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[Werewolf: The Apocalypse | Ironsworn] Wyldreise
Schalter:
Soundtrack: Paleowolf, Thundertribe
https://www.youtube.com/watch?v=CTIoeeWDsFc
Hank erscheint gehetzt auf der Holztreppe: „Kylah, Du musst Zoe sofort verlegen! Rüber in den Schuppen!“
„Was is' los?!“, fragt die, springt so schnell auf, dass ihr Plastikstuhl umkippt.
„Da sind uns welche gefolgt! Aus der Stadt!“, keucht Hank, und rennt dann wieder die Treppe hoch, legt sich dabei fast lang hin vor Eile.
„Komm' schnell!“, zischt Kylah, fummelt am Schlüsselbund in der Tür.
„Wohin? Wohin?!“, fragt Zoe, und bekommt einen Rage-Punkt, erneut ist sie voll, auf fünf.
„Hinten beim Wald ist noch ein Schuppen, da bist Du sicher!“
Schüsse pfeifen oben durch die Nacht, beide Mädchen zucken zusammen.
„Was sind das für Leute?!“, fragt Zoe, „Und sind die hinter Euch her … oder hinter mir?!“
„Halt' die Klappe“, quiekt Kylah, „Hier entlang, durch die Hintertür raus!“
Sie rennen durch den Nieselregen über eine dunkle Wiese, zwei Silhouetten in der schwarzen Nacht. Licht kommt nur von den Fenstern der großen Hütte — und vom Flackerschein eines Brandsatzes, der an der Gebäudefront zerplatzt! Wahrscheinlich ein Molotov-Cocktail.
Zoe sieht sich mit weit aufgerissenen Augen danach um. Dann verlangsamt sie ihren Lauf ... und erhebt wie traumwandlerisch ihren Blick in den regnerischen Himmel. Die Regenwolken beginnen sich zu teilen, und etwas Silbernes kommt dahinter zum Vorschein.
„Ooooh, nein …“, keucht Zoe.
Sie bemerkt, wie sich in Erwartung des Anblicks, der gleich kommen wird, ihre Nackenhaare sträuben. Mehr Nackenhaare, als da sein könnten; die Empfindung wandert bis hinab zwischen ihre Schulterblätter.
Sie spürt Kylahs kleine, kräftige Hand, die ihr eines Handgelenk packt.
„Komm' jetzt! Sofort!“, befiehlt das jüngere Mädchen, wieder mit diesem erbarmungslosen Ton von gestern früh.
Die nächste Regenwolke verhüllt in dem Moment sowieso wieder den Mond. Zoe reißt sich von dem Anblick los und gehorcht.
Sie erreichen einen großen Schuppen aus morschen Planken, halb hinter der Baumgrenze, umgeben von trockenen Dornbüschen. Der Regen wird stärker, er ist eiskalt, und die beiden haben weder Jacken noch Schuhe an.
„Ich glaube das nicht! Sie brennen Sabina ihre Hütte ab!“, keucht die Punkerin, als sie am Türschloss des Schuppens herumfummelt.
„Wer!“, knurrt Zoe.
„Halt' die Klappe!“
Plötzlich hat Zoe Kylah am Kragen gepackt, und rammt sie rücklings gegen die Schuppenwand. Kylah reißt überrascht die Augen auf. Ihrer beider Atem wird im kalten Novemberregen zu weißem Dunst.
„Wer ist das, der uns da jagt! Ich will das endlich wissen!“, knurrt Zoe durch ihre übergroßen Fangzähne, ihre Stimme erneut etwas tiefer als gewohnt.
Kylah ist kreidebleich, sie sagt in ganz weggetretener Stimme, „Ich habe Dir schon viel zu viel gesagt, Zoe! Ich darf das nicht, verstehst Du? Ich darf den Schleier nicht heben für Dich ...!“
Sie sieht aus, als sei sie am Rande des Zusammenbruchs.
Zoe lässt sie wieder los, und keucht schwer vor sich hin, lässt sie weitermachen. Erneut hallen Schüsse bei der Kiesstraße, und das Krachen einer Schrotflinte. Flammen züngeln höher. Die Schuppentür springt endlich vor den beiden auf, und ihre Freundin zieht Zoe am Handgelenk ins Innere.
Sie wendet sich gehetzt ein letztes Mal um — und dabei fällt das Mondlicht in ihre Augen, silberhell. Zoe japst, und verharrt, von einem unbekannten Impuls erfüllt ... Sie bemerkt jedoch, wie Kylah sie mit aller Kraft rückwärts zerrt, und die Schuppentür zuschlägt. Hört den Schlüssel sich im Schloss drehen.
„Hier sind wir sicher!“, lügt Kylah.
Zoe stürzt auf ihre Knie, und krümmt sich zusammen. Ihr Atem geht rasselnd, überaus mächtige Lungen pumpen die Luft. Alle Gerüche sind überdeutlich.
„Kylah … es ist zu spät … ich werde …“, knurrt eine tiefe, dämonische Stimme aus Zoes Kehle.
„Du musst es unterdrücken! Jetzt darf das auf keinen Fall passieren! Wir haben es gerade geschafft, Zoe! Hörst Du? Wir müssen unbedingt versteckt bleiben! Du darfst jetzt nicht …“
Zoes beschleunigter Atem wird noch tiefer, als ihr Lungenvolumen einfach weiter zunimmt. Ihr Puls hämmert in ihren Ohren, sie hört das Rauschen ihres wilden Blutes, das Kylahs angsterfüllte Stimme zu übertönen beginnt. Sie spürt, wie ihre Muskelstränge schwellen, wachsen, ihre Arme länger werden, ihr ganzer Torso massiger wird. Ihr Nackenfell sträubt sich, Fell bedeckt alles.
Schlagartig öffnet sie ihre Augen weit, und erneut ist alles erleuchtet, als sei es Tag. Mit einem Mal ist sie auf den Füßen.
„Nein, ich will hier raus … ich will raus, an die Luft … der Mond …!“, dröhnt die viel zu tiefe, raue Stimme, „Blut … Luft … Mondlicht …!“
Das ist das letzte Artikulierte, das die Gestalt, die einmal Zoe Matherson war, hervorbringen kann, bevor ihr Kopf zu einem Wolfshaupt wird. Sie dreht sich um, taumelt auf ungewohnten Beinen zur Tür zurück, auf Hinterläufen. Ein mit hellbraunem Fell bedeckter Arm wischt die Tür weg, und ein Stück der Bretterwand. Schon ist sie im Freien. Über ihr erscheint der Vollmond hinter einer düsteren Regenwolke, und glänzt silbrig auf ihrem Fell. Sie hebt mit einem Gefühl der absoluten Befreiung den massigen Kopf in den Nacken, und stößt ein Geheul aus, so markerschütternd, dass alle Lebewesen auf dem Gelände es hören und Fledermäuse und Nachtvögel aus dem nahen Astwerk aufflattern.
