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[AD&D 2.5E] Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea

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Jenseher:
Das leiste Rauschen der Brandung war zu hören. Die Geräusche kamen von dort, wo der silberne Mond sich in den dunklen Wellen brach. Bargh und Neire waren bereits einige Zeit unterwegs. Sie hatten die Insel im Schatten des Waldes durchquert. Keine Geräusche von Tieren waren dort zu hören gewesen – nur das Zirpen von einigen Grillen und das Summen von Insekten. Während ihrer Wanderung hatten sie immer wieder nach Spuren oder Besonderheiten Ausschau gehalten, die die dunklen Felswände ihnen offenbaren könnten. Doch sie hatten nichts finden können. So war die Nacht, nach ihrer kurzen Ruhe und dem darauffolgenden Fußmarsch, fortgeschritten. Eine kühlere Luft strömte von den schroff aufragenden Felshängen aus dunklem Gestein und mischte sich mit dem Algen- und Salzgeruch des Meeres. Sie waren an eine Stelle gelangt, an der Waldboden und Bäume dem spröden Felsgestein wichen. Vorsichtig erklommen sie den kleinen Grad, der zur Rechten hinab ins Meer und zur Linken hinauf in die Dunkelheit der Wand führte. Es eröffnete sich ihnen der Blick in ein steiles Tal, das die Felswand durchschnitt. Im Mondlicht konnten sie das Innere des Vulkankraters aufragen sehen, in das das Tal sich zog. Am Meeresufer war ein Steg zu erkennen an dem einige kleine Boote lagen. In die Aushöhlung des Berges führte eine Art Pfad. Wie über Jahrzehnte oder Jahrhunderte ausgetrampelt und glattgeschliffen, sah der Weg aus. Er führte in den inneren Bereich des Kraters. In einen Bereich, in den die Felswände ihnen den Blick versperrten.

Neire zog sich langsam an der Außenmauer des dunklen Turmes hoch. Er war in das Innere des Kraters vorgedrungen. Auf dem Weg hatte er eine Reihe von alten schwarzen Steinstatuen passiert. Krieger, die sich auf jeder Seite des Weges gegenüberstanden und ihre Schwerter kreuzten. Der innere Bereich des erloschenen Kessels war von einer Anordnung von Ruinen übersäht, die um das Gebäude des Tempels aufragten. Bei diesen Ruinen hatte es sich um grobe Bauten gehandelt. Steinplatten, die über Aushöhlungen im Boden aufgeschichtet wurden. Das Tempelgebäude hatte einen anderen Baustil gehabt. Eine breite Wehrmauer war um einen inneren Turm errichtet. Treppen führten auf diese Mauer hinauf und von dem oberen Ring als kleine Brücken zum inneren Turm. Als Neire vorsichtig die Treppe zur Mauer erklommen hatte, konnte er von der inneren Wand der Wehrmauer Licht aus Schießscharten hervordringen sehen. Es schien sich also um eine Wohnmauer zu handeln. Dann hatte er sich entschieden den Turm zu erklimmen, der über ihm aufragte. Er mied das große Eingangportal und blickte sich nochmals um. Doch von den beiden Wachen, die er auf einer Patrouille gesehen hatte, fehlte jeder Spur. Das Erklimmen der Steine war nicht leicht. Der Stein war kalt geworden, in der fortgeschrittenen Nacht. Er musste in den kleinen Ritzen der Blöcke Halt finden. Doch gekonnt zog er sich höher und höher. Schließlich schlang er den Arm über die Kante und zog sich hinauf. Nur der blanke Stein war hier oben zu sehen. Er dachte an Bargh, der am Ufer zurückgeblieben war und kauerte sich nieder. Immer wieder ließ er seinen Blick über den Kessel und in Richtung Dreistadt schweifen. Aus der Richtung der Stadt konnte er das Licht des verbliebenen Leuchtturmes erkennen. Ein Gedanke reifte in ihm heran. Vielleicht sollte er hier oben bleiben. Es gab keinen Aufgang und auch bei Tag würde ihn keiner hier sehen. Nur Bargh müsste am Strand warten. Neire ging für einen Moment in sich und versank in völliger Starre. Da hörte er die gedämpften Stimmen vom Stein unter ihm. Die erste klang unruhig und besorgt. „Ich mache mir Gedanken. Wir sind nicht gut geschützt. Die Mauern sind nicht bewacht.“ Die zweite Stimme antwortete unmittelbar. Zwar etwas entfernter und gedämpfter, doch Neire konnte die Worte gut verstehen. „Fürchtet euch nicht. Unser Fürst wird heute über uns wachen. Und morgen werden sie aus Dreistadt zurückgekehrt sein.“ In diesem Moment begann Neires Herz höher zu schlagen. Er wusste, dass dies ein Zeichen von Jiarlirae war. Die Gunst seiner Göttin war mit ihnen. Er begann sich über die Mauer zu beugen und starrte in den schwarzen Abgrund. Langsam suchte er nach Halt und ließ sich in die Tiefe hinab.

„Wir müssen handeln Bargh. Noch diese Nacht und im Schutze der Dunkelheit.“ Bargh blickte in das junge Gesicht, das von gold-blonden Locken umrahmt war. Sonst war nichts von Neire zu erkennen. Augenblicklich griff er nach seiner Maske und spürte das Adrenalin sich in seinem Körper ausbreiten. „Nein, wartet Bargh. Wir müssen zuerst die Substanz zu uns nehmen. Reicht mir den Weinschlauch.“ Bargh zog den Rucksack von seinen Schultern und brachte das lederne Reservoir zum Vorschein, in das sie den Wein gefüllt hatten. Neire nahm ihn entgegen. Sein Mitstreiter hatte die kleine Viole mit der dunklen Substanz bereits geöffnet und nahm einen Schluck von dem zähen Pilzextrakt. Dann spülte er diesen mit einem Schluck Wein hinunter. Bargh tat es Neire danach gleich. Nachdem sie ihre Masken angelegt hatten, brachen sie auf. Neire hatte ihm zuvor berichtet, dass er die Wachen belauscht hatte, die im Außenbereich auf Patrouille waren. Es stand wohl ein Wachwechsel bevor und die Zeit war jetzt günstig. Je näher sie dem Inneren des Kraters kamen, desto stärker spürten sie die Wirkung des Suds. Das Mondlicht schien intensiver zu werden. Fast wohltuend und betäubend blendend. Das Schwarz der Dunkelheit nahm hier und dort Töne von dunklem Violett an. Es war, als könnte er diese Farben hören. Bargh hatte sein Schwert gezogen und schaute immer wieder auf das silberne Licht, das sich in der Klinge spiegelte. Sie umrundeten vorsichtig die Wehrmauer und erklommen eine Treppe. Aus dem Innenhof des Tempels waren jetzt Befehle zu hören. Ab und an durchdrang das Surren eines Pfeils die Nacht. Anscheinend trainieren sie in diesen frühen Morgenstunden, dachte sich Bargh und blieb weiter hinter Neire, der die Wehrmauer auskundschaftete. Neire öffnete leise eine Falltür, unter der eine Wendeltreppe in das Innere der Mauer hinabführte. So verschwanden sie aus dem Mondschein in das Fackellicht, das sie von unten sehen konnten. Der Raum, der sich vor Bargh auftat, war groß und hatte die Krümmung der Wehrmauer. Fackeln brannten an den Wänden und hölzerne Übungspuppen für den Schwertkampf waren hier zu sehen. Bargh sah Neire nicht mehr, doch hörte dann ein Flüstern. „Bargh ich werde in diese Richtung gehen. Folgt mir und lasst euch etwas Zeit.“ Bargh nickte und betrachtete die bogenförmige Öffnung, die in den nächsten Raum führte. Nach einer kurzen Weile folgte er Neire. Im nächsten Raum sah Bargh bereits Neires Werk. Eine Gestalt in einem grünen Umhang lag vor einer Werkbank in einer großen Lache von Blut. Sie umklammerte immer noch das Schwert und den Hammer, mit dem sie wohl gearbeitet hatte. Bargh beachtete die ältere Wache nicht weiter und schritt langsam vorwärts. Der darauffolgende Raum war eine Art Waffenkammer. Hier waren keine Spuren des Kampfes zu sehen. Als Bargh den Raum fast durchquert hatte, hörte er ein Aufächzen aus dem nächsten Raum hinter dem Durchgang. Es folgten hastige Schritte. Er wusste, dass er handeln musste. Er begann in Richtung des Raumes zu stürmen. Keinen Moment zu spät. Hinter einer Ansammlung von Tischen sah er einen Leichnam einer Wache liegen. Doch eine weitere Wache zog gerade ihr Schwert. Noch bevor Bargh mit dem Krieger des Tempels der Ehre zusammenstieß, fing die Wache an zu schreien. „Alarm, Alarm. Eindringlinge.“ Einen Augenblick später krachte er mit dem Krieger zusammen. Ein brutaler Kampf entbrach, auf Leben und Tod. Weitere drei Angreifer des Tempels der Ehre drangen nur wenig später aus dem Außenbereich in das Gemach herein. Sie mischten sich in das Getümmel. Irgendwo musste Neire hier doch sein, dachte Bargh, als er sich unter den ersten Schwerthieben hinwegduckte. Dann sah er den tanzenden Degen aus den Schatten zustechen. Der Fackelschein war so intensiv, das Blut so rot. Er spürte kaum den Schnitt des Kurzschwertes, das in seine Hüfte biss. Bargh hackte und stach. Seine Angriffe drangen durch die Rüstungen seiner Feinde. Ein Widersacher nach dem anderen fiel. Bis da nur noch die Farben und deren Eigentöne waren. Eine Kammer gefüllt mit Fackelschein, Leichen und rotem Blut – eine Epitome der aufsteigenden Dunkelheit.

