie sprach in der Sprache der Unterreiche, die nur Neire verstehen konnte. „Tretet herein in die Schatten oder ihr werdet gejagt.“ Neires Herz begann zu rasen, als er in die Schatten blickte. Er versuchte das Zittern seiner Hände so gut wie es ging zu verbergen, als er mit lispelnder Stimme antwortete: „Wer seid ihr, die ihr uns in die Schatten hineinbittet?“ Einen kurzen Moment herrschte Stille. Dann antwortete Bargh erneut: „Ich bin Bargh und ich bin mit Neire gekommen.“ Neire, flüsterte derweil leise Worte zu seinen Kameraden. „Sie will, dass wir in die Schatten schreiten.“ Dann hörten sie alle erneut die Stimme. Diesmal zitterte sie vor Zorn. „Tretet ein in die Schatten oder ihr werdet in Furcht davonlaufen.“
Jenseher:
Neire stand in dem breiten Gang aus obsidanernem Stein. Sie waren Bargh hierhin gefolgt. Der gefallene Paladin saß jetzt etwa zehn Schritt von ihnen entfernt in den Schatten. Er hatte sich niedergekniet und ließ seinen von Brandwunden bedeckten Kopf hängen. Sein Plattenpanzer schimmerte silbern in der Düsternis. Gerade war die zornige weibliche Stimme verhallt, die sie aufforderte in wabernde Wand aus Schatten zu treten. Für ihre übernatürlichen Augen, die auch die totale Dunkelheit dieser Höhlenwelt durchblicken konnten, war es so, als ob der Bereich vor ihnen in ein Zwielicht getaucht wäre. „Bargh, hört ihr mich. Sollen wir in die Schatten treten?“ Neire flüsterte die Worte in die Dunkelheit, doch er vernahm keine Reaktion von Bargh. Es war Halbohr, der dem jungen Priester Jiarliraes zunickte und den ersten Schritt in die Dunkelheit machte. Neire sah, dass im Blick des Elfen mit dem grobschlächtigen Gesicht Ratlosigkeit und Verwirrung zu lesen war. Doch auch eine innere Entschlossenheit. Das letzte was Neire von Halbohr sehen konnte, war sein zerrissener Filzmantel. Dann wurde auch dieser von der Dunkelheit verschluckt. Plötzlich war es unheimlich still im Tunnel. Neire blickte sich um. Er war jetzt allein und kam sich klein, verlassen und schwach vor. Ich will nicht gejagt werden, nicht gejagt werden wie ein verfluchter Chin’Shaar. Doch ich kann auch nicht fliehen; ich darf Bargh nicht zurücklassen. Die Gedanken warfen ihn in eine innere Unruhe und seine Hände begannen leicht an zu zittern. Doch auch die Neugier regte sich in ihm. Was wohl für Geheimnisse in den Schatten zu finden waren. Er musste handeln. Schließlich machte er den Schritt und glitt hinein in die Dunkelheit.
Einen kurzen Moment taumelte Halbohr, denn der Boden war aus purer Schwärze und schien aus anderer Konsistenz als der Stein des Tunnels zu sein. Er kam ihm vor, als würde er über einen glatten Spiegel schreiten. Als Halbohr Kontrolle über seine Schritte erlangt hatte, ging sein Blick nach vorne. Jetzt konnte er den Thron besser erkennen. Er sah, dass sich dort eine Gestalt in völliger Nacktheit räkelte. Die Frau die dort breitbeinig saß, hatte eine steingraue, unversehrte Haut und war schlank. Er konnte ihr Alter nicht abschätzen. Schneeweißes langes Haar fiel von ihrem Kopf und blaue Augen funkelten in der Dunkelheit. An den Thron gelehnt sah er einen kostbaren Bogen dunkelelfischer Machart, der mit einer Spinne am Griff verziert war. Halbohr blickte sich nach Neire um, den er durch den Schleier der Schatten sah. Der Jüngling wirkte verängstigt; sein liebliches Gesicht, eingerahmt von den langen, gold-blonden Locken, war in ein Grübeln verfallen. Halbohr konnte erkennen, dass Neire vor Anspannung zitterte. Doch jetzt machte er tatsächlich die Schritte nach vorne um schloss auf zu ihm. Als sie beide die Höhe von Bargh erreicht hatte hörten sie die Stimme der Frau, die lieblich und nicht aus einer bestimmten Richtung herkommend klang. Vielmehr hörte es sich an, als wäre die Stimme überall im Raum und um sie herum. „Ihr seid in mein Reich eingedrungen. Habt ihr mir Geschenke mitgebracht oder ist er euer Geschenk an mich?“ Halbohr sah wie sie auf Bargh zeigte, der noch immer wie benommen dort kniete. Er war sich nicht sicher wie er reagieren sollte und blickte zu Neire, der eine weite Verbeugung machte und antwortete.
Neire erinnerte sich zurück an die Zeit in der Bibliothek von Nebelheim. Er hatte Bücher über die dunkelelfische Kultur gelesen. Von Zeiten, in denen die Dunkelelfen Handel mit Nebelheim getrieben hatten, hatte er gehört. Er betrachtete die Gestalt vor sich und er war sich sicher schon einmal von ihr gehört zu haben. Vielmehr hatte er ein Portrait von ihr gesehen. Es musste sich hierbei um die Dunkelelfin Aria Prias handeln. Sie war einst eine grausame Herrscherin des Dunkelelfenreiches und als Gründerin mehrerer dunkelelfischer Häuser bekannt gewesen. Bereits vor etwa 800 Jahren trat ihr Name in Erscheinung. Neire erinnerte sich zudem an drei ihrer Titel: Erste Kaiserin, Geißel des Reiches und Gründerin der Häuser. In der jüngeren Zeit des Reiches sollte sie von der politischen Bühne ver¬schwunden sein und die Fäden aus dem Verborgenen gezogen haben. Auch war sie als Anhängerin der Göttin Lolth bekannt gewesen. Ihr Bogen war eine legendäre Waffe, die magische Pfeile aus verschiedenen Energieformen generieren konnte. Neire führte eine tiefe Verbeugung aus und lächelte, als er mit wohl überlegten Worten antwortete: „Große Herrscherin, wir sind unserem Kameraden hier hinabgefolgt. Uns erschien es so, als ob er von einer fremden Macht hierhin gerufen worden wäre.“ Als er seinen Kopf erhob, bemerkte Neire, dass auch sie ihn anlächelte und ihre Stimme erhob. „Ich sehe ihr wisset wie ihr mir begegnen sollt und auch macht ihr mich neugierig. Doch beantwortet meine Frage: Habt ihr mir Geschenke mitgebracht?“ Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Gerade suchte Neire nach einer Antwort, als Halbohr ihm zuvorkam: „Wir haben einige Dinge die euch interessieren könnten und wir könnten nützlich für euch sein, doch welche Geschenke begehrt ihr?“ Neire hörte ein Zischen als Antwort und sah wie die Kaiserin sich aufstellte und nach dem Bogen griff. „Ihr beginnt mich zu langweilen, Männchen; ihr stellt die falschen Fragen. Stärke ist die einzige zu respektierende Fähigkeit bei euch, einem Männchen. Und ich bin geneigt herauszufinden über welche Stärke ihr verfügt, wenn ich euch jage.“ Neire sah, dass sie Halbohr abfällig musterte, der ihrem Blick trotzig standhielt. Wut kam in Neire auf. Er kennt sich mit höfischen Sitten nicht aus und weiß anscheinend nicht, dass solche Fragen Herrscher in Verlegenheit bringen. Er sollte lieber schweigen. Dachte Neire und warf Halbohr ebenfalls einen verachtenden Blick zu. Jetzt musste er die Wogen glätten. Neire verbeugte sich abermals tief und sprach in seiner lispelnden, zischelnden Weise die Sprache der Unterreiche. „Große Herrscherin, ich komme von weit her. Aus Nebelheim. Vielleicht interessieren euch die jüngeren Entwicklungen des Hauses von Duorg und deren Zöglingen Rowa und Raxira. Und da war noch ein Amulett; eine Insignie des Hauses.