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[Unknown Armies] Road Movie

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Bad Horse:
Und ich war mit Kim im Mystery House. Wir waren in dem Raum, den Brian gefunden hatte, wo man den Wind hören kann. Kim kam auf die gloriose Idee, doch einfach mal die Wand einzuschlagen. Die Spitzhacke holte er aus dem Vorratsraum (dem Raum, in dem ich so gut schreiben konnte).
Natürlich wurde er erwischt, und wir sind prompt beide aus dem Haus geflogen. Der Besitzer war nicht amüsiert.

Sylvia und ich haben außerdem beschlossen, uns Schußwaffen zu kaufen und Schießstunden zu absolvieren. Das haben wir dann auch gemacht. Ich habe besser getroffen als Sylvia, aber nicht sonderlich sensationell. Wie es scheint, bin ich besser darin, auf Leute zu schießen statt auf Zielscheiben (was für ein erfreulicher Gedanke).

Als wir später noch mal an dem Schußwaffengeschäft vorbeikamen, sahen wir, daß ein Hollow Man seine Maschine davor geparkt hatte. Wir riefen natürlich die Cops, die den Biker tatsächlich erwischten und verhafteten. Während die den Mann wegbrachten, riss sich Kim das Bike unter den Nagel und versteckte es irgendwo in der Stadt.

Sonst haben wir diesem Tag nicht mehr viel gemacht. Sylvia hatte, als sie geschlafen hat, einen merkwürdigen Traum: Wir befanden uns in einem Burghof, Sylvia in einem mittelalterlichen Kleid, der Rest von uns in Ritterrüstungen. Wir kämpften gegen eine Horde von Barbaren, ein verzweifelter, aussichtsloser Kampf. Dennoch wurden wir in ihrem Traum nicht von den Feinden überwältigt.
Interessant, das ist schon das zweite Mal, daß diese Ritter-Metapher auftaucht. Vielleicht hat das ja eine Bedeutung. Ich warte auf dem nächsten Ritter-Traum.

In dieser Nacht hatte auch Brian mal wieder einen seiner Träume: Er sah fünfzehn frische Hollow Men auf die Stadt zufahren. Na prima, da wußten wir ja schon, womit wir es zu tun kriegen würden.

Am Tag drauf ging es Brian schon erheblich besser: Er durfte sogar schon wieder aufstehen. Trotzdem sollte er sich nicht allzusehr anstrengen.
Ich war dann mit Sylvia und Kim noch mal in der “Innenstadt” von Craig. Dort fanden wir einen Esoterik-Laden, der auch mittelalterlichen Krimskrams verkaufte. Darunter auch das Kleid, das Sylvia in ihrem Traum getragen hatte. Und Rüstungen. Sylvia kaufte sich das Kleid, aber die Rüstungen waren a) zu teuer, und b) nicht wirklich praktisch, also haben wir darauf verzichtet.

Am Nachmittag durfte Brian schon wieder aus dem Krankenhaus heraus, sollte sich aber noch schonen. Wir sind noch mal bei den Cops vorbei, die einigermaßen nervös waren - ihre Verstärkung aus Denver wurde erst in zwei Tagen erwartet.
Immerhin konnten uns die beiden erzählen, daß die Hollow Men eine größere Gang aus Chicago mit ca. 120 Mitgliedern sind, die auch schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren. Sie vermuteten, daß die überlebenden Hollow Men auf Verstärkung warten, bevor sie etwas unternehmen. Das beruhigte uns natürlich ungemein.
Wir versuchten dann noch mal, uns mit dem Gefangenen zu unterhalten, aber das führte zu keinem sinnvollen Ergebnis. Auch unser späterer Versuch, den Besitzer des Schußwaffengeschäfts als Helfer zu rekrutieren, war erfolglos: Statt uns zu unterstützen, machte er seinen Laden erst mal zu und verschwand aus der Stadt. Mutig, mutig, diese Hinterwäldler. (´Tschuldigung. War wahrscheinlich die intelligenteste Idee, von seiner Seite aus gesehen.)