Neire schlich über die Brücke auf den schwarzen Turm zu. Er hatte zuvor sichergestellt, dass auch alle Diener des Tempels der Ehre tot waren. Bei einem der Gegner, gegen die sie im Gemach in der Wehrmauer gekämpft hatten, war das nicht der Fall gewesen. So hatte er sich hinabgebeugt und ihm langsam seinen Degen durch die Brust gestoßen. Er wusste nicht wieso, doch er hatte bei dem jugendlichen Gesicht mit den blonden Haaren an Halbohr denken müssen. Ihr einstiger Mitstreiter, sein persönlicher Beschützer, war jetzt schon länger nicht mehr aufgetaucht. Neire hatte auch einen kurzen Moment darüber nachgedacht, Halbohr eines der Ohren des Wächters mitzubringen. Doch schließlich hatte er den Gedanken verworfen. Nun graute langsam der Morgen über der Insel und der fast wolkenlose Himmel schimmerte in einem grünlich-blauen Licht. Der Mond war bereits untergegangen und hier und dort schimmerten noch ein paar hellere Sterne. Neire betrachtete das doppelflügelige Portal des schwarzen Turmes. Beide Türhälften teilten das Symbol von Torm. Zitternd begann Neire die Türe leise zu öffnen. Er wusste, dass Bargh handeln würde, sollte ihm etwas zustoßen. Die Türe begann sich zu bewegen, doch sie schwang nur langsam auf. Im Inneren des Turmes konnte er eine hohe Halle erkennen, die wohl den gesamten Turm auf Breite und Höhe erfüllte. Der Geruch von Weihrauch und Myrrhe strömten ihm entgegen. In der Mitte befand sich ein Zylinder aus schwarzem Stahl, der vielleicht über etwas mehr als die Hälfte der Höhe aufragte. In einem Kreis um die Wände des Saales waren Statuen von dunklen Steinkriegern zu sehen, die in Richtung des schwarzen Zylinders blickten. Vier Treppen aus Metall führten spiralförmig in die Höhe, um auf der oberen Plattform des schwarzen Zylinders zu enden. Alle Treppen waren von Ketten getragen, die in der Höhe, des von Fackelschein erhellten Raumes, verschwanden. Doch auch Bewegung konnte Neire ausmachen. Zwei Gestalten verharrten dort in regloser, fast meditierend-andächtiger Pose. Einer der beiden Ritter hatte sich auf Bodenhöhe vor dem schwarzen Zylinder postiert. Er trug ein großes Schwert, dass er ähnlich der Haltung der Statuen, beidhändig vor sich hielt. Der Ritter war in eine strahlende Rüstung gekleidet und hatte einen Umhang von heller violetter Farbe. Sein kahler Schädel offenbarte ein grobschlächtiges Gesicht mit langen Narben an beiden Wangen. Die zweite Gestalt war nur schemenhaft zu erkennen. Ein weiterer Ritter eines vielleicht religiöseren Ranges? Er befand sich auf dem Zylinder zwischen einer Reihe von Stehpulten. Auch er trug einen Harnisch aus Stahlplatten, doch die Farbe seines Umhangs schimmerte in einem Violett. Neire konnte zudem erkennen, dass dieser Wächter des Tempels der Ehre buschige Augenbrauen und einen Bart hatte. Er trug einen Kriegshammer, den er auch in der Pose der Steinstatuen vor sich hielt. Schon dachte Neire nicht erkannt worden zu sein, da erhob die weiter obenstehende Gestalt ihre Stimme:
„Ich sehe euch nicht Eindringlinge. Aber ich weiß, dass ihr hier seid. Ihr seid es, die uns viele Sorgen bereitet habt in Dreistadt. Ich kann euch sagen, dass ihr vom Himmelreich unseres Herrn weit entfernt seid. Es wird euch nicht die Erlösung zuteilwerden, die den getreuen Dienern unseres ewigen Fürsten zuteilwurde. Diese ehrenvollen Diener, die ihr in Dreistadt feige niedergeschlachtet habt. Zeigt euch und wir werden euch ein ehrenvolles Ende bereiten.“
Neire betrachtete in diesem Moment die Fackeln, die im Luftzug zu Flackern begannen. Da konnte er es sehen. In Schatten und Feuer waren die Runen zu erkennen. Er spürte den Atem seiner Göttin und wusste, dass das Feuer zurückgekehrt war. Er lauschte den Tönen der Runen, der Musik von Flamme und Düsternis. Für einen Moment führte ihn die Erinnerung zurück ins Innere Auge von Nebelheim. Zu den prachtvollsten Festen und dem großen Maskenball. Plötzlich war da das Murmeln von Stimmen und Musik in seinem Kopf, das anschwoll zu einer Kakophonie, zu einem Rauschen und Zischen, das dann eins wurde mit dem Wasser des Eises, das aus der Dunkelheit durch die große Öffnung in die Flammen des Auges tropfte. Langsam verdrängte er die Gedanken. Die Reminiszenz an die Atmosphäre damaliger Tage, geschwängert von Neugier und Lust, von berauschtem Glück und einer vernebelten Traurigkeit, von schattenhafter Niedertracht und lodernder Gier. Vorsichtig schlich er Schritt für Schritt zurück zu seinem Kameraden Bargh, der dort in der Dunkelheit des grauenden Morgens lauerte.

Jenseher:
Im Licht des grauenden Morgens hatten Bargh und Neire ihre Blicke auf den Turm gerichtet. Vor dem grün-bläulich schimmernden Horizont ragte das schwarze, zylindrische Konstrukt monströs auf. Hinter der gewölbten Steinbrücke konnten sie die geöffnete Türe sehen. Fackellicht drang aus dem Inneren hervor. Auch aus dieser Entfernung konnten sie im sanften Wind des kühlen Morgens den Geruch von Weihrauch vernehmen, der aus dem Inneren des Turmes entwich. Das Zirpen der Grillen war hier völlig verstummt und eine unheimliche Stille lag über allem. Die Gebete, die Neire begann zu singen, klangen zuerst schwach und fragil. Doch mit jedem Wort, mit jeder Silbe, schwoll die Macht der fremden Formeln an. Der Gesang war von einer schlangenhaften Sprache, zischend und mit unmenschlicher Intonation. Als Neire die Hervorrufung beendet hatte, nickte er Bargh zu. Es war an der Zeit zu handeln und sich den Führern des Ordens im Kampf zu stellen. Neire sprach leise zu Bargh, bevor er losging. „Bargh, bleibt zurück und lauert hinter dem geschlossenen Türflügel. Sobald einer von ihnen die Flucht ergreift, schlagt zu.“ Bargh nickte. Er ahnte, dass Neire bereits einen Plan hatte.

Neire schlich Schritt für Schritt auf die geöffnete Türe hinzu. Er musste sich zusammenreißen und verwendete all die ihm zu Verfügung stehende Kraft, um seine Angst zu überwinden. Sein Herz raste. Das Flackern der Fackeln, die er im Inneren sah, kam ihm so intensiv vor. Als wären sie von einem Leben erfüllt, als würde seine Schwertherrscherin ihm zuflüstern. Als er durch die geöffnete Hälfe des Portals blickte, sah er die Gestalten dort verharren. Sie hatten beide die Augen geschlossen und hielten ihre Waffen vor sich, als ob sie in das Gebet eines Kriegers vertieft wären. Die Gestalt vor der Säule trug einen Panzer aus poliertem Stahl. Sie war muskulös, von haarlosem Kopf und grobschlächtigem Gesicht. Zwei Narben waren auf ihrer Wange zu sehen. Die zweite Gestalt konnte Neire nun besser erkennen. Der Priester stand hoch oben auf der Säule hinter einem Pult, auf dem ein großer aufgeschlagener Wälzer zu erkennen war. Auch er war geschützt durch einen glänzenden Panzer. Der Mann war älter, von dunklem Bart und buschigen Augenbrauen. Als Neire bereits einige Schritte in den Raum geschlichen war, erhob der glatzköpfige Krieger mit dem beidhändig getragenen Schwert erneut die Stimme. „Zeigt euch, Eindringliche. Wir können euch nicht sehen, doch wir wissen, dass ihr hier seid. Zeigt euch und findet euer ehrenvolles Ende im Kampf.“ Neire spürte die Wut und die Anspannung. Er sah jetzt die Runen im Feuer der Fackeln. Runen der Dunkelheit. Er musste handeln, es waren die Zeichen von Jiarlirae. Er begann augenblicklich seine linke Hand hervorzuziehen und konzentrierte sich auf das Feuer und die Schatten. Zuerst war die Flamme klein. Doch schnell wuchs das magmafarbene Licht, das auf seiner Handfläche, tanzend mit der Dunkelheit, brannte. Neire bemerkte zu seinem Erschrecken, dass der Krieger jetzt seine blauen Augen öffnete und in seine Richtung blickte. Er hob das Schwert und kam auf ihn zu. Neire versuchte seine Kräfte zu sammeln. Er wollte die schwarze Kunst seiner Göttin beschwören. Doch der Krieger war schneller. Von der oberen Plattform hörte Neire gerade den anschwellenden Gesang von Gebeten, als der Diener des Torm ihn angriff. Einem ersten Hieb konnte er noch ausweichen, dann schlug das Schwert ihm in die Seite. Das dunkelelfische Kettenhemd hielt zwar ein tieferes Eindringen ab, doch die Glieder wurden weit in sein Fleisch getrieben. Die Luft blieb ihm weg und er wollte wegrennen. Und doch musste er kämpfen; er musste sich konzentrieren. Die Macht, die Neire durch die kleine, gebrechliche Flamme beschwor, war gewaltig. Magisches Feuer schoss plötzlich aus dem gesamten Boden des Turmes hervor und hüllte den Krieger und ihn ein. Alles um ihn herum, auch die steinernen Statuen der schwerthaltenden Krieger, verschwanden im rötlichen Glühen. Der Angreifer vor Neire schrie, als sein Fleisch begann zu kochen, seine Rüstung begann zu glühen. Doch Neires Widersacher dachte nicht an eine Flucht. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte ehrenvoll weiter. Auch als seine Rüstung sich bereits begann aufzulösen. Nieten platzten ab durch die Hitze und der Panzer brach hier und dort auseinander. Neire konzentrierte sich, um dem nächsten Angriff auszuweichen. Er spürte die Hitze um ihn herum. Doch als Kind der Flamme, als wahrer Diener seiner Göttin, konnte ihm das Höllenfeuer nichts anhaben. Er wollte gerade eine weitere Macht hervorrufen, als der Krieger vor ihm von den Flammen verzehrt wurde. Mit einem erstickenden Todesschrei fiel der, von grauenvollen Brandwunden geschändete, Leib zu Boden. Aufgrund der Hitze begannen sich augenblicklich seine Muskeln zu versteifen. Jetzt richtete Neire seinen Blick nach oben. Er sah den Priester dort zurücktreten. Doch die Flammen der Feuerwand reichten nicht so weit hinauf. Neire beschwor drei Bälle aus glühendem Magma, die er in Richtung des Priesters warf. Sie zogen funkensprühende Spuren, als sie aus dem Feuer der Flammenwand heraustraten. Alle drei Geschosse fanden ihr Ziel. Neire hörte von oben den Todesschrei, als der zweite Widersacher in seinem Feuer starb. Ein Gefühl von Glück durchfuhr Neire. Er ließ die Flammen der magischen Hitzewand langsam erlöschen. Der Nachhall des Feuers blendete ihn einen Moment. Die Farben hatten sich in seinem Rauschzustand tief in seinen Geist gebrannt; er hörte ihre fremden, schrillen Töne. Fast wie aus einem Traum erweckt schreckte er auf, als er Bargh neben sich sah. Sein Gefährte hob das Schwert und begann den Kopf des verbrannten Kriegers abzuhacken. Bargh sprach dabei spottend die Worte. „Ha… ja! Damit habt ihr nicht gerechnet. Zeigt euch, Eindringlinge, hahaha… zeigt euch, damit wir euch ein Ende bereiten können. Hahaha… hier habt ihr euer Ende.“ Dann trat Bargh mit seinen Stiefeln gegen den Kopf, so dass dieser durch die, jetzt mit Ruß bedeckte, Halle des Turmes rollte. Neire zog die Kapuze zurück und lächelt Bargh zu. Er deutete auf eine der metallenen Treppen, die von Ketten getragen, auf die Plattform der mittigen Säule führte. „Bargh, durchsucht den Leichnam. Ich werde nach dem zweiten Priester schauen.“