“ Die Miene der Kaiserin helle sich wieder etwas auf und sie ließ den Bogen sinken. „Nebelheim, so… Rowa, Raxira und Raxor. Armselige Kreaturen, die einen lächerlichen Anspruch auf den Vorsitz ihres schwachen Hauses erheben. Was wisst ihr über sie, was wisst ihr über das Spinnenamulett?“ Neire bemerkte, dass Aria Prias ihn anlächelte. Er hatte anscheinend ihre Neugier geweckt. Abermals antworte er in der Sprache der Unterreiche. „Wir sind einige Zeit mit Rowa gereist. Jetzt ist sie tot. Sie wurde ermordet von ihrer Schwester Raxira. Wir haben gesehen wie sie von durchsichtigen Spinnen zerstückelt wurde. Das Amulett hat Raxira an sich genommen und sie verschwand, wie sie gekommen war – plötzlich.“ Neire sah, dass Aria seinen Worten lauschte. Bevor sie etwas erwidern konnte, setzte er ein weiteres Mal an. „Große Herrscherin, ihr spracht von der Jagd. Wir würden es vorziehen nicht gejagt zu werden. Lieber würden wir selber jagen.“ Neire hörte ein Lachen der Dunkelelfin auf seine Ansprache hin. „So… ihr würdet lieber selber jagen… Nun, dann soll es so sein. Ihr werdet für mich jagen oder ich werde euch jagen. Bringt mir das Amulett der Mutter der Spinnen. Findet Raxira und tötet sie. Bringt mir zudem den Schädel aus purem Gold, ein Relikt aus einer alten Zeit und ihr werdet eine Belohnung von mir erhalten.“ Neire hörte die Worte, die mit einer befehlenden Bestimmtheit gesprochen wurde. Er wusste, dass sie keine Widerworte dulden würde. „Große Herrscherin, wo sollen wir suchen? Wie sollen wir Raxira finden? Sie verschwand mit ihren durchsichtigen Spinnen auf geisterhafte Weise.“ Abermals lachte Aria, bevor sie antwortete. „Ja, Raxira und ihre kleinen Haustiere. Versucht es in der alten Festung Faust. Ich kann es mir vorstellen, dass sie sich dort aufhält. Die Feste liegt in nordöstlicher Richtung von hier. Etwa 50 Meilen sind es bis dort. In den oberen Gemäuern sollen sich niedere Kreaturen eingenistet haben; doch Faust verfügt über ein Netz von unterirdischen Verliesen, Tunneln und Gängen. Dringt dort ein und beginnt eure Suche dort.“ Neire nickte und blickte in Richtung Halbohr. Anscheinend konnte auch der elfische Söldner ihre Worte verstehen. Doch irgendetwas irritierte Neire an Halbohrs Blick. Die grünen elfischen Augen musterten starrend einen bestimmten Bereich hinter dem Thron. Als Neire antworten wollte, sprach die Kaiserin abermals zu ihnen. Diesmal hatte ihre Stimme einen herausfordernden Ton. „Ihr seid an Geheimnissen interessiert. So sehet was sich unter den Schatten verbirgt.“ Neire bemerkte augenblicklich, wie der Schatten des Bodens begann zu verschwinden. Als würden sie durch Kristallglas blicken, sahen sie unter sich eine gewaltige Höhle aufragen, in denen die Ruinen einer untergegangen Dunkelelfenstadt lagen. Feenhafte magische Lichter, sogenannte Dunkelfeuer, brannten wie immerwährende Elmsflammen von den Überresten. Ein markantes Gebäude schien immer noch intakt zu sein. War dies der Tempel der Spinnengöttin? War das Ched Vurbal? Neire konnte seinen Augen nicht trauen und erhob seine Stimme. „Beeindruckend, große Herrscherin, sind das die Ruinen von Ched Vurbal?“ Die Antwort von Aria Prias kam sofort und sie verneinte seine Frage nicht. „Woher kennt ihr diesen Namen? Ihr überrascht mich erneut. Aber genug des Ganzen, geht jetzt bevor ich meine Meinung ändere. Verlasst den Tunnel zur rechten Seite durch die Höhle und nehmt den ersten Gang der hinausführt. Irgendwann gelangt ihr in eine Höhle mit einer Spalte. Versucht nicht das Gas einzuatmen, das dort aufsteigt. Verlasst diese Höhle durch den einzigen Ausgang und gelangt durch einen Tunnel in ein Gewölbe mit einer Steele. Dort gibt es zwei Möglichkeiten. Durch einen offensichtlichen Gang gelangt ihr an die Oberfläche durch ein altes Grab. Ein verborgener Gang führt zu einer kleinen verlassenen Feste. Geht!“ Neire verbeugte sich ein weiteres Mal und sprach: „Wir werden euch nicht enttäuschen und wir werden zurückkehren. Große Herrscherin, ihr seid bestimmt unsterblich; ich würde also annehmen, dass Zeit keine Rolle für euch spielt?“ Arias Stimme klang kraftvoll, nicht zornig, als sie antwortete. „Lasst euch nicht zu viel Zeit. Die Jäger seid jetzt ihr.“ Neire nickte, verbeugte sich ein weiteres Mal und trat durch die Schatten zurück. Er sah auch, dass Bargh und Halbohr ihm folgten. Seine Gedanken galten jedoch Aria Prias und ihrem Dasein über den Ruinen von Ched Vurbal. Anscheinend beobachtete sie ihre Stadt und den Tempel von oben. Würde sie Eindringlinge jagen, die die Ruinen oder den Tempel von Ched Vurbal betreten? Kaum hörte er ihre höhnischen Worte nachhallen: „Die Frauen taten was sie konnten; die Männchen litten was sie mussten.“
Halbohr lauschte den Gebeten von Neire und Bargh. Sie hatten die Behausung von Aria Prias verlassen und waren dem Gang aus der großen Höhle gefolgt. An einer Quelle im Stein hatten sie eine kleine Rast eingelegt und Neire hatte einige Zeit meditiert. Neire hatte die Schulter von Bargh eingerenkt und die Schreie des Kriegers von Jiarlirae waren im Tunnel erschallt. Auch hatte Neire sich den schweren Wunden angenommen, die das seltsame Wesen Bargh im Kampf zugefügt hatte. Jetzt konnte Halbohr hören wie sie ihre Gebete beendeten und Bargh seine Stimme erhob. „Neire, was ist passiert? Ich kann mich an nichts erinnern. Nur an eine Leere. Und da war eine Frau mit schwarzer Haut und weißem Haar, die meinen Geist quälte. Eine verfluchte dunkelelfische Hexe.“ Neire sah Bargh mit großen Augen an. „Ja, ihr Name ist Aria Prias. Sie hat uns erniedrigt und jetzt sollen wir für sie arbeiten. Sie wird dafür mit ihrem Leben bezahlen; sie wird brennen und wir werden ihr Gehirn essen.“ Halbohr sah wie Bargh Neire verwundert anblickte. „Ihr Gehirn essen? Wird es uns irgendwelche Kräfte geben?“ „Ich weiß es nicht Bargh. In Nebelheim waren Gehirne eine Delikatesse. Chin’Shaar Gehirn gab es auf den höchsten Festen.“ Halbohr sah, wie Neire bei den Worten wehleidig in die Ferne blickte. „Erzählt mir mehr Neire, wer waren diese Chin’Shaar?“ Bargh war anscheinend fasziniert von den Worten Neires. „Es sind Verfluchte, eine Rasse, halb Spinne, halb Mensch. Vierarmig, hinterlistig und von den Herrschern von Nebelheim verbannt auf ewig in den Eishöhlen zu leben. Dort werden sie von den Kupfernen Kriegern der Stadt gejagt.“ Halbohr bemerkte die Gier nach Wissen in den Augen Barghs. „Erzählt mir mehr Neire. Wer sind diese Kupfernen Krieger?“ Halbohr sah, wie Neire seinen Kopf in seine Richtung drehte während er sprach. „Alles zu seiner Zeit Bargh. Zuerst müssen wir unseren Weg hier hinausfinden. Halbohr wird uns führen.“ Halbohr nickte und erwiderte. „Lasst mich ein Stück vorschleichen und folgt mir.“ So glitt er in die Dunkelheit. Hinter sich hörte er immer wieder die Stimmen von Bargh und von Neire.