Nach dem Gespräch auf der Polizeiwache kehrten wir erstmal ins Krankenhaus zurück, um dort zu essen (Krankenhauskantinenessen hat den Vorteil, daß es schon vorgeschnitten ist. Versucht mal, mit einem Arm ein Schnitzel zu schneiden). Als wir besorgt beisammen saßen und überlegten, wie hoch die Chancen wohl wären, daß die Verstärkung der Cops vor der Verstärkung der Biker eintreffen würde, kam ein Mann auf uns zu, den wir schon mal gesehen hatten. Es war der Sheriff aus dem ersten Tucson. Und der Sheriff aus dem dritten. Sylvia war allerdings die einzige, der das auffiel.
Der Typ sagte, er hieße Don Spending und sei ein Cop aus Chicago. Er wäre schon länger hinter den Hollow Men her, weil sie seinen Bruder getötet hätten (irgendwie klingt das verdächtig nach Klischee. Aber wer weiß, welche Klischees stimmen und welche nicht. Vielleicht haben sie wirklich seinen Bruder getötet). Wenn er könne, würde er uns gerne gegen die Typen helfen.
Das war sicher nicht der Zeitpunkt, einem geschenkten Cop ins Maul zu schauen, also brachen Kim, Sylvia und ich gleich wieder zur Polizeistation auf. Brian fühlte sich nicht so fit und blieb erstmal im Krankenhaus.

Auf der Polizeiwache trafen wir vier alte Bekannte: Die Indianer, die die Cops wegen öffentlicher Ruhestörung eingebuchtet hatten. Außerdem waren noch zwei andere Männer da: Hilfssheriffs für den Kampf gegen die Hollow Men, Buck Mulligan und Chester Reed. Spending gelang es, die beiden Cops zu überreden, auch die Indianer freizulassen.
Ursprünglich hatten wir den Plan, uns aus der Polizeiwache zurückzuziehen und in kleinen, mobilen Einheiten durch die Stadt zu patroullieren. Leider hatten wir dazu keine Gelegenheit: Während wir noch mit den Officers Charlie MacCrey und Jim Dalton diskutierten, überschlugen sich die Ereignisse.
Sylvia machte sich auf den Weg, um Brian zu holen. Er wollte sich schließlich auch an der Sache beteiligen. Bevor sie losfuhr, holte Kim seine Gitarre aus dem Wagen, um den Indianern ihr Lied vorsingen zu können.

Kaum war Sylvia losgefahren, ging es los: Wir hörten die Bikergang heranfahren. Ich rief Sylvia an, daß sie da wären und wir auf jeden Fall noch Verstärkung bräuchten.
Die vier Indianer nahmen sich Stühle und setzten sich. Und Kim fing an, zu spielen.
In diesem Moment flogen auch schon die ersten Kugeln. MacCrey und Mulligan saßen an einem Fenster der kleinen Polizeiwache und schoßen zurück, Reed und Dalton am anderen. Ich und Spending beschränkten uns zunächst darauf, nachzuladen, bis wir Lärm an der hinteren Tür hörten und losrannten, um die Hollow Men dort aufzuhalten.
Der gefangene Biker, der immer noch in seiner Zelle saß, lachte und gröhlte. Wir hätten keine Chance, schrie er. Wir sollten doch schon mal unser Testament machen. In diesem Moment hörte ich den abgebrochenen Aufschrei von Reed, der getroffen worden war, hinter mir.
Da hab ich auf den Typ in der Zelle geschossen. Einfach so. Peng. Dann war er still.
Niemand hatte Zeit, sich um ihn zu kümmern. Von hinten drängten weitere Biker in den Raum und schossen wild um sich. MacCrey brach zusammen. Die Indianer standen von ihren Stühlen auf und griffen jetzt in den Kampf ein. Sie wurden zwar hin und wieder von Kugeln getroffen, aber es schien sie nicht zu stören. Und Kim spielte immer noch.