Er wusste nicht, wie tief er hier hinabgestiegen war. Vielleicht befand sich der Tunnel unter dem Meeresspiegel. In weiten Abständen erhellten Feuerschalen die Gänge, die aus einem älteren Gestein als der obere Turm erbaut waren. Zuvor waren sie beide auf das Podest gelangt. Bargh hatte dort den zweiten Leichnam spottend geschändet, in dem er mit seinen schweren Stiefeln den Kopf zertreten hatte. Sie hatten dann auf dem Podest einen geheimen Mechanismus entdeckt, der eine Falltür offenbart hatte. In der Säule hatte sie ein Schacht in die Tiefe geführt – über steinerne Sprossen, die aus den Wänden herausragten. Am unteren Ende des Schachtes war eine steinerne Halle zu sehen gewesen, in die eine Strickleiter hinabführte. Neire hatte gehorcht und irgendwo aus einem Tunnel Schritte und aus einem weiteren Tunnel ein schwaches Wimmern gehört. Er hatte sich entschieden, in Richtung der Schritte zu schleichen. So hatte er sich im Schutze seines Mantels den Geräuschen genähert. Jetzt sah er zwei Wachen, die sich dem Ende des Tunnels näherten, um dort eine Tür zu überprüfen. Als sich eine der beiden Gestalten über das Schloss beugte, war Neire in den Rücken der anderen vorgedrungen und sah seine Chance. Er trat hervor und rammte der Wache den Degen in den Rücken. Augenblicklich begann der Giftextrakt des bunten Vierlings zu wirken. Die Adern des Wächters verfärbten sich dunkel und dieser brach zusammen. Einen kurzen Moment später war Neire bei der anderen Gestalt und stach mehrfach zu. Durch die Morde der letzten Tage hatte Neire an Sicherheit und Erfahrenheit im Kampf gewonnen. Auch jetzt fand sein Degen das Ziel und er tötete die zweite Gestalt mit mehreren Stichen. Unter den Ordensmänteln beider Leichname breitete sich eine Lache von Blut aus.

Bargh kniete sich nieder. Tief waren die Schnitte der Schwerter, die seinen Körper verwundet hatten. Wie von einer geisterhaften Kraft geführt, hatten die animierten Rüstungen angegriffen. Ihre Schläge waren präzise geplant, von einer tödlichen Wucht, gewesen. Beide Gestalten hatten ihn angegriffen. Neire war zu diesem Zeitpunkt nicht zu sehen gewesen – verborgen durch seinen Schattenmantel. Doch Bargh hatte seine Anwesenheit, seine Macht gespürt. Gemeinsam hatten sie schließlich die bewegten Rüstungen besiegt. Noch bevor sie in den Raum eingedrungen waren, hatte Neire die Schutzmagie, die er in diesem tiefen Kerkerraum entdeckt hatte, gebannt. Die Kraft Jiarliraes war stark gewesen und so konnten sie unbehelligt in das Gewölbe vordringen. Jetzt kniete Bargh nieder. Neire hatte ihm geholfen, Verbände über seine Wunden zu legen. So hatten sie die größten Blutungen gestoppt. Neire murmelte Worte eines Chorals, in der Sprache von Nebelheim. Er legte Bargh seine schwärzlich verbrannte Hand auf die Wunde. Das Gefühl eines wohltuenden Brennens verbreitete sich in seinem Körper. Bargh spürte, dass die heilende Magie der Göttin seine Wunden schloss. Bevor er sich aufrichtete, dachte er einen Moment zurück. Sie hatten eine nicht geringe Zahl von Räumen und Gängen abgesucht, bevor sie diese unterirdische Halle gefunden hatten. Sie hatten unter anderem einen Raum mit Schatztruhen und ein Gemach mit Aufzeichnungen gefunden. Gegenstände waren wie eine Art Handelsregister aufgelistet gewesen. Neben der Münze von Tymora, hatten sie weitere Einträge gefunden. Über einen Kristall, das Feuer von Sune, waren Notizen vermerkt. In einem weiteren Verließ, dass von Eisengittern versperrt war, hatten sie Fässer entdeckt. Nachdem Neire das Schloss geöffnet hatte, waren die Fässer von ihnen untersucht worden. Der beißende Geruch hatte Neire an eine alte Geschichte erinnert. Eine alte Schlachtenbeschreibung war ihm eingefallen, in der ein Bollwerk mit Hilfe einer solchen Substanz gesprengt wurde. Nur noch eine weitere Wache hatten sie hier unten angetroffen, die von Neire hinterrücks erstochen wurde. Jetzt, nachdem er sich langsam aufgerichtet hatte, ging sein Blick zu dem kleinen Tunnel, der den einzigen Ausgang aus diesem Raum darstellte. Bargh hörte die flüsternde Stimme von Neire und konnte für einen kurzen Moment einen Schatten feststellen, der in Richtung des Tunnels huschte. „Folgt mir… lasst uns schauen, was dieser Raum bewachen und verbergen sollte.“ Bargh nahm sein Schwert auf, rückte seine Gesichtsmaske zurecht und folgte Neire. Der Gang führte ihn zuerst in die Dunkelheit. Doch nach einiger Zeit waren vereinsamte Lichtpunkte von Feuerschalen zu sehen. Im Gegensatz zu dem seltsamen, kalten Ölfeuer, auf das sie schon im Leuchtturm gestoßen waren, ging von den Flammen dieser Schalen eine intensive Hitze aus. Dann öffnete sich der Gang in eine halbkreisförmige Höhle. Die gegenüberliegende Wand war von schroffem Felsgestein. Gleißende Lichter aus Feuerschalen hüllten die steinerne Halle in punktuelle Lichtkegel. An Stellen, wo sich keine Schalen befanden, waberten dicke Schatten. Irgendetwas hörte Bargh aus der Höhle. Wie ein zischelnder Chor von Stimmen, die nach ihm riefen. Dann sah er es dort liegen. Eine feine Klinge, ein schwarzes Schwert. Die Stimmen hörte er von dort Raunen. Bargh ging langsam auf das Schwert zu. Die Klinge besaß eine Blutrinne, in Form einer dicken Ader. Durch den schwarzen Stahl konnte er kleine Verästelungen sehen, als ob sich diese Ader auffächerte. Dieses Geflecht endete an der Schneide. Bei genauerer Betrachtung sah es so aus, als ob dort irgendeine Flüssigkeit zum Vorschein kommen würde, die sich dann augenblicklich in Rauch auflösen würde. Als er nach dem Schwert hinabbeugte, bemerkte er die glatte Parierstange und das gerade, schwarze Griffstück. Beide wie aus einem Guss geformt. Am Ende des Griffstücks war ein schwarzer Edelstein zu sehen, in dem er die Konturen eins dunklen Herzens vernahm. Bargh ergriff das Schwert und augenblicklich fuhr eine Welle von dunkler Macht durch seinen Körper. Es war, als ob das Schwert hier auf ihn gewartet hätte, als ob die Waffe als natürliche Erweiterung seines Armes zu ihm passen würde. Licht und Schatten flackerten um ihn herum. Jetzt hörte er das Raunen der Stimmen und den seltsamen Singsang zu Ehren seiner Göttin. Er kniete sich nieder und riss die Klinge über seinen Kopf. Der gerade Griff hatte sich tatsächlich den Konturen seiner Hand angepasst, als ob das Schwert sich durch ihn formen lassen könnte. Er wusste jetzt, dass seine Stunde als Krieger Jiarliraes gekommen war. Dann nahm er die Klinge hinab und betrachtete das Spiegelbild seiner Maske im Stahl. Leise zischelte er die Worte GLIMRINGSHERT. So würde er das Schwert nennen. Es trug den Atem von Jiarlirae und die Saat von Flamme und Düsternis – es war Glimringshert, das glühende Herz aus Schatten.