Soundtrack: Blue Man Group, Opening Mandelbrot
https://www.youtube.com/watch?v=PCX_XsTPmf0
Hochsensible Ohren hören Kylahs verzweifelte Stimme hinter ihr, mächtige Läufe katapultieren die riesige Gestalt über die mondbeschienene Wiese hinter dem Haus. Männer mit Gewehren im Anschlag kommen in Sicht, an einer brennenden Gebäudefront, die entsetzten Gesichter sehen sie an. Einige Männer fliehen schreiend, einer verfällt in Schockstarre. Mehrere reißen die Läufe ihrer Gewehre hoch, in Richtung der neuen Bedrohung.
Runde 1: Der Werwolf ist zuerst am Zug, und versenkt instinktiv seine Zähne in dem ersten der Hooligans. Ein Brutales Resultat fällt, und hier zählt dieses als drei Extra-Erfolge. Der Gewehrschütze nimmt sieben Level Verheerenden Schaden, und wird schlicht in Stücke gerissen. Unter den Angreifern sind Blutsgeschwister eines feindlich gesinnten Stammes, die erfasst das Delirium nicht. Ein Gewehr trifft das tobende Monster in die Seite, zwei Level Tödlicher Schaden entstehen, die sofort absorbiert werden. Ein kurzer Schmerz von dem Streifschuss bringt jedoch einen neuen Rage-Punkt ein. Ein zweiter Schuss, in den Arm, verursacht nach dem Absorbieren ein einzelnes erstes Wundlevel. Das dritte Jagdgewehr macht neun Schaden! Das Biest absorbiert jedoch fünf davon, und hat jetzt insgesamt fünf Wundlevel. Damit sind seine beiden Rage-Aktionen dran. Erneut gebe ich einen Rage-Punkt aus, um für eine Runde die Wundabzüge zu reduzieren, die Wut wäscht den Schmerz im wölfischen Empfinden der Bestie hinweg, eine Klauenhand mit scharfen, gebogenen Krallen zuckt nach vorne, überzieht den nächsten Schützen mit blutigen Striemen, er hat vier Level Verheerenden Schaden. Mit der zweiten Rage-Aktion wirbelt das Monster herum, erreicht mit einem Satz den dritten Schützen, und krallt ihm über den Arm, zentimeterlange Klauen trennen seinen Jackenärmel auf wie Skalpelle und Blut spritzt.
Runde 2: Einer der Angeschlagenen haut der Bestie hinterrücks mit aller Kraft seinen Gewehrkolben in die Seite, dass es nur so kracht. Die tobende Kreatur bemerkt es nicht einmal. Der mit der Bisswunde stolpert, sinkt Halt suchend rücklings gegen den Briefkasten am Kiesweg, feuert sein Gewehr, und fügt dem Ziel ein sechstes Wundlevel zu. Der letzte der drei, dem die Bestie gegenüber steht, verliert das Gewehr aus der blutüberströmten Hand, und zieht sein Stiefelmesser, nun bereit für den Nahkampf.
Damit ist die Kreatur am Zug, würfelt für ihre Selbstheilung, und die Einschusslöcher beginnen sich im Zeitraffer zu schließen, sie hat damit nur noch fünf Wundlevel. Währenddessen zuckt ihr Haupt nach vorne, beißt ihrem Gegenüber den Unterarm mit dem gezogenen Jagdmesser ab. Dieser sperrt ungläubig die Augen auf, und fällt ohnmächtig nach hinten um. Die Bestie knurrt tief, schnappt nach dem Kerl, der sie mit dem Gewehrkolben angegriffen hat, aber verfehlt sein Gesicht, als er schreiend den Kopf einzieht und ihn mit den Armen umschlingt. Mit ihrer Rage-Aktion schnellt ihr Haupt herab, beißt in sein Bein, sie spürt den Oberschenkelknochen bersten, und mit einem Rucken ihres massigen Nackens schleudert sie den Schlägertypen als Wurfgeschoss davon, für insgesamt sechs weitere Wundlevel.
Runde 3: Die Kreatur ist um ein Haar schneller als der letzte der Gewehrschützen, der sich auf den Briefkasten stützt, neu durchlädt und anlegt. Sie macht mehrere Sprünge auf ihn zu, mit hochgezogenen Lefzen und entblößten Fängen, während ihre Schußverletzungen sich weiter schließen, sie hat nur noch vier Wundlevel. Eine Kugel eitert im Zeitraffer aus ihrem Fleisch, und fällt mit einem leisen 'Pling' in den Kies. Die zuschnappenden Kiefer erwischen den Torso des auf sie anlegenden Glatzkopfs, zertrümmern Rippen und Innenorgane, und bringen ihn auf sieben Wundlevel. Noch während er leblos in sich zusammensinkt, reißt die Bestie mit einer ihrer großen Pranken den angeschrägten Briefkasten mitsamt Pflock aus der Erde, und schleudert ihn mit ihrer letzten überzähligen Rage-Aktion einem der anderen Fliehenden hinterher, trifft ihn ins Genick, und bringt ihn zu Fall.
Alle Gegner, die in der Lage waren zu kämpfen, weil sie selber genügend Wolfsblut hatten um dem Delirium zu widerstehen, sind zerlegt; der Rest des Überfallkommandos bestand aus normalsterblichen Hooligans, und flieht daher in hirnloser Umnachtung längst in die Finsternis!
Der Werwolf richtet sich zu seiner vollen Größe auf die Hinterläufe auf, sieht sich gierig um, und legt dann abermals den Kopf in den Nacken, stößt ein triumphierendes Geheul in den Vollmond aus.
Daran erinnert Zoe sich noch mit großer Intensität. Der Rest ist nebulös …
Schalter:
Sie kommt wieder zu sich, mit gereinigten Wunden und ein paar Heftpflastern, unter einer alten Armeedecke, in die man sie gewickelt hat. Sie befindet sich in dem Zimmer mit den zerkratzten Holzwänden. Tageslicht scheint hell und friedlich durch die nun geöffneten Vorhänge des Kellerfensters hinein.
Vorsichtig bewegt sie ihre Glieder. Sie hat einen furchtbaren Muskelkater, als hätte sie den ganzen gestrigen Tag unaufhörlich Kraftsport gemacht. Davon abgesehen fühlt sich alles ausgeruht an, energetisch … und menschlich. Sie macht ein überraschtes Geräusch, und sieht ihre Hände an, die Handflächen und Handrücken. Sie sieht wieder aus wie vorher! Auch ihr Gebiss ist wieder völlig normal, kleine, gerade Beißerchen. Sie sieht sich desorientiert um.
„Du bist ja endlich wach!“, sagt die Stimme von Hank. Er tritt näher an das Gitterfenster und linst vorsichtig nach drinnen. Er hat eine fiese Schwellung an der Stirn, da, wo der Gangster ihn letzte Nacht auf das Autodach gedotzt hatte.
„Ich … ich bin wieder ein Mensch!“
„Gewissermaßen …“
„Ich dachte, ich hätte mich vollständig verloren ...! Ich dachte, ich hätte mich verwandelt, und müsste ab jetzt für immer …“
Zoe steht unter heftigen Muskelschmerzen auf, tritt ihrerseits an die Tür heran, und sieht Hank unverwandt ins Gesicht. Sofort tritt er wieder einen Schritt weg von ihr.
