Kurze Antwort - ein klares:
Jain!
Lange Antwort: Wie immer kommt es auf Erwartungen, Vorlieben und Spielfokus an. Grundsätzlich hast du ja mit "progressiv" eine naheliegende Antwort vorweggenommen, denn natürlich eignet sich
dafür ganz explizit nur ein System, welches Progression anbietet. Zugrunde liegt für so eine Spielweise u.a. das Motiv der Heldenreise - allerdings meist reduziert auf den Aspekt der "Verbesserung" des Charakters, während eigentlich (wenn wir mal ehrlich sind) bei Dauerkampagnen kein echtes, innerliches Wachstum stattfindet in dem Sinne, das Motivation, Überzeugung, Ziele und Umfeld der Figuren sich selten relevant ändern: Man hat seine Gruppe (manchmal wird einer ersetzt) und reist durch die Abenteuer-Weltgeschichte. Innerhalb gewisser Grenzen kann sich ein Charakter zwar entwickeln, wird sich aber bspw. kaum irgendwo länger niederlassen - einfach weil er dadurch die Kernmotivation des Spielenden "Ich will beim nächsten Abenteuer dabei sein!" unterlaufen würde.
Jetzt kann man natürlich den Spielfokus mehr auf diese inneren Werte legen und ableitend von persönlichen Motivation der SC (gemeinsam) überhaupt erst Abenteuer entwickeln, die diese Art der Charakterveränderung möglich machen und sogar fördern. In so einer Spielweise verliert die Werteprogression an Bedeutung, kann in Grenzfällen sogar hinderlich sein: Wenn ich zum Beispiel recht detailliert Charakterdramen ausspiele mit viel wörtlicher Rede, findet das quasi in Echtzeit statt. Gemessen an typischen Szenarien, wo auch mal Tage in wenigen Minuten vergehen, tun SC in der Spielzeit verhältnismäßig wenig - und doch will man ja (in einem entsprechenden System) vielleicht Erfahrungspunkte? Gibt ja auch Systeme, die für jede Sitzung pauschal Punkte vergeben. Im schlimmsten Fall habe ich dann einen SC, der 2 Stufen aufgestiegen ist und ein Dutzend Fertigkeiten verbessert hat, während man ingame nur eine Hochzeit durchgespielt hat
*
Zugegeben ist das ein sehr konstruierter Fall, soll aber verdeutlichen, dass Ingame-Zeit und Progression idealerweise zusammen passen sollten. Verändere ich die Spielweise also, dass ich weniger Ingame-Zeit habe, spielt Werteprogression eine immer untergeordnete Rolle bis hin zu einem sehr konkreten Spielfokus oder sogar einem definierten Spielziel. In
Honeyheist geht es darum, den Honig zu klauen - in einer Sitzung. In
Ten Candles geht es um das Scheitern der SC - in einer Sitzung. In
Wanderhome kann man schonmal mehrere Sitzungen damit zubringen, bis alle am Ende irgendwo ein Zuhause gefunden haben. Fate und PbtA sind dagegen durchaus auf längerfristige Charakterentwicklung eingestellt, ohne dass man spürbar "besser" wird und sich ggf. sogar voneinander entfernt - vielmehr verändern sich über die Zeit und Erlebnisse die Figuren und erhalten teilweise nur mehr bzw. andere Optionen, mit Situationen umzugehen.
Darüber hinaus brauchen simplere Systeme weniger Aufmerksamkeit von Beteiligten, es müssen seltener Regeln nachgeschlagen oder diskutiert werden und man bleibt mehr im Spielgeschehen involviert. Das sind Vorteile, die einem auf "innere Progression" fokussierte Kampagnen begünstigen können. Sie stehen dem auf jeden Fall nicht mehr im Wege, als komplexere Systeme.
Am Ende ist aber die Frage, ob sie
gut geeignet sind, mit der Gegenfrage zu beantworten: Welche Art von Progression ist denn gemeint?
Einige der genannten Systeme können gut oder besser geeignet sein, als große Systeme. Andere dagegen sind gar nicht geeignet. Umgekehrt verlieren große Systeme mit langfristiger Progression ihre Stärke, wenn sie für kurze, schnelle Runden, Oneshots oder Minikampagnen genutzt werden.