Jenseher:
Bargh hielt Glimringshert einhändig vor sich. Noch immer hörte er das Raunen und einen Singsang von der Klinge ausgehen. Nachdem sie das schwarze Schwert aus dem geheimen Bereich des Tempels geborgen hatten, waren Neire und er in den letzten Bereich des Verlieses vorgedrungen, den sie noch nicht erkundet hatten. Auf dem Weg durch die, in das graue Felsgestein gehauenen, Tunnel, hatte ihn Neire auf das leise Wimmern aufmerksam gemacht, das er aus dem noch unerforschten Bereich vernahm. Sie kamen gerade um die Ecke, als Bargh den Schein von Feuer erblickte. Fackeln erhellten einen sich nach links und rechts eröffnenden Raum, der nicht viel weiter in die Tiefe ging, als ein breiter Gang. Ein leichter Geruch von Fäkalien und Verwesung strömte Bargh entgegen. An der gegenüberliegenden Wand waren Zellen zu sehen, die von rostigen Gitterstäben versperrt waren. An der Wand der rechten Seite waren zudem ein verlassener Hocker und ein Tisch zu erkennen. Bargh sah, wie Neire sich den Mantel zurückzog; so kamen die gold-blonden, gelockten Haare seines jungen Begleiters zum Vorschein. Neire deutete mit ernster Miene zur linken Seite. Auch Bargh zog sich nun die Maske vom Schädel und schritt in Richtung des Wimmerns. Als seine schweren Schritte im Verließ widerhallten, verstummte das Wimmern abrupt. Sie kamen zu einer Zelle, in der eine kleine Gestalt in der Dunkelheit hockte. Bargh sah die junge Frau, fast noch ein Mädchen, die nun zu ihnen aufblickte. Sie trug ein verdrecktes Kleid, dünne Beinkleider und war barfuß. Der Geruch von Fäkalien und Verwesung war hier stärker. Als die junge Frau aufblickte, sah Bargh die Angst in ihren grünlich schimmernden Augen. Lange, feuerrote, leicht gelockte Haare fielen schwer auf ihre Schultern. Haare und Gesicht waren von einer Schicht von Dreck bedeckt, doch darunter konnte Bargh Schönheit erahnen. Neben einer urtümlichen Wildheit, stellte Bargh eine Angst in ihrem Blick fest. Für einen Moment ließ er seine Gedanken schweifen und das fremde Mädchen erschien verändert vor seinem inneren Auge. Sie trug eine goldene Krone, Edelsteine und Goldschmuck. Über der Krone brannte ein Feuer, um das Dunkelheit und Schatten tanzten. Geisterhaft umströmte nachtblaue Magie ihren schlanken Körper. Das Bild verschwand allerdings augenblicklich. Neire war an das Gitter herangetreten und begann zu sprechen. „Was macht ihr hier in dieser Zelle? Ist das ein Spiel, das ich nicht kenne? Habt ihr mit ihnen gespielt?“ Zuerst konnte Bargh eine Verwirrung in ihren Augen sehen. Doch dann lächelte sie ihn und Neire an. „Wer seid ihr? Ihr gehört nicht zu ihnen, oder? Ich meine die Wächter der Insel.“ Bargh lachte kurz auf und auch Neire stimmte ein. Das Mädchen wich wieder etwas vom Gitter zurück. „Nein, wir gehören nicht zu ihnen… auch wenn das nicht immer so war“, antwortete Bargh. Er bemerkte, dass die Gefangene ihm fasziniert lauschte. „Wir spielen ein anderes Spiel. Ein Spiel von Feuer von Schatten. Sagt, wollt ihr dieses Spiel mit uns spielen?“ Als Neire die Frage stellte, bemerkte Bargh eine Art Wildheit in ihren trotzigen Augen. Doch sie antwortete überhastet, freudig und in einem jugendlichen Übermut. „Ja, natürlich… ich werde mit euch spielen. Das Spiel von Feuer und Dunkelheit sagt ihr? Hmmm… ich habe bereits ein anderes Spiel gespielt. In Dreistadt. Es war das Spiel des Nehmens von anderen. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen.“ Noch während sie sprach, begann Neire jetzt seinen Dietrich hervorzuziehen und das Schloss am Gitter zu öffnen. Als sein junger Begleiter das Gitter aufzog, sah Bargh das Mädchen hinaushasten. Der Geruch von Schweiß und Fäkalien kam ihm entgegen. Als die jetzt Freigelassene in Richtung des Tunnels lief, blickte sie sich um und sagte. „Kommt und folgt mir. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bevor sie vielleicht zurückkommen.“ Bargh hörte Neire mit erzürnter, lauterer Stimme antworten. „Halt! Wir geben hier die Befehle. Und wir spielen das Spiel nach unseren Regeln. Kommt erst einmal zurück. Ihr seht aus, als könntet ihr einen Schluck Wein vertragen.“ Bargh sah, dass Neire ihm zunickte und er begann den Weinschlauch aus dem Rucksack hervorzukramen. Als er bemerkte, dass das Mädchen ihn dabei genau beobachtete, zwinkerte er ihr zu und fragte. „Wir haben euch noch nicht gefragt. Wie ist eigentlich euer Name?“ Er sah, dass sie ihn anlächelte und sprach. „Mein Name ist Zussa. Und ja, ich würde gerne einen Schluck Wein trinken.“ Neire trat an ihn heran und nahm ihm den Weinschlauch ab, während Zussa sich mit ihrer Zunge über die Lippen fuhr. „Nun Zussa.“ Sprach Neire und bewegte sich auf sie zu. „Mein Name ist Neire. Neire von Nebelheim. Ich bin ein Kind der Flamme und ein Diener der Schwertherrscherin, der Königin von Feuer und Dunkelheit, Jiarlirae, geheiligt möge ihr Name sein. Mein Begleiter hier ist mir wie ein Bruder. Er ist ein heiliger Krieger unserer Göttin, der Drachentöter und wandelte einst im Reich des Jenseits, nach seinem Tode ins Fegefeuer hinab. Er wurde von meiner Göttin errettet, ein Wunder… und nun schreitet Bargh, so sein Name, wieder unter den Lebenden.“ Bargh sah, dass Zussa an Neires Lippen hing, mit großen geöffneten Augen. Er hatte auch bemerkt, dass Neire etwas von dem Grausud aus dem Geheimfach seines Schlangendegens geholt hatte – kaum mehr ein kleiner Tropfen der Substanz, der auf der Kuppe seines Zeigefingers zu sehen war. Neire hielt Zussa den Finger hin, während er sprach. „Diese Substanz wird eure Stimmung heben und euren Geist für das Spiel öffnen. Nehmt sie zu euch und spült das Ganze mit ein paar Schlücken Wein herunter.“ Zussa wirkte zuerst etwas unruhig. Sie roch an Neires Finger, öffnete dann ihre Lippen und leckte mit ihrer Zunge über Neires Finger. Für Bargh machte diese Szene einen seltsamen Eindruck, hier, im Antlitz von Tod und Verwesung. Doch er ahnte schon, worauf Neire Zussa vorbereiten wollte. Er schwieg, während Zussa nach ein paar kräfigen Schlücken Wein an zu erzählen fing. Sie blickte ihn dabei an. „Bargh, auch ich habe Erfahrungen mit dem Feuer gemacht. Der Herr der Nachbarsfamilie hat sich einst über mich lustig gemacht. Über meine roten Haare. Ich war so wütend, dass ich ein Feuer hervorbeschworen habe. Seine Scheune ist abgebrannt. Mit einem seiner Schafe. Ich habe mich dabei auch selbst verletzt. Danach musste ich das Dorf verlassen, fliehen.“ Als ob Zussa ihre Worte unterstreichen wollte, hob sie ihre mit Brandnarben bedeckten Fingerkuppen. Immer noch starrte sie fasziniert auf seinen haarlosen Schädel – die Spuren des Feuers. „Seid ihr so hierhin gekommen? Weil ihr aus eurem Dorf fliehen musstet?“ Die Wut verschwand jetzt aus dem Gesicht von Zussa und eine Art Schwermut stellte sich ein. „Ja, so war es. Keiner konnte mir helfen. Nicht mal meine Eltern. Ich wurde als Hexe bezeichnet und so floh ich nach Dreistadt. Dort hatte ich nichts und musste auf den Straßen leben. Schließlich nahm ich mir einfach was ich brauchte. Ja, das war mein Spiel. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Doch eines Tages haben sie mich erwischt und hierhin gebracht. Sie haben mich hinabgeworfen und in diese Zelle gesteckt.“ Jetzt war die Schwermut in ihren Augen wieder Wut und Trotz gewichen. Bargh bemerkte zudem, dass Neire, der den größten Teil des letzten Gesprächs ruhig beobachtet hatte, das Wort ergriff. „Zussa sagt, seid ihr eine große Kriegerin? Dort wo ich herkomme, gibt es die Kupfernen Krieger, eine Kaste von Rittern.“ Zussa schüttelte vehement den Kopf. „Kriegerin, nein. In meinem Dorf waren wir einfache Schafhirten. Ich habe nichts anderes gelernt. Doch das Feuer konnte ich beschwören. Fragt micht nicht, wie ich das damals geschafft habe, aber heute kann ich es sogar kontrollieren.“ Bargh sah, dass Neire das Interesse an Zussa verlor, während sie sprach. Er erinnerte sich, dass Neire einfache Menschen als niedere, wertlose Sklaven betrachtete. Lediglich mit dem letzten Satz zur Feuerbeschwörung konnte Zussa Neires Aufmerksamkeit wieder gewinnen. „Nun, wir sollten mit unserem Spiel beginnen. Hier habt ihr einige Pilze zur Stärkung. Folgt uns durch die Gänge.“ Neire reichte Zussa einen Beutel mit Pilzen, den sie hastig entgegen nahm. Noch während sie aufbrachen sah Bargh, dass Zussa die ersten Pilze bereits in ihren Mund befördert hatte und sie gierig verschlang.

