Hallo Tanelorn. Es ist eine ganze Weile her, dass ich meine grundlegenden Gedanken zum Thema Rollenspiel hier zur Diskussion gestellt habe. Die nun folgende Wall of Text ist mein finaler Rundumschlag zur Einordnung vieler vorangegangener Debatten, an die sich einige der Älteren unter euch vielleicht noch erinnern werden.
(Edit: Der Beitrag war noch etwas unausgegoren, worauf ich eigentlich hinauswollte, habe ich
hier dann noch mal zusammengefasst.)
1) Erzählspiel heute, und kleine gallische DörferIch muss vorsichtig sein, wenn ich “heute” schreibe. Für mich bedeutet “heute” pbtA und Critical Role, die natürlich längst nicht mehr der neue heiße Scheiß sind. Falls ich also ein paar Sachen verschlafen habe hier auf meiner Insel, seht es mir bitte nach. Das “heute”, das mir bekannt ist, umfasst eine relativ große und diffuse Gruppe von Rollenspielern, die im weitesten Sinne für sich in Anspruch nehmen, Rollenspiel „wegen der Story“ zu spielen. Und da sind die beiden eingangs erwähnten Phänomene besonders aufschlussreich.
Wir haben einerseits pbtA und verwandte Spiele, mit und ohne Spielleiter, die auf Improvisation mit gezielten Inputs durch das System setzen. Genre spielt eine große Rolle, es geht um Spielfluss und Tempo, um Erzählmuster und deren Verkettung, während Simulation und Taktik so gut wie keine Rolle spielen.
Andererseits haben wir D&D5, mit Matt Mercer als Idealtyp des erzählerischen DM. Hier spielen Simulation und Taktik sehr wohl eine Rolle. Die Welt und ihre inneren Zusammenhänge einerseits, und der “Spiel”-Aspekt andererseits, verlangen ebenso ihr Recht wie die Story. Dennoch ist die (Protagonisten-)Rolle der SCs wesentlich, mit Backstory und Persönlichkeitsentwicklung, Beziehungen zu NSCs, Themen, Konflikten usw. Und die Inszenierung des DM muss die Abenteuer in eine übergeordnete Erzählung einbinden. Die Kampagne wird in Episoden, Arcs und Seasons gedacht, letztlich dramaturgisch durchdekliniert.
Für mich persönlich ist die entscheidende Erkenntnis: Ich bin weder das eine, noch das andere. Ich kann mit D&D5 mehr anfangen als mit pbtA, aber das, was ich persönlich meine, wenn ich Erzählspiel sage; das, was mich wirklich für Rollenspiel brennen lässt, ist noch mal eine ganz andere Baustelle.
Als das Tanelorn noch GroFaFo hieß und noch niemand was von Forge oder OSR gehört hatte, traf ich hier auf eine kleine Gruppe von Leuten, die beim Rollenspiel genauso tickten wie ich, und das war für mich ein echter Glücksfall. Heute, 20 Jahre
später, sind wir noch immer eine kleine Gruppe von Leuten. Klar fühlen sich viele von uns auch in pbtA und/oder D&D5 wohl. Doch der für uns prägende Stil, tja, der hat sich nicht auf breiter Linie durchgesetzt.
2) Doktor Plot und das große DramaWas wir selbst “Drama-Runden” nennen, ohne freilich Exklusivität auf diese Bezeichnung beanspruchen zu können, erscheint vielen prätentiös. Es erscheint übertrieben anspruchsvoll, bis hin zu dem Punkt, wo die Frage erlaubt ist, ob wir diesen Ansprüchen überhaupt gerecht werden können, oder ob wir uns das nur einbilden.
Wenn wir Bücher über Plot-Strukturen studieren, wenn wir 20, 30, in Extremfällen über 100 Seiten vollschreiben für eine einzige Spielsitzung und Bilder für jeden noch so unwichtigen NSC heraussuchen; wenn wir über Character Arcs und Subplots, über Set-up und Pay-off, über Konflikte und deren Auflösung schwadronieren, dann kommt es vielen so vor, als würden wir Rollenspiel mit dem schlechten Roman oder Drehbuch verwechseln, das wir eigentlich schreiben wollen.
Wenn wir als Gruppe stundenlang im Voicechat diskutieren und planen, in
Vorbereitung auf eine Spielrunde; wenn wir als SL vor dem Abenteuer Szenen aufschreiben, die im Spiel stattfinden sollen, vielleicht sogar mit einem dezidiert dafür vorgesehenen Track in der Playlist, dann erweckt das bei vielen den Eindruck, als würden wir alles, was passiert, schon vorher festlegen, und am Spieltisch nur noch das Skript nachspielen.