Zoe schnaubt verächtlich, und kommentiert, „Was glaubst Du denn, was ich vorhabe? Durch das Gitter fassen und Dich schnappen, um Dir in die Nase zu beißen, oder was?“
Hank lacht unsicher.
„Bei Leuten wie Dir weiß man nie. Na ja. Gut jedenfalls, dass Du endlich wieder wach bist.“
„Ja. Kann mich kaum bewegen, jede Muskel tut weh …“
„Kein Wunder. Wir haben gesehen, was Du draußen vor der Hütte angestellt hast.“
Zoe legt sich die Hand vor den Mund.
„Ich … ich … habe die aufgefressen, oder? Die drei mit den Jagdgewehren …“
„Nee. Als wir rauskamen, war Deine Rage gerade weitgehend verflogen. Du … wahrscheinlich wolltest Du die anfressen, ja. Aber Sabin hat Dich abgehalten. Und dann bist Du zusammengeklappt, und hast Dich kurz darauf zurückverwandelt.“
Zoe verharrt mit den Fingern vor die Lippen gepresst und geschlossenen Lidern. Vor ihrem geistigen Auge tanzen Erinnerungsfetzen von einem abgebissenen Unterarm, einem durchgebissenen Oberschenkelknochen, den man zwischen den Kiefern zersplittern fühlt wie eine trockene Gebäckstange … Der Geruch der Todesangst. Der Geschmack des körperwarmen Blutes.
„Ich glaube, ich muss kotzen“, haucht sie.
„Kann eigentlich nicht sein. Hast letzte Nacht im Halbschlaf schon alles rausgekotzt, was drin sein konnte.“
„Echt?“
„Jau. Aber ich hab' Deinen Eimer hier noch, kannste nochmal wiederhaben.“
„Ist die Bude hier also nicht abgefackelt, ja?“, fragt sie stattdessen.
„Sabina und wir anderen haben alles gelöscht. Die ganze Holzfassade draußen ist verkohlt. Ist jetzt aber auch egal.“
„Wieso? Diese Mistkerle! So ein schönes Haus …!“
„Wieso …?! Na, weil Sabina und die anderen umziehen. Noch heute. Wir ziehen mit.“
„Was? Aber warum? Die Kerle sind doch alle geflohen, glaube ich!“
„Der Feind kennt jetzt diese Zuflucht. Es gibt keinen Anlass, zu glauben, dass die nicht gestern mit anderen ihresgleichen telefoniert haben, während ihrer Anfahrt hierher. Damit haben wir gleich zwei Safe Houses verloren letzte Nacht, erst das in Highland Park, dann dieses hier in Irish Hills.“
„Diese scheiß Hooligans, die trauen sich doch nicht nochmal hierher! … Lasst mich hier raus.“
„Die Hooligans letzte Nacht waren aber doch nicht die einzigen von deren Streitkräften! Das waren wahrscheinlich einfach nur die Entbehrlichsten, oder die, die am schnellsten hierher zu dirigieren waren. Die haben noch ganz andere Verbündete.“
„Was ist überhaupt mit der Polizei? Drüben im Dorf muss man Schüsse gehört haben.“
„Als die Cops vorhin hier waren, waren wir schon fertig mit Aufräumen. Da gab’s nichts mehr zu finden.“
„Aufräumen …“
„Na, was Du übrig gelassen hast, haben wir im Wald verscharrt.“
„Ich muss kotzen, glaube ich …“
„Wirklich diesmal?“
„Keine Ahnung … ich will hier raus … bitte … mach' die Tür auf …“
Hank schweigt unschlüssig, und rührt sich nicht vom Fleck.
„Mach' die Tür auf! Shady Sabina hat gestern Nacht gesagt, ich dürfe jederzeit raus! Ich will an die Luft!“
Das soll der armen Zoe einen neuen, zweiten Rage-Punkt einbringen, das wilde Tier ist nicht gern eingesperrt!
„Was is'n los?“, hört man nun aus Bodennähe Kylah wimmern, völlig schlaftrunken.
„Kylah!“, sagt Zoe, stellt sich auf die Zehenspitzen, und sieht durch das Gitterfenster ihre Mitschülerin in einem Schlafsack auf dem Boden liegen.
„... Hat Dich die ganze Nacht bewacht!“, sagt Hank mit einem traurigen Schmunzeln.
„Mach' auf!“, knurrt Zoe, und ihr Zahnfleisch pocht, die blonden Härchen auf ihren Unterarmen stellen sich auf.
Hank gehorcht endlich.
Zoe kommt in ihre Decke gewickelt aus dem Zimmer, und sieht auf den Schlafsack herab. Kylah blinzelt im Halbschlaf, sie ist blass und sieht aus, als stünde sie immer noch völlig neben sich.
Statt sie also zu behelligen, rauscht Zoe die knarrenden Treppenstufen hinauf.
„Wo willst Du denn hin?!“, ruft Hank ihr nach, „Wir müssen unmittelbar aufbrechen!“
„Wo sind meine Klamotten!“, faucht Zoe, als sie endlich realisiert, dass sie unter der blöden Armeedecke nur Boxershorts und ein Unterhemd anhat, Second-Hand-Klamotten von irgendwem.
„Was glaubst denn Du? Haste zerschlissen gestern Nacht!“, sagt Hank, „Wo willst Du denn hin?“
„Ich ertrage das alles nicht! Ich gehe an die Luft.“
Fast prallt Zoe auf dem engen Flur mit einer der Hüttenbewohnerinnen zusammen, die zwei Reisetaschen in den Händen trägt, beide erschrecken gleichzeitig voreinander. Die Reisetaschen poltern zu Boden.
Zoe drückt sich ohne weitere Kommentare durch die Hintertür, wie gestern bei der Flucht mit Kylah. Läuft barfuß über den Rasen, der jetzt im Herbstsonnenschein vor ihr liegt. Sie erreicht den morschen Verschlag bei der Baumgrenze. Die Schuppentür ist in Einzelteilen nach außen aufgeflogen, Bretter liegen im Gras verstreut. Zentimeterdicke Furchen sind neben der Türöffnung aus der Bretterwand heraus geschlagen worden. Ihre Fingerspitzen tasten ehrfürchtig darüber. Sie erinnert sich, das hatte sie gemacht, bei ihrer grauenvollen Verwandlung, mit einem einzigen Schlag ihrer Klauenhand. Sie sieht auch die Abdrücke von Hinterpfoten im nassen Gras, wie von einem riesigen Hund, zentnerschwer. Nein, kein Hund. ... Zoe glaubt, dass sie zu hyperventilieren beginnt, ihr Atem geht zu schnell und zu heftig. Sie wendet sich ab, und läuft zwischen die Bäume, in den Wald.