Brian und Sylvia gelang es im Krankenhaus, ein paar Vietnam-Veteranen aus der psychiatrischen Abteilung zu bewaffnen. Die Jungs waren sich nicht sonderlich klar darüber, wer eigentlich der Feind war - sie sprachen davon, Charlie abzuknallen. Einer von ihnen schoß sogar auf eine asiatische Krankenschwester. Trotzdem, sonst war niemand bereit, mitzuhelfen, also schnappten sich Sylvia und Brian einen Krankenwagen, verluden die Veteranen und fuhren los.
Als sie bei der Polizeistation ankamen, wurden wir immer noch belagert. Mittlerweile war auch Dalton gefallen und ich wieder vorne, bei den Fenstern. An der Tür nach hinten kämpften die Indianer und Spending.
Die Biker vorne sahen den heranrasenden Krankenwagen und schoßen auf ihn. Einer traf Sylvia am Arm, aber sie fuhr einfach weiter - erwischte zwei der Typen mit dem Auto und überfuhr sie einfach. Dann stieß Brian hinten die Tür auf, und dort traf der Chef der Hollow Men auf die Veteranen.
Er griff sich einen der alten Männer am Kopf und zerquetschte ihm mit einer Hand den Schädel. Mit der anderen schoß er auf Sylvia, traf sie auch, diesmal an der Schulter. Ich hatte ihn im Schußfeld, drückte ab, und sein Kopf explodierte. Den zweiten Biker, der noch herumstand, hab ich auch erwischt.
Danach wurde es chaotisch: Einer der Veteranen erschoß einen anderen (aus Versehen, nehme ich an), ein paar andere erschossen zwei Biker, die mich und Kim bedrohten. Kim beendete endlich sein Lied, und die Indianer fielen tot zu Boden. Spending war plötzlich irgendwie weg.
Die Veteranen stürmten gröhlend und schießend auf das Haus zu. Kim und ich hielten es in dieser Situation für eine gute Idee, einfach zu gehen, zumal der Hintereingang jetzt frei war. Die letzten drei Biker, die dort noch die Stellung gehalten hatten, waren auf der Flucht. Kim rannte hinter ihnen her, ich versteckte mich erstmal und wartete, bis die aufgehetzten Veteranen an mir vorbeigelaufen waren.

Dann traf ich mich wieder mit Sylvia und Brian. Brian hatte in diesem Kampf nichts abbekommen, aber Sylvias Arm war böse verletzt. Eigentlich wollten wir sie ja mit dem Krankenwagen in die Klinik fahren, aber irgendein Scherzkeks hatte den Wagen gestohlen (vermutlich ein Veteran).
Ein weiterer Krankenwagen tauchte kurz darauf bei der Station auf, aber außer Sylvia gab es keine Verletzten. Die beiden Cops, Mulligan und Reed, die vier Indianer und sechszehn Biker waren tot. Von allen, die in der Station gewesen waren, hatten nur Kim, ich und dieser Spending überlebt. Keiner von uns hat auch nur einen Kratzer abbekommen (figürlich gesprochen. Ein paar Kratzer hatte ich schon, aber nur vom In-Deckung-springen).

Ich blieb draußen, während die Sanitäter sich das Massaker im Inneren der Station betrachteten. Plötzlich sah ich den Scheinwerfer eines Motorrads, das sich mir näherte. Es war schon ziemlich dunkel, ich konnte nur die Silhouette eines Mannes mit einem Gewehr in der Hand erkennen, der auf mich zufuhr. Also habe ich geschossen. Ich wußte nicht, daß es Kim war.

Glücklicherweise wurde er nicht allzu schwer getroffen - die Kugel ging in den Oberschenkel. Ich war total entsetzt, ich wollte doch keinen Freund treffen. Ich kann aber auch nicht verstehen, warum er mit erhobener Waffe auf mich zugefahren ist. Danach haben die Sanis mir die Pistole erstmal weggenommen.