Viele Worte habe ich verwendet, um diese Irrtümer aufzuklären, doch in den Ohren der Zweifler klang es stets nur nach lahmen Rechtfertigungen. Offenbar ist jemandem, der dafür nicht die Neigung mitbringt, kaum zu vermitteln, was da wirklich passiert. Wie es sich anfühlt, wenn vier, fünf, sechs Leute am Tisch, alle mit dieser Intensität und diesem Anspruch, alle mit einer gemeinsamen Wellenlänge und einem gemeinsamen Verständnis dafür, was für eine Art von Geschichte hier erzählt wird, aus dem Vollen ihrer Vorbereitung schöpfen. Wenn das Skript zum Leben erwacht, arbeitet, sich sortiert und vervollständigt, vielleicht unerwartete Wege geht oder vielleicht auch die erwarteten, aber man muss dort eben erst einmal
hinkommen, man muss es erstmal
wahr werden lassen am Spieltisch.
Zu erleben, wie man an einem bestimmten Punkt nicht weiterweiß, feststeckt wie George R. R. Martin, und dann kommt ein Mitspieler mit dem öffnenden Pass, und alle Puzzleteile fügen sich plötzlich zusammen. Das sind Momente, oh Mann, da möchte ich den Mitspieler umarmen (und habe es gelegentlich schon getan). Das ist eine Form von Flow und auch von Intimität, die für mich einfach mindblowing war und ist.
Die Intimität und Emotionalität, die wir da beschreiben, kommt vielen seltsam, vielleicht sogar ein bisschen krank vor. Wenn Leute so über mich und meine Freunde sprachen, hat mich das früher unfassbar wütend gemacht, sicher einer der Gründe für meinen weitgehenden Foren-Rückzug. Natürlich war es naiv von mir, derart intime Erlebnisse öffentlich zu teilen und nicht damit zu rechnen, dass einige das ablehnen würden, oder es ausnutzen, um zu trollen. Ein paarmal habe ich dabei auch Mitspieler ungefragt exponiert, wofür ich mich bis heute schäme. Ich habe die Folgen damals einfach nicht überblickt. Falls du das liest und es dich betrifft: es tut mir ehrlich leid.
Also, Drama-Runden: Aufwendig vorbereitet, mit viel Spieler-Input im Vorfeld und Orientierung an Plot-Modellen. Geplant und orchestriert, denn auch im Rollenspiel gilt: Pläne sind nutzlos, aber Planung ist alles. Und erst am Spieltisch kommt alles zusammen und nimmt seine endgültige Form an. Da geht es in die Szenen, die Beschreibungen, die wörtliche Rede, beat for beat, da ist jeder gefragt. Der Anspruch ist, unsere Story in dieser volatilen One-Take-Erzählform, die wir Rollenspiel nennen, so tight, überzeugend, mitreißend und unterhaltsam zu erspielen, wie wir nur irgend können.
3) Ersatzbefriedigung und Ersatz-ErsatzbefriedigungIch persönlich habe durch das GroFaFo/Tanelorn überhaupt erst die Möglichkeit gehabt, solche Drama-Runden in Vollbesetzung mit Leuten zu spielen, die genauso verrückt sind wie ich. Was für eine Offenbarung, im reifen Alter von 27. Jedoch! Ich habe solche Runden schon seit jeher vor Augen gehabt. Manchmal blättere ich in alten Regelwerken, die ich als Teenager gelesen habe, und finde Passagen, die ich damals (ja, im Buch) unterstrichen habe.
Es sind ausnahmslos Passagen, die über genau diese Art von Intensität sprechen, die ich am Spieltisch erleben wollte und in seltenen Fällen auch bereits erlebt hatte.
Für eine relativ lange Zeit war meine Ersatzbefriedigung, mich als SL ganz alleine um Drama am Spieltisch zu kümmern, bis hin zu dem Punkt, wo
ich die Vorgeschichten der SCs geschrieben habe, in der 2. Person. Natürlich kam auch die ganze Klaviatur des Illusionismus zum Einsatz (außer bei Kämpfen, die habe ich immer offen gewürfelt, haha, meiner Zeit voraus
). Ich habe mir nie große Mühe gegeben zu leugnen, dass bestimmte Dinge passierten, weil sie eben gescriptet waren. Trotzdem war es anstrengend und führte irgendwann zum SL-Burnout. Bis dahin aber kam es bei den Spielern nach eigenem Bekunden sehr gut an. Letztendlich war ich ihr Matt Mercer für Arme und sie waren happy damit. Über Jahre hatte ich meine Freude daran, mich in diesen Runden erzählerisch auszutoben und alles rauszuhauen, was ich hatte. Doch als ich dann erlebte, wie es ist, wenn alle Mitspieler so Gas geben, konnte ich nicht mehr zurück.
Der Alleinunterhalter-SL ist ja bekanntlich ein Evergreen-Thema. In meinem Falle war es so, dass das, was ich anzubieten hatte, zum Glück auch nachgefragt wurde. Doch es haben sich im Forum viele zu Wort gemeldet, die das ganz anders erlebt haben. Sei es durch Spielleiter, die so wie ich Drama wollten, notfalls auch im Alleingang, dabei aber im Gegensatz zu mir auf Widerstand stießen, und dann meinten, ihr Drama erzwingen zu können. Oder sei es durch Spielleiter, die über Sozialisierung und Nachahmung diesen Leitstil unhinterfragt angenommen hatten, obwohl sie eigentlich
nicht einmal die notwendige Begeisterung für Storys mitbrachten. Wenn du Drama-Spiel durch diesen doppelten Zerrspiegel der Ersatz-Ersatzbefriedigung betrachtest und denkst,
davon rede ich, dann ist es kein Wunder, dass du mir nicht traust.