Ihr ist eiskalt mit ihren nackten Füßen. Aber die Luft von den feuchten Baumrinden und Moosen und dem alten Laub am Boden und vom Erdreich darunter riecht plötzlich unfassbar gut für sie. Sie fühlt sich schlagartig besser. Sie gleitet an einer Eiche herab in sitzende Position, mit dem Rücken gegen den Stamm. Die Decke wird voller Baumgrün und Matsch sein, wenn sie wieder in die Hütte geht, aber das ist jetzt auch mal egal.
Eine Weile sitzt sie nur da, atmet tief die köstliche Waldluft, und fröstelt vor sich hin. Ohne einen weiteren Gedanken in ihrem Kopf, ihr gesamter Verstand scheint ihr wie eine Wunde, über der sich eine nur dünne Schorfschicht gebildet hat.
Schließlich hört sie Schritte näher kommen durch das knackende Unterholz. Shady Sabina, und Hank folgt ihr mit einigem Abstand.
„Kleine, so sehr ich Dir ja Deine Ruhe gönne, nach allem, was Du gerade durchgemacht hast … wir müssen gleich abfahren!“, sagt die kompakt gebaute Frau in warmherziger Stimme.
„Muss ich mitkommen?“, fragt Zoe kraftlos, als sie aufschaut.
„Oh, ja, mein Kind! Wir können Dich nicht hier lassen, der Feind wird bald wieder hierher kommen. Und wir haben außerdem gerade die Verantwortung für Dich. Wir müssen zusehen, dass Dir nix geschieht, bis Deine eigenen Leute Dich holen kommen können.“
„Meine Eltern dürfen um keinen Preis was davon erfahren, was hier vorgefallen ist …“
„Deine Eltern meine ich auch nicht. Wenn die Blutsgeschwister wären, dann wüsste ich das. Ich bin orn'tlich rumgekommen in meinem Leben. Ich kenne die meisten von unserem Schlag in Detroit und umzu!“
„Blutsgeschwister …“
„Ja, ja! Manche haben es mehr in sich, manche weniger, das Uralte Blut! In Dir aber, Kleine, in Deinen Adern pulsiert es stark. Wie wir gestern Nacht gesehen haben!“
Ungelenk kommt sie bei Zoe an, und verschnauft.
„Wer sind die dann … meine Leute?!“, wagt Zoe zu fragen.
„Deine Lippen sind schon ganz blau! Ab nach drinnen jetzt! Und wir müssen Dir wieder 'ne Hose über'n Arsch ziehen, ich habe schon Klamotten für Dich rausgelegt!“
„Antworten Sie erst, Shady Sabina.“
„Ja, ja. Mir soll’s Recht sein“, sagt Sabina beschwichtigend, und lässt sich auf ihren Gehstock gestützt schwerfällig dem Mädchen gegenüber nieder, auf einer Baumwurzel.
„Ach herrje, ach herrje“, muffelt sie dabei.
Hank bleibt unschlüssig in der Distanz stehen, hört nur zu.
„Deine Leute, Kleine … das ist Dein Stamm. Wir wissen aber leider alle nicht, wer die eigentlich sind. Gibt nicht mehr viele vom Uralten Blut hier in Detroit und umzu. Normalerweise hätten die Dich genauestens im Auge gehabt, denn es wird meistens sehr gründlich Buch geführt über alle Sprösslinge … oder die unsichtbaren Mächte hätten ihnen geholfen. Irgendwas ist da schief gegangen … eigentlich hätten die längst herbeikommen müssen. Du bist offensichtlich ein Verlorener Welpe.“
„Welpe … wie bei einem wilden Hund …?“
„Na, glaubst Du das? Fühlst Du Dich denn wie ein Schosshund, mein Schatz?“, kichert Sabina.
„Wie ein Wolf … ‚Wolfsblütige‘, ja, schon klar.“
„Nichts ist klar! Das hast Du nur aufgeschnappt. Ich weiß, dass Du leichtsinnigerweise mit Kylah unten auf dem Undersalt Market warst. Ihr habt Euch in Gefahr begeben. Das hätten Deine Leute zu verhindern gewusst, wenn sie hier irgendwo wären.“
„Kylah gehört zu Euch, das hab' ich jedenfalls begriffen. Ihr seid diese …“
„Wir sind die Knochenbeißer!“, nickt Sabina.
„Warum habt Ihr Euch nicht auch … verwandelt, letzte Nacht?“
„Wir hier sind alle Blutsgeschwister. Wir können hinter den Schleier sehen, das wohl, aber wir sind keine Werwölfe.“
„So wie ich es bin …“, bringt Zoe heraus, und ein Schauder läuft ihr heiß und kalt über den Rücken.
„So, wie Du das bist, Kindchen. Sehr richtig. Letzte Nacht war Dein Erster Wandel.“
„Heute ist noch einmal Vollmond!“, wimmert Zoe entsetzt, „Heißt das, alles von letzter Nacht geht dann wieder von vorne los?“
„Nein, na ja … vielleicht. Ab jetzt wirst Du Kontrolle lernen. Das wird aber ein langer Weg. Der Vollmond, das ist Dein Mond. Euereinem sagt man Wildheit nach. Fast wärst Du noch ein Dreiviertelmond geworden, weißte. Aber Dein Vorzeichen, das ist der Vollmond. Der schien auch, als Du geboren wurdest.“
„Woher wollen Sie denn das wissen?!“
„Es gibt sowas wie Mondkalender!“, kichert die Alte, „Habe ich in der Hütte, ganz altmodisch in Buchform, und hundertprozentig verlässlich! Und Kylah kennt ja Dein Geburtsdatum.“
„Ihr habt Kylah von vornherein auf mich angesetzt! Ihr habt der gesagt, sie soll sich als meine Freundin ausgeben, damit Ihr mich überwachen könnt!“
„Um auf Dich aufzupassen, Kindchen, ja. Obwohl Du ja von einem anderen Stamm bist. Aber so wie Du wirkst, bist Du für Deine Leute ziemlich wertvoll. Dich denen wiederzubringen, das wäre vielleicht etwas Anerkennung wert, und eine hübsche Belohnung! Noch dazu in Zeiten wie heute, näch, wo so wenige Nachkommen da sind. Keine Sorge, wir geben vorerst weiter auf Dich Acht, bis wir Deine Herkunft geklärt haben.“
„Ich muss heute noch zurück nach Detroit. Ich muss mich um das Auto von Ellen kümmern, und zu meinen Eltern, und bei meiner Arbeit Bescheid sagen. Und ich habe einen Termin bei der Schulpsychologin. Ich muss ganz viel telefonieren …“
„Das kannst Du nicht verantworten. Du musst Dich von den Menschen fern halten.“
„Zumindest mit meinen Eltern muss ich reden!“
„Ach Kind, Du darfst ihnen eh nicht sagen, was geschehen ist. Sie sind nicht vom Uralten Blut, also darf der Schleier nicht für sie gehoben werden.“
„Was macht das Blut da für einen Unterschied?! Und überhaupt sind das meine Eltern — wenn ich also wolfsblütig bin, dann die logischerweise ja doch auch!“
„Das Vermächtnis überspringt gerne mal eine Generation. Und mit Vererbung hat das sowieso nichts zu tun“, winkt die Alte ab, „Da sind andere Naturgesetze am Werk als die, die Du bisher kennst. Alles was Du bei sowas zustande bringen würdest, wäre Deinen alten Herrschaften den Schreck ihres Lebens einzujagen. Aber Du könntest sie nicht dazu bringen, zu verstehen, was Du jetzt bist. Es ist ohnehin zu früh für sowas. Du musst vorerst Kontrolle lernen, näch? Du wirst Dich jetzt erstmal auf einen Telefonanruf beschränken müssen.“
„Was ich jetzt bin … aber … ich habe doch Verantwortung für so viele Sachen, ich muss meinen Alltag auf die Reihe kriegen …“
„Dein früheres Leben ist vorbei, Kindchen. Du kannst nie zurück“, sagt Shady Sabina, Mitleid liegt in ihrer Stimme, aber gleichzeitig Bestimmtheit.