Kurz darauf trafen ein paar Polizisten aus den umliegenden Dörfern ein. Ich habe ihnen erzählt, was passiert ist, und bin dann mit einer Ambulanz ins Krankenhaus gefahren, um nach Sylvia, Brian und Kim zu sehen. Brian hatte sich nach dem Kampf auch nicht sehr gut gefühlt.
Es ging allen den Umständen entsprechend gut. Kim, der genug Schmerzmittel bekommen hatte, machte sogar einen eher glücklichen Eindruck. Er hat von der Schießerei nicht viel mitbekommen.
Während Sylvia operiert wurde, hab ich Brian erzählt, daß ich den Typ in der Zelle erschossen habe. Er wollte wissen, warum, und die einzige Antwort, die mir einfiel, war: “Er hat gezetert.”
Das ist, ehrlich gesagt, auch die Wahrheit. Wenn er still gewesen wäre, wäre ich nie im Leben auf die Idee gekommen, auf ihn zu schießen. Aber in diesem Moment, in dem mein... tja, ich schätze, das einzig richtige Wort hier ist “Kamerad”... in dem mein Kamerad hinter mir starb, in dem wir um unser Leben kämpften, wollte ich keine Ablenkung. Ich wollte eigentlich nur, daß er sein verdammtes Maul hält. Und wenn man eine Waffe in der Hand hält und ohnehin schon am Schießen ist, dann ist es verdammt einfach, das Ding kurz mal in die richtige (oder falsche) Richtung zu halten und abzudrücken. Wollte ich ihn umbringen? Nicht unbedingt. Ich wollte nur, daß er seine Fresse hält. Aber in dem Moment habe ich durchaus in Kauf genommen, daß er nach dem Schuß tot ist. Das war mir egal. Er war schließlich ein Feind. Ich denke, wenn er einfach nur ein Penner gewesen wäre, der gegröhlt hätte, hätte ich auch nicht geschossen, aber das war eine “Wir-gegen-Sie”-Situation.
Ich kann stundenlang reden und nicht entschuldigen, was ich getan habe. Tut es mir leid? Nicht um den Typ, ehrlich gesagt. Habe ich Schuldgefühle? Ja. Ich kann den Unterschied schwer in Worte fassen. Ich weiß, daß es falsch war, auf einen wehrlosen Menschen zu schießen, nur weil er mich provoziert hat. Früher hätte ich so etwas nie getan. Aber früher hätte ich mich bei einer Schießerei auch unter einem Tisch und leise vor mich hin gewimmert.
Ich habe immer geglaubt, daß das Leben heilig ist. Aber meine Vorfahren unter den Dakota haben das auch geglaubt. Sie sagen, in jedem von uns steckt etwas heiliges - wakan -, in den Menschen, den Büffeln, den Bären, der Sonne, den Winden... Und trotzdem sind sie hingegangen und haben Büffel erlegt, Bären gejagt und Menschen getötet, ohne einen Widerspruch zu sehen.
Was will ich damit sagen? Keine Ahnung. Ist mir nur gerade so eingefallen.

Wo war ich eigentlich gerade? Im Krankenhaus, während Sylvia und Kim operiert wurden. Beide Eingriffe verliefen erfolgreich, und Brian und ich beschlossen, noch ein bißchen herumzulaufen. Nach Reden war uns nicht zumute, aber wir haben uns ein Six-Pack Bier gekauft und dann versucht, uns gegenseitig zu überzeugen, mehr als eine Flasche zu trinken. Erfolglos, übrigens.
Brian ist irgendwann ein bißchen eingedöst, ich nicht. Einerseits ging mir zuviel im Kopf herum, andererseits tat mir der rechte Arm mal wieder weh. Bei der Schießerei kam ich wieder mal nicht dazu, ihn zu schonen - ich mußte einen Schrank rumschieben, um Kim ein bißchen Deckung zu geben, habe mich mehrfach auf den Boden geworfen, wenn die Biker wieder mal geschossen haben, und ich brauchte den blöden Arm, um den anderen abzustützen. Und warum bin ich nicht zum Arzt gegangen? Keine Ahnung. Vielleicht wollte ich ja Schmerzen haben. Das zeigt immerhin, daß ich noch lebe.

Als Brian wieder wach war, sind wir noch ein bißchen ziellos herumgelaufen und natürlich beim Mystery House gelandet. Da es nicht abgeschlossen war, und der Eigentümer sich auch nicht blicken ließ, sind wir noch mal in den Keller. Brian wollte durch das Loch schauen, das Kim geschlagen hatte. Statt dem erhofften Skelett des Erbauers fand er hinter der Wand nur ein Stück eines alten Wegs, den vor ein paar hundert Jahren die Indianer hier in der Gegend genutzt haben mögen.

Nach dieser Exkursion (bei der wir zum Glück nicht erwischt worden sind) gingen wir zurück ins Krankenhaus, um mit Sylvia und Kim herumzusitzen. Ich habe mich bei Kim entschuldigt - ich hätte vielleicht erst rufen und dann schießen sollen (aber ehrlich, wenn er ein Hollow Man gewesen wäre, hätte er mich in dem Moment wahrscheinlich erschossen). Ich hatte den Eindruck, als wäre er nicht allzu sauer. Sylvia war ganz gut gelaunt - immerhin hat sie jetzt auch einen Arm im Gips. Partner-Look, sozusagen. Wir sind eine ganz schön lädierte Brigade: Zwei Gipsarme, ein verbundenes Bein plus Krücke, und Brians Loch in der Brust. Willkommen beim Versehrtenverein der Schlacht von Craig.