Eine Zeit lang waren sie dem Tunnel gefolgt, der sich tatsächlich in eine Höhle öffnete, in der sie eine dünne Felsspalte aufragen sahen. Gas stieg dort auf und die Luft roch nach Schwefel. Nach kurzer Beratung durchquerten sie die Höhle und hielten dabei die Luft an. Jedoch entging den wachsamen Augen Halbohrs nicht die Türe, die an der rechten Wand der Höhle im Stein verborgen war. „Neire, Bargh, ich habe dort eine Türe im Felsen gesehen. Sollen wir sie untersuchen?“ Die Miene Neires hellte sich auf und Halbohr konnte die Neugier sehen, als er antwortete. „Ihr habt wachsame Augen Halbohr. Ja, lasst uns schauen, was sich hinter dieser Türe verbirgt. Und… Halbohr, haben eure wachsamen Augen etwas Besonderes im Gemach von Aria Prias entdeckt?“ Halbohr nickte tatsächlich. „Ja, dort war etwas in den Schatten. Ein reptilienartiges Auge und Schuppen habe ich gesehen. Von gewaltiger Größe, wie die eines Drachen.“ Bei diesen Worten horchte Neire auf. Ein Drachen und eine dunkelelfische Kaiserin. Wo hatte sie das Schicksal hingeführt? Neire dachte nach. Er hatte von verschieden Drachen gehört, die im großen Krieg auf der Seite der Dunkelelfen gekämpft hatten. Von farbigen Drachen und von Tiefen- sowie Schattendrachen hatte er gehört. Doch von einem Drachen und Aria Prias hatte er nichts gehört. So entschlossen sie sich die Höhle zu durchqueren und die Türe zu öffnen. Abermals hielten sie die Luft an und Halbohr führte sie an der Spalte vorbei. Tatsächlich konnten sie die Türe entriegeln und sahen dahinter einen engen, staubigen Gang liegen. Fünf Stufen führten hinab. Sie folgten dem Gang dahinter, der in das Felsgestein geschliffen worden war. Nach etwa fünf Dutzend Schritt endete dieser an einer weiteren Türe aus Stein. In der Mitte war ein Schlüsselloch zu erkennen, von dem freskenhafte Strahlen in einem Kreis hinfort führten. Neire hatte eine solche Symbolik schon einmal gesehen und brachte sie mit einem Gefängnis in Verbindung. „Tretet zurück, ich werde die Türe untersuchen“, hallten die Worte Halbohrs, als er begann seiner Dietriche hervorzuholen. Neire und Bargh traten zurück und Halbohr kniete sich an die Türe. Er bemerkte die Falle, die sich dort befand. Jetzt durfte er keine Fehler machen. Mit ruhigen Händen platzierte er die feinen Werkzeuge und begann den Mechanismus zu drehen. Augenblicklich hörte er das Schnappen von Bolzen im Stein und das schmatzende Saugen von Luft, die in das Innere eindrang.
Jenseher:
Halbohr hielt noch für einen kurzen Moment die Luft an. Das Schnappen der Bolzen im Stein der Türe war längst verklungen, da atmete er auf. Er konnte einen modrigen Geruch vernehmen, der von der anderen Seite der Türe in den schlanken, trockenen Gang gedrungen war. Weit hinter sich hörte er die Stimmen von Bargh, Gundaruk und Neire. Er war hier auf sich allein gestellt und ein weiteres Mal hatten ihn seine Fähigkeiten vor Schlimmerem bewahrt. Halbohr begann die Türe aufzudrücken. Es gab ein Knirschen, als die schwere Steinplatte sich langsam zu bewegen begann. Katzenhafte grünliche Augen lugten neugierig hervor und der bullige Söldner mit dem fettigen, schulterlangen Haaren begann seine beiden Dolche zu ziehen.
Die Gruppe um Bargh, Gundaruk und Neire hatte sich langsam durch den schmalen Tunnel bewegt. Besonders der hünenhafte Gundaruk hatte Probleme mit der Enge. Jetzt waren sie zur Türe gelangt und sahen, dass Halbohr bereits einige Schritte hindurch gegangen war. Sie blickten in eine sechseckige Halle, die in den Felsen geschliffen worden war. Der Staub und die abgestandene Luft ließen erahnen, dass hier längere Zeit keine Seele mehr weilte. Zur Linken konnten sie Erhöhungen aus Stein erkennen, auf denen Decken lagen; zur gegenüberliegenden Seite Regale und ein Sitztisch aus Stein. Doch vielmehr wurde ihr Blick auf eine kleine steinerne Säule gezogen, die aus vier unterschiedlich langen Segmenten bestand und in einer Halbkugel endete. Schriftzeichen waren auf dem unteren, längsten Segment zu sehen. Nach oben hin verjüngten sich die Segmente. Die Halle hatte keine Ausgänge und so traten sie ein und begannen mit der Durchsuchung.
„Die Türe habt ihr aufbekommen ohne gleich in Ohnmacht zu fallen. Aber die Schriftzeichen? Kennt ihr sie?“ War es eine innere Wut die Neire spürte, als er begann Halbohr zu sticheln? Vielleicht war es auch Neid auf dessen Fähigkeiten mit dem Dietrich. Ich habe ihm bereits zugeschaut, wie er Schlösser mit spielender Leichtigkeit knackt. Ich muss ihn weiter beobachten um mir seine Fähigkeiten anzueignen. Neire dachte an Nebelheim; was er mit solchen Fähigkeiten dort für Unfug hätte treiben können. Zugang zu den verschlossenen Bereichen der großen Bibliothek hätte er sich verschafft. Was hätte dort für Wissen gewartet… Neire bemerkte, dass Halbohr ihn zwar abfällig musterte, aber ihm nicht antwortete. „Ich werde euch auf die Sprünge helfen, auch wenn das eine klare Verletzung eures Vertrages ist. Denn eigentlich werdet ihr für solche Dienste nach Vertrag bezahlt.“ Neire hob in arrogante Miene sein Kinn und betrachtete Halbohr mit einem neckischen Lächeln. „Ah, Neire“, stöhnte Halbohr. „Ein Vertrag, den ihr verbrannt habt und dessen Wirksamkeit ihr angezweifelt habt. Wir können ihn gerne auflösen.“ Jetzt war es Halbohr, der ihn grimmig angrinste. Die Wut wuchs augenblicklich in Neire. Er stampfte mit einem Fuß auf den Boden, so dass er Staub aufwirbelte. Doch dann dachte er nach. Halbohr musste sich an den Vertrag halten, obwohl er durch das ewige Feuer von Jiarlirae bereits aufgelöst wurde. „Nein, Halbohr! Wir können den Vertrag nicht auflösen, weil er bereits durch die Flammen Jiarliraes aufgelöst wurde und nicht mehr existiert. Also haltet euch an euren Vertrag und dient mir so, wie es sich gehört!“ Neire sah, dass jetzt Halbohr vor Wut kochte und er lachte kindlich auf. Doch plötzlich war da der besänftigende Geruch von Wald und von Harz. Die Gestalt von Gundaruk drängte sich zwischen Neire und Halbohr. Gundaruk klopfte mehrfach mit dem Speer auf dem Boden, als er Worte der Beruhigung murmelte und beide auseinander drückte.
Nachdem sie den Raum abgesucht hatten, hatte Halbohr gehandelt. Einer musste es ja tun und er würde sich an den Vertrag halten. Umso größer sollte sein Anteil an den Schätzen sein. Er redet zu viel und handelt nicht; und wenn er handelt, dann sind es meist unsinnige, jugendliche oder grausame Taten, dachte Halbohr. Neire hatte eine Zeit lang von den dunkelelfischen Zahlen Null, Eins, Zwei und Drei gesprochen, die auf dem unteren Segment der Säule eingraviert waren. Zudem hatte sich der junge Priester ausgelassen über die ach so abscheulichen Rätsel dieser Kreaturen und dass Nebelheim über dem Ganzen stand. So hatte er, Halbohr, gehandelt und das zweite Segment von unten gedreht. Tatsächlich war es beweglich gewesen. Es hatte eine Erschütterung eines Mechanismus im Stein gegeben und ein Teil des Bodens war, zugunsten einer hinabführenden Treppe, in die Tiefe geglitten. Jetzt schritt Halbohr mit Gundaruk die Stufen hinab, während Neire und Bargh den oberen Bereich sicherten. Die Gedanken ließen ihn nicht los. Was wenn er wieder einen seiner kindlichen Streiche im Kopf hat? Was wenn er an einem weiteren Segment dreht? Halbohr kehrte sich um und flüsterte in die Dunkelheit hinauf: „Neire, wartet mit dem Drehen von anderen Segmenten. Wartet, bis wir euch ein Signal geben.“ Täuschte es ihn oder hörte er diesmal das schäbige Lachen von Bargh? Halbohr, der voraus ging, war jetzt am Fuße der Treppe angelangt und sah einen kleinen Gangabschnitt, zu dessen Rechten er eine Türe bemerkte. Auch dieses Portal war aus Stein und trug die Freske der Strahlen, in Form von radialen Linien. Kein Schlüsselloch war auf dieser Türe zu sehen, jedoch entging Halbohr nicht die gegenüberliegende Wand, gezeichnet von Kratzspuren; es sah so aus, als ob diese beweglich im Stein wäre. Gerade wollte er seine Stimme erheben, da hörte er erneut das Knirschen von Stein und sah, wie sich die schwere Türe vor ihm wie von Geisterhand öffnete. Die Wut stieg in weiteres Mal in Halbohr auf. Kann der Junge nicht einmal auf mich hören? Oder ist es Bargh gewesen? Ich habe sein verrücktes Lachen gehört. Es machte keinen Unterschied. Die beiden schienen unzertrennbar, nachdem Neire ihn zuerst ermordet und dann von den Toten zurückgeholt hatte. Das verbrannte Gesicht des Kriegers und der glühende rote Rubin im Auge von Bargh bereite Halbohr schon seit längerem Unbehagen. Doch Bargh konnte sich wohl aufgrund seiner damaligen Trunkenheit nicht an seine Ermordung erinnern.