Schalter:
Als sie eine halbe Stunde später alle durcheinander laufen und den alten Pick-Up Truck beladen, steht Zoe wieder Kylah gegenüber. Mittlerweile ist die wieder ganz wach, aber verängstigt sieht sie immer noch aus, ganz in sich gekehrt.
Sie gucken sich bedröppelt gegenseitig an. Beide zögern; sie wollen beide etwas sagen, aber bringen nichts heraus.
„Kylah, geh' da nicht so nah ran“, sagt einer der Hausbewohner mahnend, „Hilf' schnell Sabina mit ihren Koffern …“
„Ich … ich tu' doch gar nichts …“, sagt Zoe zu dem Typen, aber wird sich sofort bewusst, dass sie hier an derselben Stelle steht, wo sie letzte Nacht dem einen Krawaller den Unterarm mit seinem Kampfmesser abgebissen hat, und sofort wird ihr wieder kotzübel, „Äh … ihr tue ich nichts …“
Kylah hastet schnell zu Sabina, die gerade wieder mit Koffern aus der Hütte kommt, um ihr Tragen zu helfen, Zoe sieht ihr traurig nach.
☀
Es geht alles so schnell. Als kurz darauf beide Autos abfahrtbereit sind, erhebt Shady Sabina ihre krächzende Stimme, und das halbe Dutzend von Versammelten sieht zu ihr: „Wir kehren vorerst zum Caern zurück, und verschanzen uns da, bei unseren Geschwistern. Wir können aber den Verlorenen Welpen nicht dorthin bringen, also teilen wir uns jetzt auf. Das hochverehrte Six o' Clock Carjack Pack wird Zoe vorerst raus nach Neuengland bringen. Die sind schon bestellt, und auf dem Weg hierher. Kylah Kirby bleibt vorerst bei dem Verlorenen Welpen, und übergibt sie an unser Rudel. Soll keiner sagen, die Knochenbeißer würden zulassen, dass der Schleier zerrupft wird, oder gar, dass sie ihren Fang aus ihren Krallen lassen, wa? … Keine Fragen mehr, Kinders? Gut, dann Abfahrt!“
„Wer ist denn das Six o' Clock Carjack Pack?“, fragt Zoe leise Kylah, "Klingt wie eine Band oder Straßentheater-Truppe ..."
„Alle Rudel haben eigene Namen. Das Carjack Pack sind Simon und seine Leute!“
„Die aus der Bruchbude in Highland Park?!“
„Klar.“
„Die sind doch zusammengeschossen worden!“
„Na und? Der Feind hatte kein Silber!“
Sie werden indessen in den schäbigen PKW bugsiert.
„Silber?!“, raunt Zoe beim Einsteigen, „Ich dachte, das ist nur eine Legende!“
„Witzig! Du dachtest bis gestern, alles an Werwölfen sei nur eine Legende!“
Zoe schweigt verbissen; wo Kylah Recht hat, hat sie Recht.
„… Du fährst aber mit mir mit?“, vergewissert sie sich ängstlich.
„Ja, klar. Haste doch gehört, was Sabina gesagt hat.“
„Dass ich ein Fang bin, den Ihr nicht aus den Krallen lasst, hat sie gesagt“, murrt Zoe düster.
„Das ist doch im übertragenen Sinne gemeint“, mischt sich Hank ein, vorn auf dem Fahrersitz, als er den stotternden Motor zu starten versucht, „Das sind alles nur geflügelte Worte, mal keine Panik kriegen. Du hast doch keine Ahnung, wie es in unserem Stamm läuft.“
„Als hättest Du groß 'ne Ahnung, Hank“, sagt Kylah patzig, „brauchst jetzt nicht zu reden, als wüsstest Du schon seit Jahren über alles Bescheid!“
„Immerhin länger als Du!“, sagt Hank schmollend, während er mit dem Stottermotor kämpft. Der schmuddelige Typ im Trenchcoat auf dem Beifahrersitz versucht, Hank hilfreiche Tipps beim Anlassen zu geben.
Shady Sabinas rundes Gesicht erscheint neben dem Autofenster, sie ist so untersetzt, dass sie sich kaum herab beugen muss, um Zoe dahinter anzusehen.
„Macht's mal gut, Kinders! Wir sehen uns bald wieder, in Detroit oder irgendwo umzu!“
Zoe steigt hastig nochmal aus, und umarmt sie, Sabina lacht, „ui, ui, ui“, sagt sie großmütterlich. Dann klopft sie auf das Wagendach wie zum Gruß, Hank bekommt den Motor zum Laufen, und sie fahren ab.
☀
„Ihr habt immer noch nicht gesagt, ob diese Irren von letzter Nacht jetzt eigentlich hinter Euch her waren, oder hinter mir“, sagt Zoe kleinlaut, als sie an der Kleinstadt Adrian vorbei fahren, Richtung Highway.
Die drei Punks antworten nicht, sie wirken zögerlich.
„… Ich bilde mir ein, die hätten gezielt nach mir gesucht, vor dem Parque Theater, das waren dieselben wie im Undersalt Market in der Nacht zuvor.“
Der Beifahrer schaut sich schließlich über die Schulter hinweg zur Rückbank um: „Na ja, Ihr habt Euch in die Geschäfte von Sutter Cross reingehängt. Kann also gut sein, dass die Euch gezielt ans Leder wollen, deswegen.“
„Wer ist das?“
„Der Boss von diesem Shawn Wilco“, erklärt Kylah in gepresster Stimme, „Die Kerle, die diesen widerlichen Zutaten-Laden betreiben, in dem verborgenen Hinterraum auf dem Undersalt Market.“
„Sutter Cross! Ist das ein echter Name?!“, fragt Zoe.
„Die meisten Leute in der Unterwelt verwenden natürlich Decknamen“, sagt der Beifahrer, „egal; Ihr habt Euch bei denen jedenfalls nicht beliebt gemacht. Immerhin hast Du ja diesen Wilco ordentlich aufgemischt, da bei der ollen Videothek, hast diesen verdammten Dreckskerlen alles kaputt gemacht dadurch in der Nacht. Ach so, danke übrigens.“
„Wieso danke …“, raunt Zoe.