Neire reichte Bargh den Weinschlauch. Er hatte bereits einen Tropfen Grausud zu sich genommen und von dem Wein getrunken. Jetzt sah er, dass Bargh es ihm gleich tun würde. Es dauerte nicht lange, dann setzte der Rausch ein. Alles schien verlangsamt und glitzernd, als ob jede Bewegung schimmernde Fäden ziehen würde. Wellen von wohlfühlendem Prickeln liefen duch Arme und Beine und wenn er seine Gliedmaßen verdrehte, verstärkte der Effekt sich für eine kurze Zeit. Auch Zussa hatte nach einer weiteren Kostprobe verlangt, doch Neire wusste, dass sie das Mädchen mit den Feuerkräften noch brauchen würden. Er wusste auch, dass eine zu hohe Dosis von Grausud eine narkotisierende Wirkung haben konnte. So hatten sie ihr die Substanz verweigert und sie hatte sich, ohne zu nörgeln, gefügt. Mehrere Schlücke hatte sie noch aus ihrem Weinschlauch genommen. Im Halbdunkel des Lochs von Felsplatten vor dem Tempel blickte Neire in die Richtung seiner beiden Mitstreiter. Auch Bargh legte die einsetzende Müdigkeit ab. Grausud konnte Wunder bewirken, wenn es um lange Phasen von Wachheit ging. Dennoch sahen beide, Bargh und Zussa, mitgenommen aus. Sie hatten eine lange anstrengende Arbeit hinter sich. Zuerst hatten sie die Fässer mit dem beißend riechendem Inhalt von der Kammer zum Schacht getragen. Dann hatten sie zwei Seile aneinander geknotet. An ein Seilende hatten sie jeweils mehrere Fässer befestigt, die Bargh dann hinaufgetragen hatte. Neire hatte sie dann auf der oberen Plattform entgegengenommen und hinabgetragen. Schließlich hatten sie die Fässer aufeinandergestapelt, eines davon geöffnet und mit Stoff bedeckt. Aus den Vorratsräumen der Außenmauer hatten sie zudem Lampenöl herangetragen, mit dem sie den Stoff getränkt hatten. Dann hatte Zussa den Einfall gehabt eine Bahn von Stoff hinauszulegen, die sie dann auch mit Lampenöl getränkt hatten. Ihre letzte Vereinbarung war wie folgt getroffen worden. Sollten die verbleibenden Wachen aus Dreistadt eintreffen, würden sie warten bis diese in den Turm hineinschritten. Dann sollte Zussa handeln und mit ihrem Feuer die Fässer entzünden. Neire verfiel wieder in Gedanken und trank am Weinschlauch. Er spürte, dass ihn das Feuer und die Schatten verlassen hatten. Er hatte Bargh das nicht wissen lassen und er ließ es sich auch nicht anmerken. Er wusste, dass er jetzt der schwarzen Kunst nachgehen musste. Es waren die letzten Geheimnisse, die er so erlernen konnte und die ihn hoffentlich zum größeren Verborgenen führen würden. Immer wieder blickte in Richtung von Bargh und Zussa, die sich leise unterhielten. Es störte ihn, dass die beiden wohl Gefallen aneinander gefunden hatten; dass nicht er im Mittelpunkt stand. Sie ist nicht Lyriell. Sie ist keine Kupferne Kriegerin. Sie ist eine niedere Sklavin und sie stammt von Schafszüchtern ab. Es wird sich schon noch zeigen, ob sie es wert ist. Ob Jialiraes Gunst ihr zurteil werden kann. Mit diesen Gedanken verbrachte Neire einige weitere Zeit, bis er die Schritte hörte. Es musste wohl noch Vormittag sein, denn die Sonne stand noch nicht in ihrem Zenit. Er konnte drei Stiefelpaare hören, die sich beharrlich näherten. Auch Bargh und Zussa waren jetzt aufmerksam und hatten sich vorsichtig erhoben. Sie hielten sich hinter den natürlichen Felswänden, so dass sie hier nicht entdeckt werden konnten. Jetzt sahen sie die drei Wachen in ihren Sichtbereich schreiten. Sie steuerten auf eine der Steintreppen zu, die sie auf den äußeren Ring führten. Zwei junge Burschen. Der eine muskulös, der andere kräftig gebaut. Sie hatten grüne Mäntel. Der Anführer war älter und trug einen blauen Mantel. Vorsichtig schlichen sie sich die Treppe hinauf. Als sie aus ihrem Sichtbereich verschwanden, flüsterte Neire. „Jetzt Zussa, folgt mir, vorsichtig.“ Zussa zögerte einen Moment, Furcht war in ihren Augen. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Sie folgte Neire leise und behende in Richtung der Treppe, die sie beide erklommen. Vom Ende der Treppe konnten sie über die gewölbte Brücke in den Turm sehen. Alle doppelflügeligen Portale standen jetzt sperrangelweit offen. Die Wachen waren gerade dabei in das Innere des Turmes vorzudringen. Einen kurzen Moment zögerten sie, als der Anführer auf das Lampenöl getränkte Band zeigte. „Was ist das? Was ist hier passiert? Verteilt euch und bringt mir eure Lageberichte.“ Neire sah wie die beiden jüngeren sich verteilten. Er musste innerlich lachen. Auch in dieser Situation hielten sie sich stur und stupide an ihre Befehle. Für weitere Gedanken reichte es bei diesen niederen Sklaven anscheind nicht. Als der Anführer vor den Fässern stand, murmelte Neire zu Zussa: „Jetzt Zussa, beschwört euer Feuer. Nehmt Rache an diesen Bastarden, deren schwache Seelen wir Jiarlirae weihen.“ Zussa, am ganzen Körper zitternd, sprang auf, ging wenige Schritte nach vorne und beschwor das Feuer. Für einen kurzen Moment wurden ihre Augen schwarz. Dann konnte Neire von dort ein Glühen erkennen. Sie schleuderte mehrere Feuerkugeln, die sich über dem Inneren des Turmes herabsenkten. Augenblicklich entzündete sich das Lämpenöl und einen Sekundenbruchteil später das Faß. Dann spürten sie die Druckwelle, die sie von den Stufen schleuderte. In ihren Ohren war ein Fiepen und eine Stichflamme von Feuer raste über sie hinweg. Als sich Neire langsam aufrichtete kam ihm die infernalische Hitzewelle entgegen. Er sah den Turm dort, als weißlich glühende Feuersäule. Als ob die schwarzen Steine selbst Feuer gefangen hätten. In das Fiepen in seinem Ohr drangen auch andere Geräusche. Das dunkle Krachen von brechendem Stein. Tatsächlich begannen die rot glühenden Steine langsam in sich zusammenzustürzen. Neben ihm waren jetzt auch Bargh und Zussa aufgetaucht. Zussa starrte in ihrem Rausch gebannt in die brennenden Flammen. So standen sie dort einige Zeit und beobachteten schweigend. Dann fing Neire an zu singen und zu tanzen. „Lasst und feiern, lasst uns tanzen, in der ewigen Nacht ohne Morgen. Preiset die schwarze Natter als Abbild unserer Göttin, deren Name Jiarlirae ist. Weinet nicht um die verglimmenden Feuer, weinet nicht um die erlischende Glut, die Glut von Nebelheim. Denn Dunkelheit birgt ihre Ankunft, Schatten ist das Licht unserer Göttin und Flammen der Morgen ihrer Heiligkeit.“ Er nahm zuerst Zussa und tanze mit ihr, doch sie wollte nicht richtig. Dann wendete er sich Bargh zu. So tanzten sie im Antlitz des Feuers. Sie tranken den Wein und feierten in der Nacht ohne Morgen; unter der brennenden Fackel der Ruine von Torm. Neire sprach den Reim der Königin von Feuer und Düsternis. Neire sang vom aufsteigenden Chaos des Abgrundes; das brodelnde Magma flüssigen Gesteins schimmerte in ihren dunklen Augen.

Das Boot nahm langsam Fahrt auf. Zussa war bereits in einen Schlaf verfallen. Sie alle hatten sich kaum noch auf den Beinen halten können. Sie konnten die ferne Küste sehen. Hinter ihnen stieg Rauch aus dem Vulkan. Neire sah Bargh eindringlich an, bevor er sprach. „Wir fahren nach Stadwilla. Dann müsst ihr nach Norden reiten. Nehmt Zussa mit euch. Jialirae hat eine andere Aufgabe für mich geplant; ich habe es in meinen Träumen gesehen. Hört genau zu, denn ich habe euer Schicksal gesehen…“ Bargh nickte trunken und der Jüngling mit den gold-blonden Locken fuhr lächend fort.

Jenseher:
Es sind inzwischen schon vier Tage vergangen, seit meiner denkwürdigen Rettung aus den Verliesen der Tempel-Festung. Die Aufregung, die ich gespürt hatte, als wir durch die Gänge hasteten und als ich die Feuer beschwor, die den gewaltigen Turm in Rauch und Feuer aufgehen ließen, verblasste schnell. In diesen vier Tagen reisten wir nach Norden, passierten die Adlerburg und durchquerten Berghof. Der große Krieger Bargh und der Jüngling Neire hatten anscheinend einem Mann namens Ariold aufgetragen, ihre Pferde in das Dorf Stadwilla zu bringen, um dort auf sie beide zu warten. Nun ja, die Pferde waren tatsächlich dort, von Ariold fehlte jedoch jede Spur. Ich vermute es wird nicht gut für ihn enden, wenn die beiden ihn wiedersehen sollten.

Wir machten Rast in dem Ort Kusnir. Dort wartete ein alter Bekannter von Bargh und Neire, ein grimmiger und langweiliger Elf, der sich wohl Halbohr nennt. Seinem Ohr nach zu urteilen, dem irgendwann mal die Spitze abgeschnitten wurde, ist der Name auch ziemlich offensichtlich. Hier in Kusnir erreichte uns auch die Einladung, welcher Halbohr und Bargh folgen und mich damit zu einem tagelangen Marsch durch Kälte und Nässe der nördlichen Berge zwingen sollten. Das Ziel war offenbar eine Beerdigung. Irgendeine Mutter hatte ihren Sohn verloren; als ob das nicht ständig passieren würde. Siguard Einhand war der Name des Toten. Ein Name, der Neire und Bargh bekannt war. Kein Wort stand dort, woran der Sohn gestorben war, nur dass Bargs und Neires Anwesenheit explizit erwünscht sei und dass wir uns eilen mussten, um rechtzeitig anzukommen. Also machten wir uns auf den Weg. Neire hatte allerdings andere Pläne. Er sprach mit Bargh unter vier Augen und ritt auf seinem Pferde anderen Zielen entgegen.

So waren es also ich selbst, Bargh und Halbohr, die in die nördlichen Gebirge aufbrachen. Unser Ziel war ein kleines Bergdorf in den Schneebergen. Schon allein der Name verhieß keine Freude und ich sollte mich auch nicht irren. Der Weg in die Berge war lang und beschwerlich. Meine Füße taten weh vom Laufen und auch als Bargh mir sein Pferd gegeben hatte, wurde es nicht besser. Jetzt waren es nicht die Füße, sondern Rücken und Hintern, die schmerzten. Der Wind war kalt und nass, die Welt auf einem Rücken eines Pferdes war trist und langweilig und die Anspielungen von Bargh, wie er bei unseren Nachtlagern immer näher rückte und erzählte von den Geheimnissen seiner Herrin, halfen meiner Laune nicht sich zu bessern. Sicherlich, er ist ein starker Krieger und man kann mit ihm bestimmt viele Abenteuer erleben und überleben, aber er macht mir ehrlich gesagt auch etwas Angst.

Am vierten Tage kamen wir schließlich über eine Hügelkuppe, auf deren Spitze wir hinab in ein kleines Tal blicken konnten. Dort hatte sich bereits eine kleine Gruppe von Menschen versammelt, allesamt gekleidet in dunkle Gewänder. Einige führten Laternen mit sich, die dieses Plateau in ein schwaches Licht hüllten. Uns offenbarte sich eine Art Bergfriedhof; wir konnten Grabsteine sehen. Mir schauderte kurz, zum einem wegen den einsetzenden Sturmböen und dem Schneeregen, die wieder Kälte in meine Knochen trieben. Zum anderen auch vor dem Gedanken, eine Ewigkeit trauernden Menschen zuhören zu müssen, die über irgendein Leben berichteten, was mich nicht im Geringsten interessierte. Dies schien auch ein Schwarm von Krähen zu denken, der merkwürdig ruckhaft davonflog. Die seltsamen Tiere suchten wohl ihr Heil in der Flucht und flogen schneebedeckten Gipfeln entgegen, die jetzt von dunklen Wolken umhüllt waren.