Am frühen Nachmittag kamen dann ein paar Cops bei uns vorbei, um unsere Aussagen aufzunehmen. Dabei habe ich ihnen erzählt, daß ich den Typ in der Zelle erschossen habe. Warum? Viele Gründe. Zum einen hätten sie es mit einem guten Ballistiker ohnehin rausgekriegt. Außerdem hatte ich das Gefühl, Unrecht getan zu haben. Schuldgefühle eben. Und ich war erschöpft, verstört, leicht fiebrig (meine rechte Hand war mittlerweile rot und angeschwollen) und habe nicht sonderlich klar gedacht. Sonst wäre mir aufgefallen, daß ich ein Problem habe, wenn ich ins Gefängnis kommen sollte. Würde mich doch sehr wundern, wenn die Hollow Men keine Kontakte dahin haben.

Die Cops haben mich erstmal ins nächste Gefängnis gefahren und dort in U-Haft genommen. Ich habe meinen Dad angerufen (er ist Rechtsanwalt - Wirtschaftsrecht, aber er kennt die Szene), und er hat gesagt, daß er sich auf den Weg macht.

Das hier ist ein ebenso guter Zeitpunkt wie jeder andere, um das Kapitel abzuschließen. Die weiteren Ereignisse um die Verhandlung kriegen ein eigenes Kapitel. Ich darf das, ich bin der Autor.

Noch eine Sache: Ich habe bei der Schießerei nicht nur den Typ in der Zelle umgelegt. Da war auch noch der Boss der Hollow Men, der eine Typ vorne, und zwei andere Biker, die hinten reinwollten, von denen ich sicher bin, daß ich sie erwischt habe. Fünf Leute, die ich bei der Schießerei getötet habe. Plus dem Biker auf dem Motorrad, macht sechs. Plus Bill Toge. Sieben.
Als ich ein selbstgerechter Teenager war, bin ich meinem Onkel Joey ganz schön auf die Nerven gegangen. Joey ist ein Cousin meiner Mutter, und er war in Vietnam. Seither hat er irgendwas mit seinem Bein, bezieht Veteranenrente und sitzt meistens auf einer Bank vor seinem Haus und schaut der Sonne beim Scheinen zu. Er ist ein ruhiger Typ, sagt kaum was, reagiert nur auf direkte Fragen, und auch das nur manchmal. Macht aber trotzdem einen sehr ausgeglichenen Eindruck. Als hätte er eine Balance zwischen sich und der Welt gefunden. Nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich.
Ich hab ihn jedenfalls gelöchert, wie es ist, Leute zu töten. Er hat eine Medaille von Uncle Sam gekriegt, und die kriegst du nur, wenn du viele Feinde der Demokratie umbringst. Irgendwann muß ich ihm zu sehr auf die Nerven gegangen sein, denn er hat mir tatsächlich geantwortet. Hat gesagt, wenn ich wissen will, wie es ist, soll ich es halt tun. Dann könnten wir uns weiter unterhalten.
Klar, damals war ich sauer. Ich war ja auch ein Teenager, und ich fühlte mich verarscht. Ich schätze, jetzt weiß ich, was er meint. Aber jetzt muß ich auch nicht mehr drüber reden.

Bla, bla, bla. Wen interessiert das schon? Kann mir jemand erklären, warum ich euch mit diesem ganzen persönlichen Kram zumülle? (Ja, ja, ich weiß - ich rede halt gerne)

Bad Horse:
So, jetzt aber zum nächsten Kapitel:

Steamboat Springs - The Lone Ranger

Es ist ein bißchen Zeit vergangen, seitdem ich das letzte Mal an diesem Ding geschrieben habe, und ich bin zu faul, um mir das letzte Kapitel noch mal durchzulesen. Kann sein, daß ich mich wiederhole. Irgendwie wollte ich hier noch einen cleveren Spruch anbringen, daß ihr ja sowieso nichts dagegen machen könnt, oder daß ihr bitte Geduld mit mir haben müßt, aber leider fällt mir keiner ein. Also ignoriert mein Gebrabbel und lest einfach, ja?

Ich hatte also diesen Biker in der Zelle erschossen. Nicht nur das, ich hatte das ganze auch noch der Polizei erzählt. (Meine Gründe dafür habe ich ja schon mal erläutert, also spare ich mir das jetzt.) Jedenfalls nahmen die Cops mich erstmal mit nach Steamboat Springs, wo auch schon ein Haftbefehl auf mich wartete. Vorher durfte ich allerdings meinen Dad anrufen und ihm erzählen, was passiert war. Er nahm es relativ gelassen auf - naja, er war in der Kanzlei, und ich nehme an, er hatte einen Klienten da. Mein Dad ist Rechtsanwalt, Spezialgebiet Wirtschaftsrecht. Er versprach, sich um einen Verteidiger für mich zu kümmern, und wollte schon am nächsten Morgen in Steamboat Springs ankommen. Sylvia war bei mir, als ich den Anruf machte, also wußte sie davon. Sie mußte allerdings noch im Krankenhaus in Craig bleiben (Kim auch, und Brian kann nicht Auto fahren, also kam niemand mit nach Steamboat Springs).