Der Beifahrer versucht sich an einem Lächeln, über seine Schulter hinweg zu ihr. Er hat einen dicken Schnauzbart, und Bartstoppeln, für einen Penner ist er nicht allzu verwahrlost.
„Lousy Five Bucks!“, entfährt es Zoe.
Lousy Five Bucks
„Freut mich, Dich kennenzulernen, Zoe Matherson … wenn ich in der Nacht gewusst hätte, dass Du ein Wolfsblut bist …“
„Kunststück“, murrt Kylah, „Das wusste sie ja selber noch nicht einmal! Nur ich wusste das!“
„Wie … kommst Du hierher? Was hast Du bei Shady Sabina gemacht?“, will Zoe wissen.
„Ich hatte mich hier draußen in Sabinas Hütte versteckt, nachdem die Bastarde mich abstechen wollten! Unserem Stamm gehen langsam die Verstecke aus, da gab’s nicht allzu viel Auswahl. Zurück in meine eigene Hood konnte ich nicht mehr.“
Zoe raunt, „Und die Kerle in den schwarzen Ledermänteln, das sind dann die Schlägertypen von diesem Sutter Cross! Carface, und die beiden Mistkerle mit den rot gefärbten Crew Cuts!“
Kylah schüttelt angespannt den Kopf, dass ihr Ohrgehänge nur so klimpert. Sie macht schmale Lippen. Lousy Five Bucks antwortet gleichzeitig, „Nein, die sind noch ein paar Nummern übler!“
„Übler als Organhändler?!“
„Die sind der Feind!“, sagt Kylah gepresst.
„Ich dachte, dieser Sutter Cross und seine Mörderbande sind der Feind.“
Lousy Five Bucks sagt behutsam, „Nein, die sind nur ungewöhnliche Kriminelle. Es gibt aber auch noch Leute, die deren Dienste in Anspruch nehmen, Leute, vor denen Cross und seine Händler sich beweisen wollen. Das nämlich ist die Bande, von der Du sprichst. Die schützen Cross, und ähnliche kleine Fische, weil die eine Ressource für die darstellen. Und nur darum haben die sich in diese Sache mit rein gehängt.“
„Und die wollen ja sowieso ihre Jagdgründe hier in Detroit erweitern!“, wirft Hank ein, um auch mal was gesagt zu haben.
Sein Beifahrer nickt, „Darum versuchen sie, alle Knochenbeißer abzumurksen, die sie entdecken. Wie jüngst in Highland Park, und wie hier. Allein unsere Anwesenheit bedroht ja deren Besitzansprüche!“
„Aber … Detroit ist eine moderne, demokratische Stadt … mit einem Bürgermeister und allem … das kann man nicht einfach erobern …!“, bringt Zoe vor.
„Das ist es, was die normalen Menschen glauben!“, knurrt Hank hinter seinem Steuer.
„Ja, leider …“, bestätigt Lousy Five Bucks, „wer die Unterwelt beherrscht, der kann auch die Oberwelt lenken. Wir Knochenbeißer halten Detroit, seit die anderen Stämme mehrheitlich abgewandert sind. Aber wir verlieren seit der Jahrtausendwende ständig Boden.“
„… Diese Typen, die Ihr der Feind nennt, die werden also auch weiterhin hinter uns her sein?“, traut Zoe sich schließlich zu fragen, „Raus bis nach Neuengland?“
„Vielleicht“, sagt Hank.
„Erstmal haben wir etwas Vorsprung“, sagt Lousy Five Bucks, „den hast Du uns gestern Nacht erkauft. Und in einem anderen Bundesstaat müssen die uns erstmal kriegen ... Womöglich verlieren die unterwegs unsere Fährte.“
Hank fügt hinzu: „Wir fahren erstmal zu dem Autohof beim Highway. Da treffen wir Simon mit seinem Rudel, die organisieren alles weitere.“
„Na großartig, der Bubi der nicht mal 'ne Couchsurfing-App bedienen kann managt meine Flucht!“, knurrt Zoe.
„Ey, sag' nichts Schlechtes über die Garou!“, ermahnt Lousy Five Bucks, „Auch, wenn sie Knochenbeißer sind. Das is' schlechtes Benehmen. Simon ist ein bekannter Ragabash in unserem Stamm, der hat einen sehr guten Ruf als Trickser.“
„Und was machen wir dann, da in Neuengland?! Da ist doch nichts?“
„Wir haben da draußen Verbündete. Die werden Dich verstecken“, sagt Kylah.
„Kylah, wenn Du noch einmal sagst, da sei' es ‚sicher‘, dann werde ich …“
„Nein sag‘ nichts …“, erwidert die erschrocken, und wird blässlich um die Nase bei der Vorstellung, was Zoe alles tun könnte.
Zoe guckt sie von der Seite an, etwas überrascht, sie wollte doch nicht wirklich drohen!
„Es darf sowieso nicht groß diskutiert werden, ob wir das machen“, sagt Lousy Five Bucks, beinahe entschuldigend, „es ist gerade Kriegszustand für den Stamm — ganz offensichtlich — da dürfen die Leitwölfe sowieso nicht hinterfragt werden.“
Kylah umfasst Zoes eine zitternde Hand mit ihren beiden Händen. Zoes Fingernägel sind schon wieder länger und dunkler geworden, beinahe Krallen. Zoe schaut darauf herab und macht schmale Lippen, lässt sich etwas tiefer in den Autositz sinken.
Schalter:
Das Six o' Clock Carjack Pack wartet bereits auf die Karre mit dem Stottermotor, als diese auf dem großen Autohof auf den vollgemüllten Motel-Parkplatz fährt. Sie stehen vor ihrem verbeulten VW-Bus rum und vertreten sich die Beine: Simon der Schulaussteiger ist der jüngste von ihnen, dann ist da der haarige Punker mit Irokesenschnitt, und ein kleiner, zerlumpter Schwarzer mit langem Zottelbart und fürchterlich langen, schiefen, gelben Zähnen, und ein Twen-Mädchen mit wasserstoffblonden Haaren und behängt von billigem Modeschmuck, die deutlich nach White Trash aussieht. All ihre Augen wirken wild, sind dunkel umschattet, und haben etwas Bedrohliches an sich — wölfisch geradezu.
Simons Rudel, das Six o' Clock Carjack Pack, allesamt vom Stamm der Knochenbeißer
Zoe hakt sich bei Kylah unter, als sie auf das Rudel zugehen, Schutz suchend. Vielleicht absurderweise, denn die Punkerin ist ja einen Kopf kleiner als Zoe, zwei Jahre jünger, und sieht auch nicht eben selbstsicher aus. Aber immerhin ist sie das vertrauteste Gesicht hier.
„Zoe Matherson hat's also mittlerweile hinter sich gebracht mit ihrem Ersten Wandel!“, sagt Simon leise, mit einem Grinsen, „Und hat’s überlebt! Natürlich bei Vollmond, wie sich das gehört. … Willkommen bei den Garou!“
„Den … den was?“
Der Irokese wiegelt ab, „Wir erklären Dir alles in Ruhe … wenn wir außer Gefahr sind.“
„Habt Ihr Gepäck dabei? Dann könnt Ihr jetzt umladen“, sagt Simon.
