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Meaningful Choices

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Maarzan:
Das meaningful scheint mir hier nahe an einem "false friend" bei der Übersetzung, also nicht Bedeutung im Sinne von bedeutsam oder folgeschwer sondern "bewusste und sinnvolle Entscheidungen zu treffen."

manbehind:
Ich komme hier noch mal auf die u. a. eingangs zitierte Quelle von Brice Morrison zurück. Das mache ich nicht, weil ich ein großer Fan von Brice Morrison bin (ich kenne ihn nicht), sondern weil mich die Konzepte überzeugt haben.

Morrison selbst ist Videospiel-Designer und hat seine Gedanken hier in einem Blog präsentiert; der Beitrag stammt aus 2013. Er hat beim Spielen u. a. von „The Walking Dead“ die Feststellung gemacht, dass bestimmte Entscheidungen bedeutsamer sind als andere und geht der Frage nach, was genau eine bedeutsame Entscheidung ausmacht und wie sie sich also von nicht-bedeutsamen Entscheidungen unterscheidet.

In seinem Blog schreibt er:


--- Zitat von: Brice Morrison ---Meaningful choice requires the following four components:

1.   Awareness - The player must be somewhat aware they are making a choice (perceive options)
2.   (Gameplay) Consequences – The choice must have consequences (that are both gameplay and aesthetically oriented)*
3.   Reminders – The player must be reminded of the choice they made after thay made it
4.   Permanence - The player cannot go back and undo their choice after exploring the consequences

* Klammersetzung von mir
--- Ende Zitat ---

D. h. wenn jeder der vier Punkte erfüllt ist, dann ist die Entscheidung per Definition bedeutsam. Wenn einer oder mehrere der vier Punkte nicht erfüllt sind, dann ist die Entscheidung per Definition nicht bedeutsam.

Auf mein Kaffee-Beispiel aus diesem Beitrag würde Morrison also erwidern:

„Hier sind die Punkte 1, 2 und 4 erfüllt, aber weil Punkt 3 nicht erfüllt ist, handelt es sich per Definition nicht um eine bedeutsame Entscheidung.“

Mit dieser Definition kann man arbeiten und konkrete Antworten auf ebenso konkrete Fragen finden:


--- Zitat von: Shao-Mo am  9.05.2024 | 17:52 ---Ich würde gerne Mal wissen, ob es einen Unterschied macht, ob die Entscheidung direkt oder indirekt einfluss auf die Situation hat.

*snip*
--- Ende Zitat ---

Laut obiger Definition:

1)   Der Begriff “Situation” kommt in der Definition nicht vor, trotzdem wäre das „Verbrecher-Beispiel“ nach Morrison eine bedeutsame Entscheidung.
2)   Die Definition unterscheidet auch nicht zwischen „direktem oder indirektem Einfluss auf die Situation“. Die Entscheidung muss Konsequenzen haben, und die Spielwelt muss die Spieler daran erinnern, dass sie die Entscheidung getroffen haben. Im zweiten Beispiel kommt es darauf an, ob die Entscheidung für die Spieler Konsequenzen hat. Das könnte z. B. dann der Fall sein, wenn ein Dritter sich später an anderen für die Entscheidung rächt. Wichtig ist, dass sich jeder der vier Punkte identifizieren lässt.


--- Zitat von: nobody@home am  9.05.2024 | 18:45 ---Ich überlege mittlerweile, ob es sich vielleicht lohnt, "meaningful choices" in spieler- und SL-seitige aufzuteilen. Soll heißen: als Spieler habe ich ja meist eh nicht den kompletten Überblick, "bedeutungsvoll" sind für mich da also noch am ehesten die Entscheidungen, die sich im konkreten Augenblick, in dem sie anstehen, für mich persönlich am meisten danach anfühlen. Das können aber ganz andere sein als die, die ich andererseits als Spielleitung mit meinen kompletten Vorbereitungen im Kopf als bedeutungsvoll für die weitere Entwicklung des Szenarios im Spiel einschätzen würde, potentiell völlig unabhängig davon, wie leicht oder schwer sich wiederum die Spieler mit ihnen tun mögen...

--- Ende Zitat ---

Die Idee dahinter ist ja, das Spielerlebnis zu verbessern. In dem o. g. Blog findet sich eine Beschreibung des Problems:


--- Zitat von: Kyle Orland from Ars Technica --- I rarely if ever stopped to consider a choice in Beyond: Two Souls...Instead, I mainly sleepwalked through a seemingly endless sequence of practically preordained story beats, struggling to care as I was dragged through a clichéd plot with no sense of meaningful agency.
--- Ende Zitat ---

D. h. eine Aneinanderreihung nicht-bedeutsamer Entscheidungen führt zu einem nicht-bedeutsamen Spielerlebnis; das ist jedenfalls die Prämisse hinter dem Konzept der "meaningful choice". Meiner Ansicht nach macht es immer Sinn, als Spielleiter zu überlegen, welche Konsequenzen die Handlungen von Spielern für sie zu einem späteren Zeitpunkt haben können, auch wenn sie diese Konsequenzen zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht absehen konnten.

haste nicht gesehen:

--- Zitat von: Maarzan am  9.05.2024 | 20:06 ---Das meaningful scheint mir hier nahe an einem "false friend" bei der Übersetzung, also nicht Bedeutung im Sinne von bedeutsam oder folgeschwer sondern "bewusste und sinnvolle Entscheidungen zu treffen."