Wir kamen näher zu der Begräbnisstätte und sahen, dass die Leute sich um ein bereits ausgehobenes Grab versammelt hatten. Eine ältere Frau wimmerte leiste - die ganze Zeit. Ein anderer Mann, auch etwas älter und seine grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, erhob seine Stimme und begrüßte die Einwohner von Wiesenbrück, so der Name des Dorfes, aus dem dieser Siguard stammte. Er ist wohl in Kusnir umgekommen, wo ich selbst noch vor wenigen Tagen etwas Ablenkung in dem Gasthaus und dem einfältigen Wirt dort genießen durfte. Siguard hatte sogar einen Abschiedsbrief verfasst, den der Mann mit dem Pferdeschwanz gerade vorlas. So wurde ich über den Ort seines Todes eines Besseren belehrt:

„Es ist nun eine Weile her, dass ich nach Wiesenbrück zurückgekehrt bin. Es ändert nichts, ich liebe meine Familie, hier und in Kusnir. Doch mein Leben hat sich geändert, seit ich den jungen Priester getroffen habe. Die Runen im Fleisch, die Träume und die Sehnsucht. Die Suche nach der versunkenen Stadt, nach Feuer und Schatten, treiben mich durch den Nebel. Doch das Licht am Ende des Tunnels ist ein anderes. Es birgt einen alten Verrat und doch eine Erlösung. Die Sünden der alten grauen Rasse werden für euch der Untergang sein. Die Pest der blauen Teufel, die sie in die Welt entließen. Für mich zeigt sich das Licht der Göttin, über dem alten Irrling. Und so muss ich durch die Dunkelheit gehen, bis das Licht wieder scheint. Es wartet SIE auf mich, die Königin von Feuer und Düsternis, die Dame des Abgrundes.“

Die Worte erinnerten mich direkt an die Geschichten von Bargh und Neire, von ihren Erzählungen über ihre eigene Herrin, Jiarlirae, und über Nebelheim, wo Neire aufgewachsen ist. Der ältere Mann erzählte weiter, dass dunkle Zeiten sich anbahnten und sie sogar das berühmte Fest von Wiesenbrück absagen mussten. Die Leute fingen an, Erde auf die Holzkiste zu werfen, als ob der Tote dann darin besser schlafen würde. Bargh und Halbohr gingen zu der älteren Frau hin und heuchelten etwas Mitgefühl.

Plötzlich hörte man ein Brüllen, als sich auf einem Felsvorsprung die riesige Gestalt eines Bären aufbäumte. Rosiger Schaum hatte sich um das Maul gebildet. Der Bär sprang mit einem Krachen von dem Vorsprung hinab und stürzte sich auf die Menge. Panik brach in der Trauergesellschaft aus und der ältere Mann rief in die Richtung von Bargh und Halbohr, ängstlich um Hilfe flehend. Die beiden reagierten auch sehr schnell, Halbohr zog einige seiner Dolche und Bargh seine merkwürdige Klinge, die aussah als ob sie Schatten bluten würde. Die Kreatur brüllte abermals laut auf. Ich selbst habe mich hinter einen Grabstein geduckt und dachte mir, Bargh und Halbohr würden dies bestimmt auch so überleben. Die beiden bekamen auch unerwartete Hilfe, als einer der Jäger, die auch als Trauergäste geladen waren, hervortrat. Eine dürre Gestalt war es, in einem dicken Ledermantel und Fuchsfellen gekleidet und eine Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Er zog einen geölten Säbel und bewegte sich hinter die Kreatur.

Zusammen konnten sie das Wesen zu Fall bringen, doch man hörte bereits ein weiteres Brüllen und aus dem Unterholz stürmten zwei dieser, vor Wut wahnsinnigen, Tiere auf sie zu. Ich blieb weiter in Deckung, doch das unheimliche Flüstern in meinem Kopf war wieder zu hören. Ich habe es immer noch nicht geschafft, irgendetwas von dem Flüstern zu verstehen, noch weiß ich, wem diese Stimme gehört. Einzig klar ist, dass dieses Flüstern auch mich zu hören scheint und mir Macht gibt. So auch jetzt, als die beiden tollwütigen Bären sich vor Bargh, Halbohr und dem Jäger aufbauten und ein Tier seine messerscharfen Krallen in den Leib Halbohrs bohrte. Ich habe inzwischen gelernt, was ich der Stimme zuraunen muss, damit sie mir hilft. Dieses Mal sorgte sie dafür, dass sich in meinen Händen eine blendende und heiße Lanze aus purem Feuer bildete. Blitzschnell blickte ich über den Grabstein und schleuderte die Lanze auf einen der Bären, der sogleich mit einem beängstigenden Heulen in Flammen aufging und zuckend zu Boden sackte. Die andere Kreatur fiel den Klingen der drei Kämpfer zum Opfer und auch diese verfiel seltsamen Zuckungen in ihrem Tode.

Wir blickten uns um und waren inzwischen alleine auf dem Friedhof - die anderen Trauergäste waren schon beim ersten Brüllen geflüchtet. Der fremde Jäger zog seine Kapuze zurück und stellte sich als Atahr vor. Ich sah seine merkwürdige schwarze Haut, spitze Ohren, fliederblaue Augen und langes weiß-glattes Haar. Atahr war kleiner als ich, doch kein Kind mehr. Sein schlankes, nobles Gesicht strahlte Lebenserfahrung aus. So eine Kreatur hatte ich bisher noch nie gesehen. Ich dachte erst, die Schwärze wäre vielleicht eine Art Kriegsbemalung, die er auf seine Haut gebracht hätte, doch es fühlte sich tatsächlich nach normaler Haut an. Vielleicht stammt er von einem seltenen Bergvolk ab, dass sich nur in Gegenden aufhält, die ich vorher noch nicht betreten hatte. Für die anderen schien sein Anblick nichts Besonderes zu sein.

Halbohr nutzte die Gelegenheit und blickte sich um. Doch wir waren allein und so öffnete er den Sarg, der schon mit etwas Erde bedeckt war. Dort lag sie, die Leiche des Siguard Einhand. Jetzt erkannte Bargh die Gestalt wieder und erzählte uns von einem Trinkspiel, zu dem sie ihn in Kusnir überredet hatten. Von diesem Trinkspiel zeugte noch eine Narbe auf seiner Handfläche, die grob die Umrisse einer Münze, das Bildnis einer Menschenschlange und einen Chaosstern zeigte. Und an beiden Handgelenken hatte er tiefe Schnitte entlang seiner Adern. Es sah so aus, als ob er seines Lebens überdrüssig geworden war und diesem selbst ein Ende bereitet hatte.

Wir beschlossen, ebenfalls in das Dorf Wiesenbrück aufzubrechen. Als ich hörte, dass es auch ein großes Fest zu Ehren des Toten geben würde, gefiel mir dieser Vorschlag auch sehr gut. Das Dorf selbst befand sich in einem größeren Tal und eine Straße führte über eine kunstvolle steinerne Brücke direkt auf die Mitte des Dorfes zu. Dort stand ein großes Gebäude mit einem riesigen alten Baum in der Mitte. Es sah fast so aus, als wäre der Baum in diesem Haus gewachsen und irgendwann durch das Dach des Hauses gebrochen. Wir hörten aus diesem Haus laute Stimmen und rochen schon den angenehmen Geruch von gebratenem und gewürztem Fleisch. Auch spürte ich die Wärme, die aus dem Inneren kam. Nach Tagen in kalter Nässe, war diese Wärme noch viel schöner als der Geruch des Essens und ich freute mich schon, wieder etwas Spaß haben zu können. Der Galgen seitlich des Weges hielt drei im Wind baumelnde, verrottende Körper. Dieser Anblick war zwar nicht sehr einladend, aber was kümmert es mich, welche Regeln hier offenbar gelten.

So traten wir in das Gebäude ein und der Geruch, die Wärme und die Geräusche überzogen uns. Als die Bewohner uns erblickten, wurden wir gebührend empfangen. Sie jubelten uns zu und klatschten laut in die Hände. Ich wunderte mich - einzig wegen der paar wilden Tiere, die wir für sie erlegt hatten? Sehr wehrhaft schienen sie hier nicht zu sein. Ich blickte in die müden Gesichter und sah Dankbarkeit. Der Wirt, ein Mann namens Raimir Gruber, führte uns zu einem Tisch, vorbei an dem großen Baum, der hier in der Mitte der großen Halle stand und dessen Rinde mit vielen verschiedenen Schnitzereien versehen war. Am Tisch neben uns saß die Mutter des Toten und der ältere Mann, der den Abschiedsbrief dieses Siguard vorgelesen hatte. Leider hatten sie hier keinen Wein, aber der Wirt pries sein Bier an, gebraut aus dem kalten Gletscherwasser des Flusses Fireldra, der vor den Toren des Dorfes fließt. Bargh zögerte nicht lange und hatte schon bald einen großen Humpen vor sich stehen, den er mit kräftigen Zügen in sich hineinschüttete. Ich wollte dem nicht nachstehen, sonst denkt er am Ende noch ich wäre ein kleines Kind. Dennoch wäre mir Wein lieber gewesen.

Halbohr und Atahr sind langweilige Gefährten. Sie unterhielten sich nicht mit mir. Atahr machte sich schon bald auf und sprach in der Menge mit einigen Leuten, die ihm Geschichten erzählten über Tiere, die plötzlich wild und unberechenbar wurden. Atahr erkannte dies als eine Art Krankheit, die die Tiere in eine wilde Raserei versetzte. Aber auch Menschen schienen davon nicht ausgenommen zu sein, da es wohl auch Geschichten gab über Dorfbewohner, die plötzlich und ohne Vorwarnung andere erschlugen. Das war dann wohl die Erklärung für die baumelnden Kadaver am Strick des Galgens.