Lousy Five Bucks hat eine Sporttasche mit Habseligkeiten, das ist bereits alles; alle anderen reisen nur mit den Klamotten die sie am Leib tragen.
Der kleine Penner mit dem Zottelbart und den schlimmen Zähnen stammelt irgendwas in Zoes Richtung, eine unverständliche, vernuschelte Silbenabfolge.
„Äh, wie bitte?“, fragt die eingeschüchtert.
Der Alte wiederholt, lauter und ebenso unverständlich, und hängt noch mehrere Sätze dran. Dann rasselt er mit einer schmutzigen Spielzeug-Rassel in ihre Richtung.
„Das ist Massalfassar, unser Seher“, erklärt Simon, „er spricht Dir den Segen unserer Totems aus, für den gemeinsamen Weg, der vor uns liegt!“
„Ich habe überhaupt nichts verstanden!“
„Er nuschelt ein bisschen, wenn er Englisch spricht. Wir haben uns längst dran gewöhnt.“
„Äh, das ist nett, danke. ... Wie bitte heißt der Mann?“
„Massalfassar. Sein Stammesname. So, quetscht Euch rein, wir haben hier einen Achtsitzer. Die Rostlaube mit der Ihr gekommen seid, lasst Ihr hier stehen.“
„Das wird aber eng“, murrt Zoe, „warum fahren wir nicht mit beiden Autos Kolonne?“
„Der Kurze hier ist der Leitwolf“, sagt der Punk mit dem Iro mit Bestimmtheit, „Der macht die Ansagen. … Versteht Ihr, Eure Karre da ist vielleicht schon von irgendwem gesehen worden, als Ihr in Irish Hills damit rumgefahren seid. Wir gehen lieber keine Risiken ein. Jetzt mal los, zackig!“
☀
Das Schlimmste an der Fahrt mit dem Knochenbeißer-Rudel in dem engen VW-Bus ist nicht ihr herber Körpergeruch, sondern, dass sie manchmal schlagartig gemeinschaftlich ins Nichts zu lauschen beginnen, und durch heruntergekurbelte Scheiben in den Fahrtwind schnüffeln, und daraufhin gelegentlich Worte in tiefen, kratzigen Stimmen wechseln. Diese unbekannte Sprache vernuschelt nicht einmal Massalfassar, die spricht er klar und deutlich. Sie ist jedoch gänzlich fremd: Es ist eine Mischung aus Grollen, Knurrlauten, und archaisch klingenden Halbsätzen. Wie eine bizarre Geheimsprache; Zoe wird angst und bange, während sie darauf lauscht.
Simon stellt nach einer Fahrtstunde angelegentlich seine Rudelgefährten vor: Neben Massalfassar sind da Ribkick (der Irokese) und Do-Not-Eat-The-Shrooms (die Wasserstoffblonde); er selbst nennt sich No-Trust-For-No-One.
Massalfassar nuschelt andächtig was in Zoes Richtung, und Simon erklärt, „Er will wissen, ob Du bei Deinem Ersten Wandel schon Deinen eigenen Stammesnamen entdeckt hast?“
„Was bedeutet denn ‚entdeckt‘?“, fragt sie verwirrt.
„Dein Name kommt zu Dir!“, grinst Lousy Five Bucks neben ihr, „Wenn nicht bei Deinem Ersten Wandel, dann später, vielleicht bei Deinem Aufnahmeritus.“
„Dafür müsste Zoe aber erstmal wissen, zu welchem Stamm sie überhaupt gehört, Ihr Witzbolde!“, erinnert Kylah, in ihrem gewohnt pampigem Tonfall.
„Ja, stimmt“, sagt Simon, „sie ist ja ein Verlorener Welpe! Na, das wird sich auch noch finden. Vielleicht haben unsere Verbündeten, zu denen wir fahren, sogar irgendwelche Quellen, aus denen ihre Abstammung hervorgeht!“
„… Können die sowas wissen?“, fragt Zoe zögerlich.
„Vielleicht. Die haben eine ziemlich große Privatbibliothek zusammengesammelt!“
„Äh, Überlebenskünstler wie Ihr … mit einer Privatbibliothek?!“, fragt Zoe konfus.
„Die sind nicht wie wir. Die sind keine Knochenbeißer …“, sagt Kylah, etwas düster.
Schalter:
„Scheißendreck, Leute, habt Ihr auch so einen Mörder-Kohldampf wie ich?“, fragt plötzlich Ribkick über den Motorlärm in die Stille. Seine Stimme klingt rau, man könnte sich direkt davor fürchten.
„Leider nur noch Klimpergeld in den Taschen“, sagt Lousy Five Bucks, eigentlich unpassend zu seinem Namen.
„Kein Ding, wir haben Stammes-Geld dabei“, sagt Simon, „Die Ältesten schicken uns doch nicht ganz rüber zur Ostküste, ohne uns Budget mitzugeben, allein schon wegen Tanken!“
„Immerhin haben sie uns Cash gegeben, und keine Naturalien“, sagt Do-Not-Eat-The-Shrooms in ihrer etwas leiernden Stimme, „weißt Du noch, Ribkick, wie wir nach Washington mussten, mit nix zu fressen als der Schweinehälfte hinten auf der Rückbank?“
„Ja, schöner Schweinkram war das, diese Fahrt“, grinst der Punker, „vor allem, als die Polizei uns angehalten hat und wissen wollte, was das sei und ob wir die verkackeiern wollten und all das. … Ich könnt' jetzt gerade ganz alleine eine Schweinehälfte fressen, so gefühlt.“
Zoes Magen knurrt, sehr laut.
„Dem Verlorenen Welpen scheint das ähnlich zu gehen wie Dir!“, sagt Do-Not-Eat-The-Shrooms.
Zoe lächelt nervös. Sie will keine Schwäche zeigen vor den Fremden.
Ihr Hunger ist mittlerweile tatsächlich ziemlich schlimm, der gibt ihr einen neuen Rage-Punkt.
„Ey, könnten wir vielleicht Musik anmachen? Ehrlich gesagt, die Men Without Hats würden mir gerade total dabei helfen, klar zu kommen“, sagt Zoe versuchsweise.
„Nimm' die nächste Ausfahrt, Hank, die nächste Raststätte ist unsere“, sagt Simon, ebenfalls enthusiastisch beim Gedanken an Mittagessen.
„Am liebsten Safety Dance!“, fügt Zoe hinzu.
„Safety Dance? Was ist das denn für Mucke, das klingt ja durch und durch nach der Weberin!“, murrt Do-Not-Eat-The-Shrooms.
„Das ist so 80er-Nostalgie-Lala, das hat sie von ihren Eltern“, erklärt Kylah.
„Meine Eltern sind mehr so 90er, ich bin 80er“, murmelt Zoe.
„Du bist komisch, so sieht das aus!“, grinst Kylah.
„… Kann ich wohl nicht mehr leugnen“, sagt Zoe, ohne dass ihr sonderlich zum Lachen zumute ist.