Sie waren danach vorsichtig weitergeschritten und hatten hinter der geöffneten Türe eine karge Zelle entdeckt. Die Wände waren von Kratzspuren überzogen gewesen und in einer Ecke lag der skelettierte Leib einer großen Schlange mit einem menschlichen Schädel. Es hatte so ausgesehen, als ob die Kreatur schon seit Jahrhunderten hier unberührt liegen würde. Gundaruk hatte die Knochen durchsucht und ein Futteral mit einer Schriftrolle fremder arkaner Symbole, drei Tränke in unterschiedlichen Farben und eine kleine Kiste mit einer Kristallkugel gefunden. Gundaruk und Halbohr hatten sich dann kurz mit Bargh und Neire ausgetauscht, um zu erfahren, dass das dritte Segment auf die Eins bewegt worden war. Schließlich waren sie wieder hinabgestiegen und hatten Bargh und Neire gesagt, sie sollten das zweite Segment auf die zweite Position bewegen. Nach der Betätigung durch Bargh und Neire hatten Gundaruk und Halbohr abermals gesehen, dass sich die Wand vor ihnen in den Boden hinabbewegte. Sie waren einer weiteren Treppe in die Tiefe gefolgt. Jetzt standen sie in einem unteren ebenerdigen Gang und einer Türe zur Rechten. Die Freske der Strahlen, in Form von radialen Linien war auch dort zu sehen – kein Schlüsselloch. Gundaruk, der hier gebückt ging, erhob seine tiefe laute Stimme eines alten Akzentes: „Neire, Bargh… dreht das dritte Segment auf die zweite Position.“ Er lauschte auf eine Antwort, doch an deren Stelle hörte er das Knirschen von Stein und sah, dass auch diese Türe nach innen aufschwang. Dann ging alles ganz schnell. Sie bemerkten gerade noch die karge Zelle und die Kreatur die sich dort bewegte. Kaum hatten sie ihre Waffen erhoben, schon stürmte ein Krieger auf sie zu, der zwar von kleiner, schlanker Statur, doch umso mehr furchteinflößend war. Die Gestalt vor ihnen war berüstet mit Ketten und Panzer, mit Säbel und Picke. Unmöglich konnte sie noch leben. Die linke Schädelhälfte war eingeschlagen und Augen glühten wie aus weißlichem Eis in der Dunkelheit. Halbohr stand an der Türe, als die Gestalt bereits mit dem Säbel auf ihn einstach. Blut sprudelte aus seiner rechten Schulter auf, doch er versuchte ihr den Weg zu blockieren und schrie: „Neire, schließt die Türe. Dreht das Segment zurück.“ Tatsächlich ging einen kurzen Moment später ein Rucken durch die Türe. Der Angriff mit der Picke krachte funkensprühend gegen die Steinwand und die Gestalt verlor das Gleichgewicht. Sie wurde bereits im Angriff von der Türe erfasst und im Fallen über den Boden nach vorne gedrückt. Halbohr und Gundaruk nutzten den Vorteil aus und stachen mehrfach mit ihren Waffen auf die Kreatur ein. Gerade unter Gundaruks mächtigen Angriffen splitterten mehrere Knochenstücke ab. Die Gestalt schien einen Augenblick wie gelähmt, unfähig sich unter dem Regen der Angriffe zu erheben. Doch dann erhob sie sich, stärker als zuvor. Sie sahen, dass das weißliche Glühen der Augen jetzt beißend für ihren Blick war. Gundaruk und Halbohr bereiteten sich auf das Schlimmste vor, doch plötzlich explodierte die Luft vor ihnen. Sie wurden geblendet von zwei Magma-artigen Geschossen schattenhafter Flammen, die in die Kreatur gefahren waren. Das Skelett der Gestalt begann von innen her zu brennen. Für einen kurzen Moment war die Hitze unerträglich. Dann hörten sie das Knacken und Knistern der flammenden Knochen als der skelettene Krieger vor ihnen zusammenbrach. Nur noch den Jubel von Bargh konnten sie vernehmen, der vor Neire niedergekniet war und bereits dessen Tat lobpreiste. Da war es wieder, das rötliche Funkeln in den Augen des Jünglings, dem Kind der ewigen Flamme. Sie hörten die lispelnde Stimme von Neire und den fremden Akzent: „Bargh, bringt mir seinen Leichnam.“ Es dauerte nicht lange, da hatte der große Krieger in dem silbernen Plattenpanzer den Befehl befolgt und Neire starrte auf die noch qualmenden Überreste. Er blickte zuerst Bargh, dann Gundaruk, dann Halbohr an: „Wie schwach sie doch sind“, sagte Neire, der durch die Strapazen der Reise abgenommen hatte und hagerer wirkte als zuvor. „Er trägt die Wappen des Hauses von Duorg und ein Herrschersymbol. Es ist Raxor, der Bruder von Rowa und Raxira. Jetzt habe ich zwei der Geschwister ermordet und Raxira wird die Nächste sein.“ Neire wandte sich Bargh zu und seine überhebliche Miene wandelte sich in ein freundliches Lächeln. „Nebelheim hat den Krieg gegen das Dunkelelfenreich gewonnen. Es war schon immer stärker und wärt ewiglich, doch es ist in Gefahr. Wir müssen weitersuchen, suchen nach den Schlüsseln in die brennende Düsternis.“
Halbohr stand vor der segmentierten Säule. Ja, er hatte die Macht des Feuers gespürt, als Neire die untote Kreatur vernichtet hatte. Das Kind der Flamme, wie er sich selbst nannte, war auf unheimliche Art und Weise stärker geworden. Als ob er Feuer- und Schattenmagie seiner Göttin nach Belieben kanalisieren könne. Doch bei aller Macht des Jungen. Das war zu viel, das konnte Halbohr sich nicht bieten lassen. Sie hatten nach dem Kampf das zweite Segment ein weiteres Mal gedreht – auf die dritte Position. Tatsächlich hatte sich eine neue, untere Treppe in die Tiefe geöffnet. Gundaruk und Halbohr waren hinabgeschritten und hatten eine Dritte dieser schlüssellochlosen Türen gefunden. Bevor sie unten ankamen, hatte Gundaruk bemerkt, dass er glaube, die Gefahr stiege an mit zunehmender Tiefe. Sie hatten dann unten gewartet, hatten geschrien und gerufen. Neire möge das dritte Segment weiterdrehen. Doch nichts war passiert. So war er, Halbohr, hinaufgeschlichen. Hier hatte er Bargh und Neire angetroffen. Beide saßen um ein kleines Feuer aus angezündeten Decken, sprachen ihre Gebete und waren selbst nicht ansprechbar. Ein weiteres Mal musste er handeln. Seine Hand berührte das dritte Segment, dass noch auf der zweiten Position stand. Dann sah er das vierte und letzte Segment, die Halbkugel, die immer noch auf Position Null ruhte. Was ist eigentlich seine Funktion? Ich sollte es ausprobieren. Was kann Gundaruk da unten schon passieren? Und wenn schon, dieser merkwürde Krieger kam aus einem Grab und scheut sich eine Seite zu ergreifen. Außerdem wollte er meinen Vertrag nicht unterschreiben. Halbohrs Hand glitt zum letzten, oberen Segment. Er begann augenblicklich die Halbkugel zu drehen: Eins… Zwei… Drei. Auf der dritten Position hörte ein entferntes Vibrieren im Stein und sah, zu seiner Bestürzung, dass sich das dritte Segment auf Position Drei mitdrehte. Zudem flimmerte neben ihm ein Bereich von Wand zu Wand für einen kurzen Moment in magisch, bläulichem Schimmer auf. Was hatte er getan?