Halbohr setzte sich, unhöflich wie er ist, einfach an den Tisch zu der trauernden Mutter und dem älteren Mann, der sich als der Dorfvorsteher Eirold Mittelberg vorstellte. Diese berichteten ihm, dass Siguard nach seiner Rückkehr aus Kusnir anfing sich merkwürdig zu verhalten. Er führte obskure Rituale durch und erzählte über die Legende des alten Irrlings, über die er auch in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte. Offenbar eine Geschichte über ein altes Portal der Grauelfen welches sich in der Irrlingsspitze, einem markanten Berg, den wir auch auf dem Weg hierher sahen, erbaut wurde. Wohin dieses Portal führt weiß keiner, aber dass es wohl verschlossen wurde und auch nicht mehr geöffnet werden kann. Eine andere Geschichte erzählte von einem Licht am Himmel, dass man hier auch Linnerzährn nennt. Als ich das hörte, musste ich direkt ein einen bestimmten Kometen denken, der alle 23 Jahre am Himmel zu sehen ist und danach wieder verschwindet. Dieses große Fest des Dorfes, was abgesagt wurde, wurde wohl erstmalig genau dann abgehalten, als dieser Komet zu sehen war. Aber sollen sie ruhig weiter an ihre alten Legenden und Geschichten glauben.

Bargh schien an all den Gesprächen in keiner Weise interessiert zu sein. Humpen über Humpen trank er sein Bier und war bester Laune. Ich fand es anfangs auch sehr lustig, doch langsam rückte er immer näher und legte seine Hand um mich und versuchte mich zu küssen. Sicher ist er ein statthafter Mann und starker Krieger, aber etwas an ihm macht mir noch Angst. Vielleicht ist es sein verbrannter Schädel, vielleicht dieser merkwürdige Edelstein an Stelle seines Auges, jetzt natürlich verdeckt durch seine Augenbinde. Ich kann es gar nicht sagen, was mir an ihm Angst macht. Vor allem, da er auch etwas über diese Stimmen und dieses Flüstern, was ich in meinem Kopf höre, zu wissen scheint. Ich stand auf und mischte mich ebenfalls in die Menge, ließ ihn alleine zurück. Alleine schien es ihm aber auch langweilig zu werden. So suchte er einige Dirnen mit denen er sich vergnügen konnte. Soll er doch, diese Weiber wird er am nächsten Morgen wieder vergessen haben und ich werde es sein, mit dem er sein Wissen teilen wird.

Jenseher:
Finstere Träume ließen mich in der Nacht aufschrecken. Ich träumte, dass ich mit Halbohr und Bargh in den Wäldern auf Reisen war und wir unser Nachtlager aufgeschlagen hatten. Das Feuer prasselte und ich musste wohl im Traum selbst eingeschlafen sein. Mein Kopf fiel nach vorne in die Flammen und meine Haare fingen direkt Feuer. Ich erinnerte mich, dass ich im Traum schrie und mich wälzte, obwohl ich seltsamerweise keine Schmerzen spürte. Mit einer Mischung aus Entsetzen und ekelhafter Faszination betrachtete ich mich selbst, wie das Feuer von meinen Haaren auf mein Gesicht übergriff. Ich konnte fühlen, wie die Haut und das Fleisch von mir abfielen, wie eines meiner Augen durch das Feuer aus meinem Schädel hervorplatzte. Immer noch waren da keine Schmerzen. Was mich aufwachen ließ, war das Gefühl, dass irgendetwas aus meinem Bauch seinen Weg zu meinem Mund fand und dort herauskroch.

Mit diesem Schrecken fuhr ich aus meinem Bett. Ich erinnerte mich im Gasthaus zum alten Nussbaum zu sein. Das Erste was ich tat, war in meinen Mund zu greifen. Ich ertastete, ob sich irgendetwas darin befand. Erst danach fühlte ich mein Gesicht und meine Haare. Aber da war nichts. Ich war hellwach, obwohl der Morgen gerade erst graute. An weiteren Schlaf war aber nicht mehr zu denken. Ich öffnete die Fensterläden und sah, dass es über Nacht geschneit hatte. Schneebedeckte, schroffe Berge glitzerten im märchenhaften Schimmer der Spätherbstsonne. Ich atmete die klare und frostige Luft und hoffte, dass wenigstens das Frühstück etwas Gutes an diesem Morgen brächte. Das sollte sich leider als falsch herausstellen.

Nachdem ich mich gewaschen hatte, begab ich mich in die Schankstube mit dem alten Stamm. Das Mädchen des Wirtes reichte mir gebratenen Speck und Eier. Allein der Geruch des Essens brachte meinen Magen zur Rebellion. Die Magd stellte sich mir als Tochter von Raimir, als Edda Gruber vor. Und das Mädchen wollte nicht aufhören zu plappern; jedes Wort dröhnte wie ein kleiner Hammerschlag in meinem Kopf. Vielleicht waren es die Träume oder der fehlende Schlaf, aber ich befürchtete, dass ich, wenn sie weiterredete, ihren Kopf auf die Tischplatte schlagen müsse. Ja, sie sah vielleicht eine Freundin in mir. Aber was sollte sie mit ihren vielleicht 13 Wintern schon gesehen haben? Jedenfalls nicht das, was ich bereits erlebt hatte. Als Halbohr etwas später die Stufen herunterkam, war es schon fast eine Erlösung; hoffte ich doch zumindest das kleine Etwas loszuwerden. Seinen Augenringen zu urteilen schien er keine bessere Nacht als ich gehabt zu haben. Ich fragte mich, ob ihn auch Träume gequält hatten. Vielleicht, wie er selbst in dem Grab läge, was er am Tag vorher noch untersuchte. Vielleicht sah er, wie er dort lebendig begraben wird?

Halbohr hatte selbst morgens nicht besseres zu tun, als fasziniert die Schnitzereien längst vergangener Zeiten in dem riesigen alten Nußbaum zu betrachten. Dabei fragte er die Frau des Wirtes, Ilga Gruber, aus. Offenbar hatten sich über die Zeit viele Bürger von Wiesenbrück in diesem Baum verewigt und ihren Angebeteten Herzchen und schlüpfrige Sprüche hinterlassen. Einzig tief am Stamm des Baumes, wo die ältesten Schnitzereien waren, fand Halbohr etwas Interessantes. Dort waren Runen, die ihn an die elfische Schrift erinnerten. Ein Stück darüber fand er fünf Namen im Holz: Niroth, Adanrik, Kara, Faere und Waergo; umringt von einigen religiösen Symbolen, die mich an den Schutzpatron Torm erinnerten. Bei diesem Gedanken hatte ich bildhafte Erinnerungen. Von dem Turm auf der Insel und den weißen Flammen, die diesen verschlangen.

Der Wirt, Raimir Gruber, kannte sogar einige Geschichten über die fünf Namen im Stamm. Er selbst war wohl noch ein Kind, als das Dorf das große Fest feierte. Er erzählte von einer schönen Frau mit roten Haaren und feiner, schneeweißer Haut, die Lieder sang und zwei Männern vom stämmigen Volke. Offenbar war dies eine Gruppe von Abenteurern, die mit dem Erscheinen des Linnerzährn eintrafen. Sie wollten zur Irrlingsspitze aufbrechen, doch nach ihrem Auszug aus Wiesenbrück verschwanden sie spurlos.

Gerade wollte Raimir noch mehr erzählen, als plötzlich die Türe des Gasthauses aufgestoßen wurde. Die erbärmlich aussehende Gestalt des Kriegers Bargh trat herein, wobei stolpern die bessere Wortwahl gewesen wäre. Offenbar war er immer noch betrunken. Seine Augenbinde, hinter der er den roten Edelstein versteckte, trug einen dunklen Blutfleck. Doch das bereits mit dem Fleisch verwachsene Juwel war jetzt nicht zu sehen. Lallend erzählte er, dass die beiden Dirnen, mit denen er sich in der Nacht vergnügen musste, versucht hatten, ihm den Rubin aus der Augenhöhle zu schneiden. Es dauerte nicht lange und die beiden Weibsstücke, Reldra und Fära, kamen herein. Sie waren ihm anscheinend gefolgt. Auch sie waren noch betrunken und sie wollten wohl den Fang des gestrigen Abends wiederholen. Reldra griff sich in den Schritt und führte obszöne Gestiken durch. Fära hob einhändig eine ihrer Brüste und streckte ihre Zunge heraus, um ein lüsternes Lecken anzudeuten. Beide lachten in einem hässlichen, trunkenen Ton. Ich musste mich fast übergeben, doch Halbohr schien, völlig unberührt von dem widerlichen Anblick, die entstehende Szene zu seinen Gunsten auszulegen. Gespielt verärgert trat er den beiden entgegen und drohte ihnen hinsichtlich ihrer Tat mit dem Strick. Auch Raimir, der das Schauspiel mit einem gewissen Erstaunen betrachtete, stimmte dem zu. Davon ließen sich die beiden beeindrucken und zogen es vor wieder zu verschwinden. Halbohr wollte sich jedoch nicht damit zufriedengeben und Gerechtigkeit walten lassen. Das sagte er zumindest Raimir. Ich selbst glaubte aber, dass es ihm Freude bereiten würde, wenn er die beiden Weibsstücke am oberen Ende eines Galgens baumeln sehen würde. Also ging Halbohr schnurstracks zu Eirold, dem Dorfvorsteher.

Ich vermute, dass er versuchte Eirold von seinen Plänen zu überzeugen. Was die beiden alles besprochen haben kann ich nicht sagen, aber es dauerte länger. Während Halbohr also noch unterwegs war, betraten zwei von Schneeflocken bedeckte Männer das Gasthaus. Es hatte wohl wieder begonnen zu schneien. Beide Männer waren offenbar Jäger; der eine mit einem Bogen bewaffnet und der andere mit einem Schwert. Der Mann mit dem Schwert baute sich vor Bargh auf. Dieser Jäger schien wohl nicht ganz bei Sinnen zu sein, denn er forderte Bargh zum Zweikampf heraus. Als Grund nannte er den Beischlaf mit seiner Frau. Ich musste kurz in mich hinein kichern, als diese mickrige Gestalt im Vergleich zum großen Bargh dort stand. Als sich herausstellte, dass die beiden Weibstücke die Frauen dieser beiden waren, wurde es immer lustiger. Jetzt kehrte auch Halbohr wieder zurück. Jedoch verstand er entweder die Komik dieser Situation nicht oder er hatte einfach keinen Sinn dafür. Er stellte sich hinter den Bogenschützen, zog seine Dolche und beobachtete schweigend.