Die kleine Anlage des VW-Bus sieht eigentlich nicht danach aus, als habe sie überhaupt Bluetooth. Dabei fällt Zoe auf, dass sie ja sowieso ihr altes Smartfon gar nicht mehr dabei hat, wo die Playlists drauf sind! Das hat sie irgendwo in der Hektik von letzter Nacht verloren, sie weiß nicht mal, wo.
„Verdammt, mein Telefon ist ja weg! Ich hab' ja noch nicht mal meine Eltern angerufen, das muss ich dringend noch machen! Kylah, kannst Du mal bei den anderen im Pick-Up-Truck anrufen? Vielleicht haben die das ja gefunden!“
Simon sagt, „Das hättest Du sowieso eher früher als später loswerden müssen, das Ding.“
„Was? Quatsch' nicht rum, wieso?“
„Das hat mehrere Gründe. Vor allem ist das ein Werkzeug der Weberin, und deren Kräfte nutzen das ebenso, wie Du das tust, und zwar nonstop.“
„Sie verliert es ja sowieso, sobald sie sich verwandelt, oder in die Penumbra rüber wechselt“, ergänzt 'Shrooms lapidar.
„Was soll das alles bedeuten?“, fragt Zoe.
„Jetzt erstmal bedeutet das für Dich wahrscheinlich nur eins, ein Tipp von mir: Häng' nicht mehr Dein Herz an Gegenstände!“, lächelt Simon.
☀
Auf der großen Autobahn-Raste fahren sie langsam an den vielen verschiedenen Essgelegenheiten vorbei: Burger-Brätereien, Fritten-Buden, Steak-Houses, Sushi-Bars, und so weiter, alles große Ketten; Ribkick kommentiert im Vorbeifahren, „Nehmen wir nicht … nehmen wir nicht … zu teuer … Rattenarsch und Zwirn, guckt mal, O'Tolley's, müssten wir eigentlich sofort niederbrennen! … Nehmen wir nicht …“
„Warum sind die denn so wählerisch …?“, raunt Zoe Kylah zu, ihr ist mittlerweile egal, was es gibt, Hauptsache schnell!
„Essen ist bei Ribkick politisch“, sagt die Punkerin, gelangweilt.
„Da ist vielleicht irgendwo ein schönes Reformhaus dazwischen, da können wir Dir ein paar vegane Nussriegel holen“, stichelt 'Shrooms.
„Halt' Dein freches Maul mit Deinen veganen Riegeln!“, knurrt Ribkick, „Hier, ranfahren, Hank. Die Bude da ist gut, das ist zumindest keine Kette.“
Simon zieht ein aufgerolltes Scheinbündel aus seiner Jacke, und kauft ihnen allen Homemade-Burger an der Bude. Jeder der Werwölfe vertilgt drei bis fünf. Die Knochenbeißer verputzen die in einem irren Tempo, gerade so als könnt's ihnen jemand entreißen wollen. Zoe verschlingt auch nicht weniger, sie kaut nur mehr. Dennoch schmeckt sie ungewohnte Nuancen aus dem Grillfleisch raus, die ihr normalerweise nicht auffallen, und fragt sich irritiert, was das wohl ist. Die Fritten schmecken komischerweise in ihrem Mund nach Pappe, die kriegt sie nicht runter.
Hinterher schlendert das Rudel etwas abseits, um auf dem Rasen der Raste herumzuschnüffeln, und Massalfassar scheint mit seiner alten Plastikrassel eine Art kleine Zeremonie durchzuführen.
Zoe stellt sich neben Hank, der an die Fahrertür des VW-Bus gelehnt steht. Er sieht so übernächtigt aus wie sie sich fühlt. Außerdem sieht seine geschwollene Schläfe noch nicht besser aus.
„Soll jetzt nicht mal wer anderes fahren?“, fragt sie verhalten, „Du bist seit Irish Hills nonstop hinterm Steuer gesessen.“
„Lousy Five Bucks hat schon lange keinen Führerschein mehr, hat der abgeben müssen.“
„Von dem Rudel kann doch wohl jemand Autofahren!“
„Zoe! Wir setzen keinen von Euch ans Steuer, wenn’s nicht unbedingt sein muss!“
„Hä, wieso? Ich könnt' normalerweise auch fahren …“
„Nee, nee. Kennste nicht den Spruch? ‚Nicht mit Wut fahren.‘ Die im Rudel taugen alle nicht zu Autofahrern. Außer Simon, der ist nur Ragabash, der hat einen klaren Kopf. Der ausgerechnet hat aber noch keinen Führerschein gemacht.“
„Gibt ziemlich viele Regeln zu beachten … in Eurer geheimen Welt, wie?“
Kylah schlendert dazu, sie hat sich an der Tanke Kaugummis gekauft und kaut nun auf einem rum, „Das sind eher so Vernunftsgebote als richtige Regeln. Wir sind Blutsgeschwister, wir müssen auf Euch aufpassen. Aber Gesetze gibt’s auch, die lernst Du noch.“
„So wie das, dass man keine Menschen fressen darf?“, sagt Zoe halblaut.
„Genau.“
„Dich daran zu erinnern sollte Dir leicht fallen“, witzelt Hank, „das hatte ja auch schon in Deinem früheren Leben Gültigkeit, wa?“
„Ich lach' mich gleich tot“, kommentiert Kylah strafend.
Zoe hebt den Kopf zum Nachmittagshimmel, wo bereits ein erstes, orange-violettes Glühen den Abend ankündigt. Ein Schauder läuft ihr über den Rücken und sie zieht ihre Schultern hoch.
„Kommen die bald mal?“, fragt sie ungeduldig, „Wir müssen doch langsam echt mal weiter …!“
Soundtrack: Orbital, Strangeness in the Night
https://youtu.be/s3lJkpYnhrI?t=66
Bei der Weiterfahrt holt mit der Fressmüdigkeit der Schlafverlust Zoe ein, und sie nickt immer wieder kurz ein auf ihrem Sitz. Aber immer wieder schreckt sie auf: Seltsame Erinnerungen suchen sie heim, ein seltsamer Geschmack, beides Andenken an vergangene Nacht ...
Sie sieht sich etwas desorientiert um, und bemerkt, das Kylah neben ihr sie fragend anschaut.
„Ich wusste vorher nicht, dass Furcht etwas ist, das man riechen kann“, flüstert Zoe.
Kylah schaut sie erschrocken an, fragend. Zoe kann nicht recht in Worte fassen, dass sie letzte Nacht nicht nur Gerüche wittern konnte während ihrer Verwandlung, sondern auch Empfindungen. Die Hooligans, die das Holzhaus angegriffen hatten, hatten nach Angst gerochen, unmittelbar bevor sie den Kiefern des Werwolfs zum Opfer gefallen waren.
Unerbittlich dämmert weiterhin der Abend hinauf. Es hat sich erneut zugezogen, aber Zoe wagt es nicht, darauf zu setzen, dass er die ganze kommende Nacht von Wolken verborgen sein wird, der Mond ...
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