Gundaruk stand vor der Türe in völliger Dunkelheit. Er stützte seinen großen Körper auf den Speer und dachte nach. Das Band der goldenen Runen gab ihm Zuversicht; Zuversicht trotz seiner aussichtslosen Lage. Werde ich mein Volk, werde ich meine Freunde, meine alten Kameraden wiedersehen? Wie viele hundert Jahre habe ich in diesem Grab gelegen? Immer wenn er sich umblickte, spürte er Angst und Erregung Adrenalin durch seinen Körper schießen lassen. Er blickte wieder auf das Runenband. Neire hatte etwas erzählt über die Kristallkugel. Der Junge, so seltsam er ihm auch vorkam, schien über große Weisheit und Schriftwissen zu verfügen. Er hatte gesagt, die Kristallkugel sei ein Objekt legendärer Macht. Ein Gegenstand, der von Königen und Kaisern besessen wurde. Ein Gegenstand, der sie in die Besessenheit getrieben hatte. Ein Gegenstand, mit dem man Raum und vielleicht sogar Zeit durchblicken könne. Die Gedanken ließen Gundaruk nicht mehr los. Vielleicht konnte er durch die Kugel in sein Land blicken, sein Volk sehen. Fels und See, Wald und Moor. Die Hallen und Haine meiner Ahnen. So sehr war er in Gedanken versunken, dass er aufschreckte. Er hörte das Knirschen von Stein und sah wie die Türe sich nach innen öffnete. Vor ihm gierte die Dunkelheit des Portals und seine Gedanken drehten sich um drei Sätze im Kreis: Wo ist Halbohr? Hat er mich hier zurückgelassen? Hat der elfische Söldner mich verraten?
Jenseher:
Das klackende Geräusch und das Vibrieren des Steines riss Neire aus seinem fast Trance-ähnlichem Zustand. Er richtete sich langsam auf und blickte sich um. Neben ihm kniete Bargh, der weiter die Verse ihres Gebetes an die große Göttin aufsagte. Der Krieger Jiarliraes war gekleidet in seinen silbern schimmernden Plattenpanzer, auf dem einige Scharten schwerer Schwerthiebe zu sehen waren. Neires Blick glitt unweigerlich an der Silhouette seines Gefährten und Dieners vorbei, als er sich umdrehte. Der Kopf des ehemaligen Paladins trug die jetzt verheilten, rötlich schimmernden Brandwunden Jiarliraes Feuer, die hier und dort sein ehemals volles Haar ausgedünnt hatten. Bargh hatte die Augen geschlossen und so war der rote Rubin, der sein rechtes Auge ersetzte, nicht zu sehen. Als Neire sich in Richtung der segmentierten Säule umgedreht hatte, sah er, dass Halbohr zu ihnen aufgestoßen war und gerade von der Säule abließ. Die Wut fuhr augenblicklich durch Neire, als er den elfischen Söldner betrachtete. Er widersetzt sich meinen Anweisungen und stört unser Gebet. Für viel weniger wurden Frevler in Nebelheim hingerichtet. Die Decken, die sie zuvor angezündet hatten, waren heruntergebrannt und warfen einen Schimmer von rötlicher Glut durch den von Rauch erfüllten sechseckigen Raum. Obwohl Neire von der Glut des Feuers hinfort blickte, spiegelte sich doch der rötliche Glanz in seinen Augen. Er zog seinen Degen mit der gewellten Klinge und dem schlangenverzierten Griff. Halbohr hatte ihm immer noch den Rücken zugedreht. Neire legte seinen Kopf quer und ein verrücktes, mordlustiges Lächeln war in seinem schönen Gesicht zu sehen. Er setzte den Degen zu einem Stich an und machte einen leisen Schritt in Richtung von Halbohr. In diesen Moment hörte er jedoch das Ächzen von Bargh und bemerkte, dass der Krieger sich begann aufzurichten. Neire ließ augenblicklich den Degen sinken, als sich Halbohr umdrehte: „Halbohr! Ihr seid zurückgekehrt von unten. Was habt ihr getan?“ Er sah, dass der Söldner einen Blick von Freude im Gesicht hatte. Vielleicht hat er die Funktion der Säule verstanden, doch das ändert nichts an seinem Frevel. „Wir hatten gerufen, ihr möget die Säule drehen Neire. Doch nichts ist passiert.“ Kurz nachdem Halbohr geantwortet hatte, war Bargh an seine Seite getreten. Neire blickte hinüber zu ihm und murmelte abfällig und in zischelnden Singsang. „Er ist ein Ungläubiger und er weiß nicht was Pietät ist.“ Kurz darauf drehte er sich wieder Halbohr zu. „Und Gundaruk? Wo ist er?“ Es dauerte nicht lange, bis Halbohr antwortete. „Er ist unten geblieben und bewacht die Türe.“ „Also traut ihr ihm, Halbohr?“ Neire sah, dass sich Halbohrs Miene veränderte und langsam wieder diesen indifferenten, militärisch-nichtssagenden Blick annahm. „Ich traue ihm genauso wenig, wie ich euch traue Neire.“ Neire spürte, dass ihn diese Worte zutiefst trafen. Habe ich ihm nicht bereits zweimal das Leben gerettet? Er sollte mir unterwürfig dienen, mir zujubeln. Er sollte beten zu Jiarlirae, beten für seine arme, schwache, für die ewige Verdammnis bestimmte Seele. Neire blickte Halbohr an und sprach jetzt langsam und eindringlich. „Habe ich euch nicht bereits zweimal das Leben gerettet? Alleine das verpflichtet euch schon mir zu trauen und zu dienen. Und Gundaruk, was hat er schon für euch getan?“ Er sah, dass seine Worte Halbohr erreichten, doch da war plötzlich die hünenhafte Gestalt von Gundaruk, die am Einstieg der hinabführenden Treppe auftauchte. Neire sah seine grünlich pulsierenden Augen in der Dunkelheit und hörte die Stimme in dem fremden, veralteten Akzent: „Kommt, schnell. Die untere Türe hat sich geöffnet.“
Sie hatten daraufhin alle ihre Waffen gezogen und waren in die Tiefe zurückgekehrt. Den oberen Raum hatten sie unbewacht gelassen. Stufe um Stufe waren sie vorsichtig hinabgeschritten. An jeder Ecke hatten sie gelauscht. Auf der Hut vor dem, was auch immer sie dort vielleicht freigelassen hatten. Doch es war ihnen nichts begegnet und als sie an der untersten Türe ankamen, sahen sie, dass diese weit geöffnet war. Dahinter führte eine steile Treppe hinab. In der Tiefe erahnten sie eine größere Halle, die sie von ihrer Position nicht einsehen hatten können. Halbohr hatte aus der Tiefe ein schweres rhythmisches Atmen gehört. Nach kurzer Beratung war Halbohr als erstes die Stufen hinabgeschlichen. Bargh und Neire sowie Gundaruk waren ihm schließlich gefolgt.