--- Ende Zitat ---

Ja, der Gedanke ist mir auch gekommen. Vermutlich ist es einfach dem amerikanischen Sprachgebrauch geschuldet, starke Wörter zu nutzen. Im Deutschen ist das unüblich(er) und wird daher anders assoziiert. Ungefähr so, wie wenn im Englischen "I love..."  verwendet wird. Wir würden eher "mögen" verwenden, statt "lieben".

Ich denke daher, dass damit einfach "nur" gemeint ist, dass die Spieler Entscheidungen treffen können sollen, die Einfluss auf das Spielgeschehen haben. (Thema railroading, player agency usw.)

Und damit ist es dann auch praxistauglich, da es eben nicht immer um vorab konstruierte schwere Entscheidungen oder moralische Dilemmata geht, sondern darum die Freiheit zu haben zu wählen, was und wie man es tut und dass der SL das respektiert.

1of3:

--- Zitat von: manbehind am 10.05.2024 | 09:59 ---Ich komme hier noch mal auf die u. a. eingangs zitierte Quelle von Brice Morrison zurück. Das mache ich nicht, weil ich ein großer Fan von Brice Morrison bin (ich kenne ihn nicht), sondern weil mich die Konzepte überzeugt haben.

--- Ende Zitat ---

Interessant ist da das Eingangsbeispiel mit dem toten NPC. Die Sache ist, wo war da die Entscheidung? Ich vermute das Spiel hat nicht gefragt "Möchtest du Boyd sterben lassen oder..." Im Gegenteil. Der Spieler hätte nur besser spielen müssen. Beim Spielen wurden möglicher Weise Entscheidungen getroffen, ich kenne das Spiel nicht.  Vielleicht hatte der Autor sogar genau eine Sache im Sinn, als er das aufgeschrieben hat. Das bleibt aber unbestimmt. Tendenziell nehme ich an, dass eine Reihe Dinge schief gehen müssen, bis eine solche Figur stirbt.

Die weiteren Beispiele sind, soweit ich das sehe, Dialog-Optionen, die gibt es in diesem Hobby so nicht.

Wir müssten also klären: Woran erkennen wir, dass eine Spieler*in gerade eine Entscheidung trifft?


--- Zitat von: manbehind am 10.05.2024 | 09:59 ---Meiner Ansicht nach macht es immer Sinn, als Spielleiter zu überlegen, welche Konsequenzen die Handlungen von Spielern für sie zu einem späteren Zeitpunkt haben können, auch wenn sie diese Konsequenzen zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht absehen konnten.

--- Ende Zitat ---

Gottbehüte, nein. Also kann man machen. Es macht aber regelmäßig keinen Sinn das zu tun, bevor sie die Entscheidung getroffen haben. Schlimmstenfalls schubse ich sie dann unbewusst in eine Richtung, die ich für interessant halte.

Ebenso klappt das mit der Awareness nicht so ganz. In einem Computerspiel muss ich Leuten kommunizieren, was sie gerade tun. Am Spieltisch kann ich umgekehrt auf sie reagieren. Es ist also eher so, dass ich wissen muss, dass sie meinen, gerade etwas entschieden zu haben.

Haukrinn:
Ich finde den Begriff zu schwammig. Auch in den eingangs zitierten Beispielen wirkt er auf mich wie ein unscharf definiertes Sammelbecken, mit dem man vielleicht versucht, in der Retrospektive zentrale Szenen einer Handlung von weniger wichtigsten Routinevorkommnissen abzugrenzen. Das ist IMHO für Spiel- und Abenteuerdesign überhaupt nicht hilfreich.

In der simpelsten Form würde ich tatsächlich sagen, eine bedeutsame Entscheidung hat einen klar erkennbaren Einfluss auf den weiteren Spielverlauf. Das ist recht wertfrei, sagt aber tatsächlich auch nichts über die Qualität dieser bedeutsamen Entscheidung aus. Das hängt von der Erwartungshaltung der Gruppe ab. Für die Taktiker mag es ja relevant sein, durch welchen Eingang man in die Festung kommt, aber die Storyteller kümmert das nicht.

Was ich sinnvoll finde ist sicherlich die Kostenfrage. Eine bedeutsame Entscheidung sollte unterschiedliche Kosten für die Gruppe mit sich bringen. Seien es taktische, strategische  oder soziale Ressourcen. Entscheidend wäre dabei für mich, dass es im Idealfall immer bei einer bedeutsamen Entscheidung auch um ein Dilemma geht. Es darf keine richtige und falsche Entscheidung geben. Das sind die schon mehrfach vorgebrachten Konsequenzen. Das wäre das klassische “what’s at stake”.

Für mich ist letzteres der zentrale Anker der Bedeutsamkeit. Dass kann ich designen und planen, egal, ob ich jetzt Abenteuer- oder Dramaspiel mache.

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