Bargh kämpfte immer noch mit seinem Kater. Es schien mir, als hätte er gar nicht das Verlangen, von seinem Tisch aufzustehen. Gierig schlang er das Frühstück hinein, das ich ihm überlassen hatte. Doch der Jäger ließ nicht locker, beleidigte seine Ehre und forderte ihn erneut heraus. Dann erhob sich Bargh. Ich hätte gerne gewusst, was im Kopf des Fremden vorging, als der Krieger Jiarliraes ihm entgegenstand und er nun den Kopf heben musste. Auch als Bargh seine merkwürdige Klinge zog, die aus dem Stahl Schatten zu bluten schien, arbeitete es in seinem Gesicht. Allerdings hatte er keine Zeit mehr seinen Fehler zu erkennen. Bargh schwang sein Schwert, dessen Schatten sich mit dem Schlag in züngelnde Flammen aus heißem Feuer verwandelten. Mit einem kräftigen Hieb stieß er das Schwert in den Leib und mit einem schnellen zweiten Schlag hieb er dem armen Wicht das Bein unterhalb der Hüfte ab. Der Tölpel konnte nicht einmal mehr schreien als der Tod ihn mitnahm. Der andere Jäger schien mehr Verstand zu haben. Als er sah, wie sein Freund in feurigen Wunden zu Boden ging, suchte er sein Heil in der Flucht. Halbohr hielt ihn zwar noch einen Moment fest, doch er wand sich wie ein Wurm und verschwand aus dem Gasthaus. Wie sich später herausstellte auch aus dem Dorf, mitsamt den beiden Frauen.

Nach diesem ereignisreichen Morgen verlief der Tag ziemlich langweilig für mich. Halbohr stellte einige Besorgungen an, Bargh schlief seinen Rausch aus und ich selbst versuchte meinen Magen zur Ruhe zu bringen. Als wir abends wieder im Gasthaus saßen, hörten wir von draußen plötzlich ein Gewirr von Stimmen. Auf dem kleinen Platz vor dem Wirtshaus hatten sich etliche Menschen versammelt und starrten in den Himmel. Es war wärmer geworden und der Schnee hatte begonnen zu tauen. Zudem war es aufgeklart, so dass wir ein malerisches Bild erblickten. Dort, zwischen den Sternen und hell leuchtend wie ein zweiter Mond, sahen wir ein Licht am Himmelszelt: Direkt über dem größten schneebedeckten Berg, über der pyramidenförmig aufragenden, gefährlich steilen Irrlingsspitze, thronte der Linnzerzährn, eine leuchtende Kugel in einem unnatürlichen gelblichen Licht. Die Menschen schienen von dem Anblick in einen Bann gezogen zu sein. Auch Bargh, der in der Erscheinung ein Zeichen seiner Göttin sah. Ich muss gestehen, dass dieser Anblick faszinierend war; und wer weiß, vielleicht hat Bargh sogar Recht, dass seine Herrin der Feuer und Schatten dort, auf der Spitze des Berges, auf unsere Welt hinab schreiten will. Und vielleicht, nur wirklich vielleicht, kann sie mir Fragen beantworten. Fragen, die ich mich selbst nicht traute laut zu stellen.

Wir erfuhren von den Leuten weitere Legenden über den Linnerzährn und die Irrlingsspitze. Es heißt, dass sich ein Portal in den Berg nur dann öffnet, wenn der Linnerzährn sein Licht über ihn ergießt. Ich überlegte kurz und erschrak: Offenbar bleibt er nur wenige Wochen am Himmel und verschwindet dann wieder für die nächsten 23 Jahre. Eile war also geboten, wenn ich meine Antworten erhalten wollte.

Wir hielten uns nicht lange auf. Schnell packten wir unsere Rucksäcke mit Verpflegung. Bargh übergab sein Pferd in die Obhut von Raimir Gruber und so machten uns auf den Weg. Wieder durch die Dunkelheit, wieder durch Kälte, wobei es wesentlich wärmer geworden war, seitdem der Komet am Himmel stand.

Wir verließen das Tal des Dorfes und folgten dem Fluss. Die Nacht sah gespenstisch aus in dem gelben Licht. Der Schimmer überstrahlte inzwischen sogar den Mond und die Felsen, denen wir uns näherten. Alles verwandelte sich in eine unwirkliche Kulisse – so als ob die Farben einem Spiel aus Licht und Dunkelheit gewichen wären. Als wir uns weiter der Felswand näherten, die einen Engpass zwischen Weg und dem Fluss Fireldra darstellte, wurde unser Pfad von einigen großen Felsbrocken unterbrochen. Halbohr sagte, er würde von dort ein merkwürdiges Schmatzen hören. Also schlich er sich über die Felsbrocken weiter nach vorne. Aber schon nach kurzer Zeit kehrte er wieder zurück. Eine riesige Kreatur befand sich wohl auf dem Weg, hinter den Felsbrocken. Mir schauderte zwar etwas, aber Bargh würde wohl auch mit so einer Kreatur schnell fertig werden. Vorsichtig schlichen wir uns alle an die Kreatur an. Als Halbohr von einer großen Kreatur sprach, erwartete ich etwas, das vielleicht einen Kopf größer als Bargh war. Was ich aber dort sah ließ mein Blut gefrieren. Die Kreatur, bei genauerem Hinblicken offenbar weiblich, war nicht nur groß, sondern wirklich gewaltig. Bestimmt vier bis fünf Schritt hoch, fett, und von einer abscheulichen Hässlichkeit, die einem den Magen nochmals umzudrehen vermochte. Sie kniete vor einem Haufen von Leichenteilen und biss gerade genüsslich in ein Bein irgendeiner Kreatur. Sabber und Schleim tropfte herab. Uns hatte sie den Rücken zugewandt. Plötzlich ging alles schnell. Halbohr stieß seinen Dolch der Gestalt in die Rückseite; Bargh stürmte heran und ließ sein Schwert sausen. Ich selbst beschwor die mir unbekannte Macht, auf dass sie mir flammende Speere schenke.

Die Kreatur torkelte auf den Abgrund neben dem Felspfad zu, als Stahl und Feuer tiefe Wunden in sie rissen. Sie stürzte in die Tiefe und in Richtung der reißenden Wasser der Fireldra. Doch noch im Todeskampf blickte sie flehend auf den Vorsprung, der bergwärts von dem in den Felsen geschlagenen Weg emporragte. Ich selbst verstand es nicht, doch Bargh und Halbohr zogen mich in den Schutz der Felswand. Als ich dem Blick der Kreatur folgte, sah ich es: Dort, am Rand der Felswand und etwa vierzig Schritt über uns, standen drei weitere dieser Kreaturen. Doch diese waren noch größer. Und tatsächlich, die Gestalt, die wir erschlagen hatten, hatte etwas Kindliches an sich gehabt. Dort oben befanden sich die Eltern und vielleicht ein Bruder, die mit wütendem Brüllen den Tod ihrer Tochter beobachtet hatten. Die Mutter schien ihren Verstand verloren zu haben, blutiger Schaum und Geifer bildete sich um ihr riesiges Maul, fast wie die Tollwut der Bären auf dem Friedhof. Ohne Vernunft ließ sie sich einfach auf uns fallen, um uns mit ihren Massen zu zermalmen. Zum Glück verfehlte sie uns um Haaresbreite. Wir hörten das Knacken von Knochen, das Reißen von Sehnen, als sie auf das Geröll schlug. Halbohr nutzte den Moment und schnitt ihr die Kehle durch, während sie versuchte sich aufzurappeln. Im halbdunklen Zwielicht des Kometen sah ich ihren gewölbten, fleischigen Körper zu Boden sinken, wie ein nasser Sack. Ein dunkler Blutregen sprühte aus ihrer zerschnittenen Kehle und blutige, geborstene Knochenstümpfe ragten aus ihren Fettmassen hervor. Wir saßen in der Falle und die einzige Flucht ging weiter den Felsenweg entlang. Also stürmten wir vorwärts über die Felsbrocken und liefen in ein Waldstück. Bargh gab kurze Befehle. Er wies mich an einen Felsen zu erklimmen, während Halbohr sich verstecken sollte und die Gestalten hinterrücks erlegen sollte.

Es sollte auch nicht lange dauern, bis das Donnern der trampelnden Schritte der Riesen zwischen den Bäumen hallte. Einige der alten Fichten begannen sich zu biegen, als der erste der beiden zwei verbleibenden Monster - ich kann nicht sagen ob es ein Bruder oder der Vater war - näherkam. Der Riese trampelte auf Bargh zu, der sich wiederum am Fuße des Felsens postiert hatte. Ich konnte dort hinabschauen und glaubte, in meinem Grauen unseren Untergang zu sehen. Doch Bargh kanalisierte die Macht seiner Herrin direkt in den Stahl seiner Klinge und auch ich bat wieder meinen unheimlichen Verbündeten um Unterstützung. Mit unseren Feuern konnten wir auch dieses Geschöpf erledigen. Plötzlich erstrahlte ein feuriger Schein vom Gipfel der Irrlingsspitze. Der obere Teil des schneebedeckten Berges schien mit einem Mal in Flammen zu stehen und eine gewaltige feurige Säule schoss dem Kometen Linnerzährn entgegen. Einen Moment später krachte der gewaltige Donner des Schauspiels auf uns herab und brachte unsere Ohren zum Klingeln. Wir konnten die Hitze der Flammen spüren. Selbst hier, wo wir doch noch so weit weg waren.

Die dritte Kreatur schien davon nicht beeindruckt zu sein. Sie stürmte auf uns zu, blind vor Wut und Haß. Diese Wut und diese Raserei, wir konnten sie alle spüren. Ich konnte deutlich sehen, wie sich auch vor den Lippen Barghs Schaum bildete. Halbohrs Gesicht verzerrte sich, doch er konnte sich noch kontrollieren. Auch ich spürte die Wut - entfernt wie ein leiser Schrei, schwach aber dennoch furchtbar anzuhören. Bargh hieb mit seinem Schwert auf die letzte Gestalt. Immer und immer wieder, selbst als diese schon zu Boden gegangen war. Mit den letzten Hieben hackte er ihr den Kopf vom Hals, als ob er einen Baum fällen würde.

Unser Blut gerät mehr und mehr in Wallung. Jeden Schritt, den wir auf die unheilvolle Spitze der Schneeberge zutun, ein wenig mehr. Ich gestehe: Ich fürchte mich. Nicht vor Monstern oder Wegelagerern. Das sind Ängste, die schnell wieder vorbeigehen. Nein, ich fürchte mich vor dem, was mich dort erwarten könnte. Ich fürchte mich vor den Antworten, die ich erhalten könnte. Ich weiß nämlich selbst noch nicht, ob mir diese auch gefallen werden.

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