Halbohr stand am Fuße der Treppe und blickte in den grünlichen Nebel vor ihm. Der wabernde Dunst bedeckte den steinernen Boden des dunkelelfischen Gewölbes, das sich vor ihm auftat. Die Halle, vor langer Zeit in das Felsgestein geschliffen, hatte riesige Ausmaße. Sie war so groß, dass er sie nicht vollständig durchblicken konnte. In der Mitte sah er eine viereckige Konstruktion aus Metall- oder Steinplatten aufragen. Ähnlich einer Pyramide verjüngte sich das Ungetüm nach oben hin und endete in einer Plattform kurz unter der Decke der Halle. Dort sah Halbohr dunkle breite Metallrohre vom Gewölbe in das Konstrukt hineinführen. Außerdem waren den detailversessenen Augen des elfischen Söldners nicht die beiden Türen entgangen, von denen eine auf der Rechten und eine andere auf der Linken zu sehen war. Halbohr hatte den Boden vor sich abgetastet und war sich sicher, dass dort keine Falle auf ihn wartete. So befestigte er das Stück Filz seines Mantels als Atemmaske über seinem Mund und machte den ersten Schritt in die Halle hinein. Er bewegte sich auf das Konstrukt zu, in dessen Mitte er eine vieleckige Vertiefung sah, die er als Mechanismus für einen komplizierten Schlüssel vermutete. Angst bereitete ihm das tiefe Atmen, das er noch immer hörte. Es schien aus dem Inneren des Konstruktes zu kommen, wie auch das grünliche Gas, dass er durch einen faustbreiten Riss auf der rechten Seite der Konstruktion austreten sah. Halbohr begann vorsichtig die Vertiefung zu untersuchen, die sich tatsächlich als ein Schloss herausstellte. Die Komplexität des Mechanismus war beeindruckend. Eine Falle konnte er hier allerdings nicht finden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Gundaruk sich zu seiner Rechten und Neire und Bargh zu seiner Linken um das Konstrukt und an den Türen vorbeibewegten. Halbohr ließ von dem Schloss ab und folgte leise Gundaruk um die rechte Seite herum. Hinter dem Konstrukt war eine Rückwand der Halle zu erkennen. Gundaruk war bereits vorgeschritten und hatte sich mit Bargh und Neire vor einem mehrere Schritte hohen und breiten Portal getroffen, das in der Mitte der Wand zu sehen war. Trotz der fast unmenschlichen, abnormalen Größe von Gundaruk überragte das Portal den Speerkrieger etwa um das Doppelte. Halbohr schlich sich näher heran und sah, dass Neire mit dem vernarbten linken Arm auf das riesige Symbol deutete, dass über den beiden Türflügeln zu sehen war – eine silberne Spinne mit glühend blauen Augen. „Sehet, es ist das Hauswappen der Familie von Duorg. Es muss sich um ihren Kerker, um ihr Gefängnis handeln.“ Halbohr konnte erkennen wie die Hand von Neire in die verschiedenen Ecken des silbernen Musters zeigte. Erst jetzt sah er den Schimmer eines bläulichen, magischen Vorgangs, als ob er im Netz dieses Symbols verankert wäre. Er hörte Neire fortfahren: „Wahrscheinlich ist es eine magische Schutzbarriere, wie wir sie zuvor in dem oberen Raum gesehen haben. Die Duorgs, falls noch welche von ihnen übriggeblieben sind, möchten nicht, dass wir hier eintreten.“ Halbohr war mittlerweile zur Gruppe aufgeschlossen und sah, dass Bargh seine Stimme erhob. Es fiel ihm sofort auf als dieser begann zu sprechen. Ein leises Lispeln war auch von Bargh zu hören. Zudem bemerkten die feinen Augen von Halbohr, dass Blut aus den Mundwinkeln von Bargh lief. „Die Türen scheinen alle verschlossen, doch wir könnten versuchen das Wesen, das dort atmet zu töten. Wir könnten es durch den Riss angreifen.“ Halbohr konnte sehen, dass auch die Zunge von Bargh gespalten war. Anscheinend hatte er sich selbst verstümmelt und die Spitze zerbissen oder aufgeschnitten. Die Wunde schien noch frisch zu sein. „Bargh, wart ihr schon einmal fischen?“ Die seltsame Frage Gundaruks ließ Bargh und Neire aufhorchen. Halbohr fühlte, dass plötzlich irgendeine Art Anspannung um seine Gefährten war. „Was meint ihr Gundaruk? Fischen? Ja, als Kind war ich einmal fischen.“ Das konnte ja dann noch nicht so lange her gewesen sein, dachte Halbohr, als er den Krieger Jiarliraes betrachtete. Wie alt mochte Bargh wohl sein, 18, 19 Jahre vielleicht. Durch die Brandwunden im Gesicht sah er jetzt etwas älter aus. „Nun, dann solltet ihr ja wissen, dass man Fische nicht fängt, in dem man einfach blind ins Wasser sticht.“ Halbohr hörte die Antwort von Gundaruk und sah, dass Bargh und Gundaruk sich jetzt bedrohlich gegenüberstanden. „Ich habe einen Mechanismus gefunden, der es öffnen könnte.“ Halbohr wies mit seinem linken Dolch in Richtung des Konstruktes als er sprach. Er sah wie Neire zwischen den beiden hervorkam und ihn anlächelte. „Gut gemacht, Halbohr. Wir sollten jedoch bedacht vorgehen. Ich befürchte, dass dies mehr von diesem grünlichen Nebel freisetzen wird. Untersucht einmal meine Hand Gundaruk. Ich habe sie eben in den Nebel gehalten.“ Halbohr schaute jetzt zu wie Neire seine vernarbte linke Hand zu Gundaruk hinaufstreckte, der sie behutsam untersuchte. Es dauerte einige Zeit bis der Speerträger antwortete. „Neire, das sind die ersten Anzeichen einer leichten Verätzung. Das Gewebe beginnt abzusterben und es bilden sich weiße Stellen. Ähnlich wie bei einer Säure.“ Halbohr betrachtete weiter Neire, der anscheinend nachdachte. „Ich kann meine Göttin anrufen um euch vor Säure zu schützen. Doch es wird eine Zeit dauern. Lasst mich meine Vorbereitungen treffen, dann werde ich euch schützen und Halbohr kann den Mechanismus betätigen.“ Neire blickte jetzt auch in seine Richtung und Halbohr nickte. Auch wenn er nicht glaubte, dass der Segen der Göttin ihm helfen würde, so würde es ihm ja auch nicht schaden. Halbohr blieb in den Schatten zurück als der Rest der Gruppe sich in den Gang über der Treppe zurückzog. Er würde die Zeit nutzen um nach Fallen und geheimen Verstecken zu suchen. Er ahnte noch nicht, dass ihm der Segen von Jiarlirae das Leben retten sollte.
Neire hatte die Schutzzauber auf Halbohr, Gundaruk und Bargh gewirkt. Jetzt wiederholte er ein weiteres Mal die Worte und legte sich die linke Hand auf die Brust. Er spürte für einen kurzen Moment das Brennen von Feuer, das in seinen Körper eindrang. Wie der Schmerz bis in die Finger und Zehenspitzen lief. Dem Glühen, das von seiner Hand ausging, folgten Schatten, die sich über seinen Körper ausbreiteten. Er lugte in Richtung von Halbohr und sah, dass der elfische Söldner sich bereits an dem Mechanismus zu schaffen gemacht hatte. Jetzt musste er das Gebet sprechen, sollte es zu einem Kampf kommen oder nicht. Verloren wäre der Segen keinesfalls, den er hier entfesseln würde. Das Gebet würde diesen Ort reinigen. Die Macht Jiarliraes würde hier eindringen. Neire stimmte die Verse des liturgischen Gesanges an, so wie es ihn die Platinernen Priester gelehrt hatten. Er dachte dabei zurück an die Lehrstunden bei Mordin. An seine Aura der Weisheit, an seine schlangenhaften wachen und fordernden Augen. Wie er mit ihnen gesungen hatte – den Anwärtern, die alle Kinder der Flamme werden wollten. Für einen kurzen Moment fühlte er eine innere Wehmut, als er an diese Stunden zurückdachte. Er hatte Mordin immer als höheres Wesen bewundert und der Platinerne Priester hatte etwas Majestätisches gehabt: Die geschickte Anmut seiner Bewegungen; der drahtige menschliche Torso mit der schimmernden Rüstung, getragen von dem breiten Unterleib einer Schlange… Neire beendete den Zauber und die disharmonischen Klänge erfüllten die von Chlorgas geschwängerte Luft. Halbohr war noch an dem Mechanismus zu Gange, doch es war ein vielfarbiges Licht zu sehen, das aus der Öffnung des Schlüssellochs kam. Da war auch ein Rasseln von Metall, das lauter und lauter wurde. Tatsächlich begann sich das Konstrukt zu bewegen. Zuerst fing es langsam an, doch dann begannen einzelne Metallteile wie eine Lawine nach unten zu rutschen. Wie als ob geführt, verschwanden sie im Boden und machten den Blick frei – den Blick frei auf etwas Grauenvolles. Nein, er konnte seine Augen nicht davon lösen. Wie erstarrt stand Neire dort an seiner Wand und betrachtete die Kreatur, die sich hinter den Platten verborgen hatte. Augenblicklich wurde er an Nebelheim zurückerinnert. An das große Fest, an die Menschenschlange des wahren Blutes, die das neue Zeitalter einst einläuten sollte. Doch dies war keine Menschenschlange die er dort sah. Die Kreatur war falsch. Besiegt, gefoltert, verstümmelt und in Ketten gelegt. Sie konnte keine Menschenschlange sein, denn sie diente den Duorgs. Tränen liefen über seine Wangen hinab, als Neire das Wesen betrachtete. Der Drache schimmerte grünlich in der Dunkelheit. Elegant waren seine Schuppen anzusehen, doch er war abgemagert. Viel schlimmer noch. Schwanz und Flügel waren abgehackt und gewaltige schwarze Ketten mit Widerhaken besetzen Nägeln in seinen Körper getrieben worden. Die einst stolzen Zähne seines Mauls waren zur Hälfte zertrümmert und die Kreatur schien in ein dickes Rohr verbissen zu sein, das zur Decke hinaufführte. Doch nur auf den ersten Blick. Ketten hatten den Kopf der Kreatur so fixiert, dass sie ihn nicht von dem Rohr wegbewegen konnte. Augenblicklich wandelte sich die tiefe Bestürzung, die in der Erinnerung an die Menschenschlange begründet war, in Wut und Hass. Eine Schlange die sich unterjochen hat lassen. Ein unterlegenes, abscheuliches Gewürm. Ich werde dich töten, töten für den Ruhm der wahren Menschenschlange. Neire erhob seine zischelnde Stimme, die sich jetzt vor Wut fast überschlug: „Sehet, die falsche Schlange. Unterjocht und gebrochen. Sie dient nicht Nebelheim. Tötet sie, mordet im Namen Jiarliraes. Für den Ruhm von Ziansassith.“ Der Gesang des Gebets beflügelte seine Worte und er sah, dass sie angriffen. Bargh, Halbohr und Gundaruk. Doch die Kreatur, deren Augen milchig schimmerten und bereits vor langer Zeit ausgestochen waren, begann sich zu wehren. Tief bäumte sie ihren Körper auf und die Ketten klirrten. Dann stieß sie ihren totbringenden Atem aus. Eine Gaswolke, die den Raum wie eine Welle durchfloss und sich an den Wänden brach. Halbohr und Gundaruk waren mitten im Gas. Der göttliche Segen stand ihnen bei, doch Halbohr sank ohnmächtig zusammen in den grünlichen Schwaden. Gundaruk war noch auf den Beinen und kämpfte tapfer weiter. Dann beschwor Neire die Magie des Feuers, die Mächtigste, die er hatte - vergeblich. Die Luft explodierte um die Kreatur und vertrieb das Gas, aber der Drache schien immun zu sein gegen sein Feuer. Doch war da Bargh. Er schoss mit seiner Armbrust und der Bolzen bohrte sich durch das Auge tief in das Gehirn der Kreatur. Ohne großen Kampf und wildes Gezucke ging sie hernieder und hauchte ihr Leben aus. Als ob sie den Tod herbeigesehnt hätte. Neire jauchzte und frohlockte. Er lief augenblicklich zu Bargh, legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn an. Dann sprach er eines der heiligsten Gebete, welches er in Nebelheim erlernt hatte. Denn sie hatten heute etwas Großes vollbracht. Sie hatten die falsche Menschenschlange getötet:
Ziansassith war die Menschenschlange des wahren reinen Blutes. Er stieg hinab zur schwarzen Natter, Abbild unserer Göttin. Er war der treueste Anhänger Jiarliraes und gab sein Leben, damit Feuer und Schatten weiter existieren können. Feuer ist sein Reich, Schatten seine Seele. Vollendet seine Herrlichkeit, in seiner Form als Yeer’Yuen’Ti.