4) Das große MissverständnisDie Passagen, die Teenage-Vermi in den 90ern in seinen Regelwerken unterstrich, mögen von Autoren gestammt haben, die meine Neigung teilten. Spielrunden wie meine, in denen verhinderte Drama-Spieler den Zampano-SL für eine Gruppe von (mehr oder weniger) Casual Gamers gaben, hat es in den 80ern/90ern wohl einige gegeben. Solche Runden mögen ein gewisses Bild davon geprägt haben, was ein “guter Spielleiter” sei. Jaja, es riecht hier nach Eichenlaub, schon klar. Aber dieses Bild hat sich ja als ziemlich problematisch herausgestellt.
Der Sündenfall war, dass Spielleiter und Autoren irgendwann anfingen, den Spieler als Feind des Dramas zu begreifen (siehe “Auf ein Wort” usw.) Es machte sich die absurde Vorstellung breit, ein Spielleiter müsste die Story quasi vor den Spielern beschützen. Aber wenn deine Spieler nur noch als Staffage dienen bei einer Inszenierung, die dann offenbar keinem anderen Zweck mehr dient als deiner eigenen Erbauung, dann solltest du dir schon mal Gedanken machen, was das dann über dich aussagt.
Das will ich gar nicht vertiefen, ist ja hinlänglich ausgewertet und auch der Powergamer ist längst rehabilitiert. Sondern worauf ich hinaus möchte, ist ein Missverständnis, das glaube ich aus vielen SL-Leitfäden jener Zeit spricht. Und dieses Missverständnis lautet: Rollenspiel wegen der Story zu spielen heißt, Drama-Runden zu spielen.
Was mich zu meinem Full Circle führt. Nachdem der Mythos des “guten Spielleiters” gleich aus zwei verschiedenen Richtungen dekonstruiert worden ist, nachdem Forge und OSR, pbtA und Critical Role alte Hüte sind, hat sich die Landschaft sortiert. Und dabei hat sich gezeigt, dass die meisten Leute, die von Story beim Rollenspiel reden, nicht meinen: “Lasst uns mit absurd hohem Invest die verdammt beste Story erzählen, die wir überhaupt in einem komprimierten One-Take gemeinsam rollenspielerisch erzählen können.” Sondern die meisten meinen: “Lasst uns einfach modernes D&D spielen, wo die Abenteuer sich wie ein Film oder Roman anfühlen, aber gefälligst ohne Schummeln bei den Kämpfen.” Und von denen, die danach noch übrig sind, meinen die meisten: “Lasst uns frei drauflos erzählen und schauen, wo uns das hinführt. Lasst uns improvisieren und nicht alles so eng sehen.”
(GNS-Exkurs: Wenn daher der Forge-Narrativist Player Agency faktisch damit gleichsetzt, während des Spiels der Handlung spontan eine ganz neue Wendung geben zu können, dann zeigt sich, dass es bei Story Now eigentlich bloß um eine technische Vorliebe für Improvisation ging. Exkurs Ende.)
5) FazitDieser Post ist persönlicher geworden, als ich anfangs erwartet habe. Wenn du bis hier durchgehalten hast, danke ich dir für deine Zeit. Worauf aber will ich nun eigentlich hinaus?
Es gab einmal eine Zeit, da dachte ich, die Leute müssten doch unvoreingenommen neugierig sein, was zum Henker wir da eigentlich mit unseren Drama-Runden spielen und warum wir das so unfassbar feiern. Inzwischen verstehe ich besser, warum viele mit großer Skepsis reagierten und uns verdächtigten, mit dunklen Mächten im Bunde zustehen. Einige verfolgten natürlich schlicht eine Agenda, aber andere hatten legitime, persönliche Gründe.
Es gab einmal eine Zeit, da dachte ich, die Forger könnten in ihrem Labor ein Rezept zusammengekocht haben, wie man den Pay-off, den ich suchte, ohne den absurden Invest bekommen könnte. Inzwischen verstehe ich, dass es den Forgern um diesen Pay-off nie ging, sondern um Impro-Spiel mit seinem ganz eigenen Pay-off, der für mich nur in den seltensten Fällen funktioniert hat.
All dem lag jenes Missverständnis zugrunde, das ich hier in meiner ausschweifenden Art versucht habe auszuräumen. Vielleicht konnte ich für den ein oder anderen ja ein paar neue Zusammenhänge sichtbar machen. Oder vielleicht ist es auch nur so, dass ich immer noch dieses irrationale Bedürfnis verspüre, mich, meine Freunde und unser Spiel, das wir so lieben, gegen Angriffe von Fremden im Internet zu verteidigen. Hatte ich mir nicht eigentlich vorgenommen, allenfalls noch mit Polemik gegenzuhalten? Way to go, Vermi! Wenn ich also nun hier stehe und nicht anders kann, dann sei dies meine endgültige und ultimative Verteidigungsschrift.
Fühlt sich wie ein Abschied an. Huh.