Neire sah, dass Bargh gerührt war von seiner Lobpreisung und er fuhr fort. „Bargh, heute ist ein großer Tag. Wir haben die falsche Menschenschlange getötet. Ihr habt sie getötet. Bargh. Ab heute seid ihr ein Drachentöter. Bargh, der Drachentöter.“
Bargh und Neire hatten eine Weile frohlockt in den sich auflösenden Schwaden des ätzenden Atems. Sie hatte auch gesehen, dass Gundaruk den immer noch bewusstlosen Halbohr nach oben trug, um ihn in dem sechseckigen Raum auf eines der steinernen Betten zu legen. Sie beide hatten ihm geholfen, den Körper des bulligen Elfen die steile Treppe hinaufzuziehen. Gundaruk wollte sich um Neires bezahlten Beschützer kümmern und er hatte ihnen aufgetragen, ihm eine Drachenschuppe mitzubringen. Jetzt war Gundaruk verschwunden und sie waren alleine mit dem Leichnam der Kreatur in der großen Halle. Nachdem sie den leblosen Körper abgesucht hatten, kletterte Neire auf den Kopf und seine Stimme hallte durch den unterirdischen Saal: „Bargh, schaut. Ich habe etwas gefunden.“ Er wartete bis Bargh an den massiven Kopf herangetreten war und zeigte auf das Auge. „Seht, ihr habt durch euren tödlichen Schuss in das Auge einen Zugang geöffnet.“ Ein Gefühl von Ekel überkam Neire, als er begann seine linke Hand in das Auge einzuführen. Das Innere war noch warm und roch nach Eiter. Er spürte Sehnen und Muskeln. Als er den Arm fast bis zum Ellenbogen in das Auge hineingesteckt hatte ertastete er das Gehirn der Kreatur. Doch die Substanz war nicht weich, wie er es kannte. Er griff zu und riss ein fast faustgroßes Stück hervor. Das Gewebe war auch nicht blutig, sondern grau und hatte den Gestank von Fäulnis inne. Der Geruch und der Anblick erzeugte einen leichten Würgereiz, doch Neire biss in die Substanz, kaute und würgte es hinunter. Dann reichte er den Rest lächelnd zu Bargh, hinab, der ihn beobachtet hatte. „Bargh, kostet von dem Gehirn der Kreatur. Wir haben sie besiegt und werden uns ihre Kräfte aneignen.“ Bargh nickte und fing an den Rest zu verzehren. Derweil hatte der Jüngling auf dem Kopf platzgenommen und blickte wohlwollend auf seinen Kameraden hinab. Natürlich glaubte Neire nicht, dass sie sich durch das Essen des Gehirns irgendwelche Kräfte dieser Kreatur aneignen würden. Doch es würde Bargh vorbereiten auf Nebelheim. Und es würde ihn entfremden – entfremden von seinem alten Leben. Die Vergangenheit musste für ihn ein für alle Mal unerreichbar sein. Jetzt war er ein Drachentöter, ein Krieger Jiarliraes, geküsst von der brennenden Düsternis.
Gundaruk zog den massiven Körper Halbohrs die Stufen hinauf. Er dachte nach. Wie Halbohr ihn in der Dunkelheit hatte warten lassen. Dann war ein Mechanismus betätigt worden, der die Tür geöffnet hatte. Hatte Halbohr in Kauf genommen, dass er dort unten alleine war. Hätte er ihn im Stich gelassen? Die Gedanken von Gundaruk kreisten nicht lange um das Erfahrene. Mit seinen Kameraden war er im Krieg gewesen. Doch verraten worden war er nie. Die Bilder des Krieges waren jetzt zurückgekehrt in seinem Kopf. Grauenvolle Wunden und Blut. Wie er Überlebende mit der Kraft der Natur geheilt hatte. Er hatte ihnen geholfen, doch einige hatten für immer Verstümmelungen behalten. Auch wenn Halbohr ihm seine Hilfe bis jetzt nicht gedankt hatte, wusste Gundaruk, dass er ihm jetzt helfen musste. Er kannte die Gedanken von Leistung und Gegenleistung nicht. Unter seinen Leuten hatte jeder ohne zu fragen für den anderen gehandelt. Gundaruk war mittlerweile in dem sechseckigen Eingangsraum angekommen und legte Halbohr behutsam auf eines der Steinbetten. Er bemerkte Verätzungen an Halbohrs exponierter Haut und den Atemwegen. Gundaruk holte einige getrocknete Blüten hervor, die er mit einer Handvoll Wasser einweichte. Dann rief er, zu den Göttern der Haine und der Quellen, der Eichen und der Buchen, dem ewigen Kreislauf der Natur. Er sah, dass die Blätter verwelkten als er Halbohr den Trank einflößte. Seine Magie wirkte und es kehrte Leben zurück in seinen Begleiter.
Eine Zeitlang hatte Gundaruk bei Halbohr gesessen und nachgedacht. Immer wieder war seine Hand in seine Tasche geglitten und hatte den glatten, kalten Kristall berührt. Doch er erinnerte sich an die Worte von Neire, der vor Verrücktheit und Besessenheit gewarnt hatte. Dann waren Bargh und Neire zurückgekehrt und hatten ihm die Schuppe gegeben, nach der er sie gefragt hatte. Lange hatte er das Stück des Leibes betrachtet und immer wieder in den Händen gedreht. Die Schuppe war so leicht, und doch härter als jeder Stahl… Halbohr war noch immer bewusstlos und so hatte er sich kurz mit Neire beraten. Sie hatten entschlossen eine Zeit in diesem Raum zu rasten. Bis es Halbohr besser ging. Gundaruk hatte die erste Wache übernommen. So lauschte er den Stimmen von Bargh und Neire, die zwischen drei Fackeln saßen und seltsame Verse beteten. Das Licht warf lange tanzende Schatten in den Raum und erhellte Neires nackten Oberkörper. Gundaruk starrte fasziniert auf den Jüngling und betrachtete den verbrannten linken Arm. Die Narbe Neires zog sich bis zum Oberarm. Dort funkelten drei rote Juwelen, als ob sie mit der Haut des Armes verwachsen wären. Gegenüber sah er den Feuerrubin in Barghs rechtem Auge schimmern. Gundaruk blickte abwechselnd zu seinen neuen Mitstreitern und dachte zurück an seine alten Kameraden. Er sehnte sie sich so herbei, die alte Zeit – seine Zeit.
Jenseher:
Halbohr ließ den Kopf hängen und zog röchelnd die Luft ein. Seine Lunge schmerzte. Es gab zudem ein rasselndes Geräusch, das er aus dem Inneren hören konnte. Der ätzende Atem der Kreatur hatte ihm zugesetzt. Doch in seinem Fiebertraum, der ihm während seiner Ohnmacht widerfahren war, hatte er auch das Gefühl von Hoffnung verspürt. Als ob er den Geruch von Laub und Harz vernommen hätte. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Er betrachtete das verätzte Fleisch seiner Hände und Arme. Die Haut war an einigen Stellen weiß geworden und begann bereits sich zu pellen. Er saß jetzt teilnahmslos dort und ein Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm breit. Wieder war es ein Kampf gewesen, der ihn fast das Leben gekostet hatte. Bevor er in Ohnmacht gefallen war, hatte er den Segen der seltsamen Chaosgöttin gespürt, ohne deren Beistand er vielleicht nicht mehr am Leben wäre. Konnte er wirklich den vertraglich zugesicherten Schutz leisten? Der Jüngling hatte ihm bereits mehrere Male das Leben gerettet. Als ob Neire seine Gedanken erlesen könne, hörte er plötzlich dessen Stimme: „Halbohr, ihr seht so traurig aus. Grübelt nicht über den Tod. Ihr hattet kein Glück heute. An einem anderen Tag wird es wieder anders aussehen.“ Er blickte auf und sah, dass Neire ihn freundschaftlich anlächelte. Doch irgendwie traute er den Worten nicht und vermutete einen bösen Spott. Als er jedoch keine weitere Reaktion des jungen Priesters sah, nickte er ihm freundlich zu. Neire erhob erneut die Stimme: „Ihr solltet vielleicht einen Witz erzählen Halbohr. Das wird euer Gemüt sicherlich aufheitern.“ Halbohr schwieg. Er kannte einige soldatische Scherze aus der vergangenen Zeit, doch diesen waren unangebracht hier und spiegelten nicht seine Laune wider. „Es gab eine Zeit, da habe ich ihnen die Kehlen aufgeschlitzt. Denen, die Witze machten.“ Erwiderte er barsch. Er hörte das helle Lachen von Neire. „Kehlen aufschlitzen, das ist der Witz, eure Freude. Das ist doch ein Anfang Halbohr!“ Er sah, dass auch Bargh sich jetzt ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens hörte er wieder die zischelnde Stimme fremder Intonation: „Wie wäre es hiermit? Ihr werdet Halbohr genannt, ja? Euch fehlt ein Ohr, ja? Wieso sollten andere mehr Ohren haben als ihr? Das ist doch ungerecht. Schneidet sie einfach ab Halbohr. Jedem, den ihr seht. Vielleicht eins, vielleicht zwei. Das ist doch viel besser als Kehlen aufzuschlitzen.“ Neire lachte jetzt mit seiner knabenhaften Stimme und Bargh stimmte ein. Auch Halbohr konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Junge hatte keine schlechten Ideen. Doch was sollte er dann mit den ganzen Ohren machen?
Sie hatten noch mehrere Tage gerastet in dem sechseckigen Raum. Die blaue Barriere hatte sie geschützt, doch gesehen hatten sie keine Kreatur. Wenn sie nicht geschlafen, gebetet oder meditiert hatten, hatten sie die wässrigen Pilze gegessen, von denen Bargh immer die doppelte Portion verschlang. Auch hatten sie sich unterhalten. Über dies und das und ihre Reise nach Grimmertal. Bargh hatte von einem Handelsposten berichtet, dessen Betreiber Rannos und Grimag waren. Als Bargh eine plötzliche Fieberkrankheit entwickelte, hatte ihn Neire mit der Kraft seiner Göttin geheilt. Dann waren sie aufgebrochen und hatten das dunkelelfische Gefängnis hinter sich gelassen. Ihr Weg führte sie nach der Beschreibung der Herrscherin durch die Tunnel der ewigen Dunkelheit. Nach stundenlangem Fußmarsch waren sie schließlich durch eine zerbrochene Türe in eine große unterirdische Halle geschlüpft, in deren Mitte sie die steinerne Steele sahen. Neben der zweiten doppelflügeligen Türe hatte Halbohr die Geheimtüre entdeckt, die nach der Aussage der Herrscherin zu einer kleineren Feste, mit Anschluss an die Oberwelt, führen sollte. Schließlich hatten sie sich für diesen Weg entschieden und die Geheimtüre und eine weitere Türe dahinter geöffnet. Jetzt standen sie am Eingang eines Raumes, aus dem ein sanftes mattes rötliches Licht hervordrang.
Neire betrachtete Halbohr, wie er geschickt in den Raum glitt, der sich vor ihm auftat. Schon zuvor hatte er die Bewegungen des Elfen studiert, als er mit seinen Dietrichen das Schloss der steinernen Türe geöffnet hatte. Der Raum war sechseckig in den Stein geschliffen und besaß einen gegenüberliegenden Ausgang. Einrichtung, wie Betten, Hocker, Tisch und Truhen, waren allesamt aus Stein. Sogar eine steinerne Wanne stand dort, in der Neire Wasser aufschimmern sah. Aber Neires Blick fokussierte sich auf den Bereich des rötlichen Glühens. Er sah dort eine kleine Feuerschale, in der drei brennende Kohlestücke lagen. Als er sich der Schale näherte, spürte er die wohlige Hitze, die von dort ausging. Seine Kameraden Bargh und Halbohr durchsuchten derweil den Raum. Neires Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Er erinnerte sich an Bereiche des Palastes von Nebelheim, die mit immerbrennendem Feuer versehen waren. War das eine ähnliche Magie? War sie göttlich? Er wurde erst aus den Gedanken gerissen, als Halbohr sich an der zweiten Türe zu schaffen machte. Noch immer dachte er daran Halbohr aufzumuntern. Vielleicht durch ein kleines Spiel. „Halbohr, lasst uns ein kleines Spiel spielen, eine Wette.“ Er sah, dass der elfische Söldner an der Tür kniete und sich jetzt zu ihm umdrehte. Neire holte eine Platinmünze hervor und schnippte sie in die Luft. „Um ein Platinstück… Wer die brennenden Kohlen länger in der Hand halten kann hat gewonnen.“ Neire bemerkte, dass Halbohr grinste. Mit überheblicher Stimme antwortete er. „Ich habe gesehen, dass das Feuer in euch ist. Wie sollte ich gegen euch gewinnen können?“ „Er hat Angst, Bargh. Angst ein kleines Spiel zu spielen.“ Neire dreht sich zu Bargh und lachte höhnisch. Dann nahm er ein Stück Kohle in seine linke, vernarbte Hand. Augenblicklich durchfuhr ihn ein Schmerz und er vernahm den Geruch von verbranntem Fleisch. Doch auch genoss er den Schmerz, denn es war ihm, als ob er diesen kontrollieren könnte. Dann warf er das Stück zu Halbohr. „Schnappt!“ Doch Halbohr machte keine Bewegung und die Kohle fiel auf den Boden. Der Söldner schien jedoch in Wallung zu kommen. Verärgert zog er einen seiner Dolche und warf diesen auf Neire. Kurz vor ihm prallte der Dolch auf den steinernen Boden und er versuchte ihn dort mit dem Fuß zu fixieren. Das gelang ihm nicht ganz. Die Klinge brach am Griff ab schlitterte durch den Raum. Den Griff hatte er unter seinem Stiefel fixiert. Neire bückte sich und zog den Griff hinauf. Er warf ihn Halbohr zu und sprach. „Hier Halbohr. Mein Teil der Wette ist erfüllt. Ihr schuldet mir ein Platinstück.“
Sie waren danach dem Tunnel gefolgt, der sie hinter der Tür aus dem Raum führte. Es war langsam bergan gegangen. Nach einiger Zeit waren sie dann an das Ende des Tunnels gekommen, an dem acht kleinere Löcher in schlankere Gänge mündeten. Der Geruch von Moder und Fäkalien war hier allgegenwärtig gewesen. Glücklicherweise hatten sie Spuren gefunden, die in einen der Gänge führten. Neire hatte nach Pflanzen und Pilzen gesucht und in einer Nische Grabmoos entdeckt. Eine Flechte, die das Verrotten von Leichen beschleunigte. Auch konnte aus Grabmoos ein Gift hergestellt werden, das die Blutung von Wunden förderte. Sie hatten das Grabmoos verstaut und waren den Gängen gefolgt, die nun steiler nach oben führten. An vielen Abzweigungen vorbei waren sie, den Spuren nach, an eine Engstelle gekommen, die sie nur mühevoll passieren konnten. Dann hatten sie die Spuren verloren. Doch der Tunnel vor ihnen wurde wieder breiter und war ebenerdig. Nichts war zu hören. Moos wuchs hier und dort und Unrat bedeckte den Boden. Der Gestank von Fäulnis und Fäkalien war überwältigend. Sie bissen die Zähne zusammen und traten ein in den noch unerforschten Bereich.
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