Was danach passierte, weiß ich nicht mehr so genau. Ich taumelte wie in Watte gepackt von einem Ort zum anderen, und gelegentlich sagten mir irgendwelche Leute, was ich tun sollte. Irgendwer fummelte ziemlich dilettantisch an meinem Arm herum (ich nehme an, das war der Gefängnisarzt), aber selbst das war weit weg und nicht besonders schmerzhaft.
Schließlich brachten sie mich in eine kleine Zelle mit einem Bett und einem Radio. Die nächsten paar Stunden saß ich auf der Matratze und starrte die Wand an. Hörte Kugeln durch die Luft pfeifen. Leute schrieen und fluchten. Tote Körper schlugen in Zeitlupe auf dem Boden auf und verströmten Blut in roten Fontänen.
Ich könnte jetzt stundenlang von meinen Alpträumen erzählen, aber eigentlich möchte ich das gar nicht. Sagen wir einfach, ich hatte eine wirklich scheußliche Nacht. Vielleicht hätte ich die Pillen, die der Arzt mir geben wollte, doch nehmen sollen.

Am nächsten Morgen brachen Kim und Brian auf, um meinen Dad vom Flughafen abzuholen. Nicht zusammen, natürlich. Das wäre ja zu einfach gewesen. Nein, Brian nahm den Bus, und Kim unser Auto. Sylvia mußte im Krankenhaus bleiben.
Jedenfalls trafen sie meinen Dad am Flughafen. Er hatte meinen Cousin Don mitgebracht, der Erfahrung als Strafverteidiger hat und mich vor Gericht vertreten sollte.
Kim und Brian fuhren mit den beiden erstmal zum Gefängnis, um mich zu besuchen.
Mir ging es schon etwas besser: Gegen Morgen konnte ich ein paar Stunden schlafen, und als ich aufwachte, war zumindest das Fieber verschwunden. Ich sprach mit Don und Dad, die natürlich von der ganzen Situation weniger begeistert waren. Zumal ich mich nicht sonderlich gut an die Dinge erinnern konnte, die bei meiner Vorführung vor den Haftrichter gesagt worden waren. Und mein Dad kann Schußwaffen nicht leiden. Ich durfte als Junge nie mit meinen Verwandten auf dem Reservat jagen gehen, weil ich da ja hätte schießen müssen (nicht, daß ich sonderlich scharf drauf gewesen wäre). In Chicago war ich zusammen mit meinem Dad in der Gun Control Association, die sich für schärfere Waffengesetze ausspricht. Und jetzt hatte ich nicht nur einen, sondern gleich sechs Männer getötet. (Von Bill Toge war nicht die Rede. Der hatte mit der Sache nichts zu tun.)
Nachdem Dad und Don gegangen waren, um die Sache mit der Kaution zu klären, durfte ich noch mit Brian und Kim sprechen, die mir ermunternde Zeitungsartikel gezeigt haben (“Im Zusammenhang mit einer Schießerei, bei der mehrere Polizisten getötet wurden, wurde Bernard Jackson (23) aus Chicago, Illinois, verhaftet”, plus einem wenig attraktiven Bild von mir). Danach versicherten sie mir, das würde schon alles in Ordnung kommen, und ich versicherte ihnen, daß ich soweit okay wäre und das schon durchstehen würde. Außerdem sprachen wir kurz darüber, was wir eigentlich erzählen wollten - Kims Gitarrenspiel vor den vier Indianern hätte doch sehr seltsam gewirkt, also haben wir uns geeinigt, daß er einfach während der Schießerei einen Blackout hatte.

Es dauerte mehrere Tage, bis Don und Dad die Geschichte mit der Kaution endlich hingekriegt haben - sie haben einfach eine zweite Verhandlung anberaumt, da ich zur ersten ja eindeutig nicht vernehmungsfähig war. Das hieß allerdings auch, daß ich einige Tage im Gefängnis verbringen durfte. Immerhin lernte ich da einige charmante Gesellen kennen: Jack hatte seine Freundin zusammengeschlagen, Jim irgendwas geklaut, und Raymond war bei seiner Steuererklärung etwas zu kreativ geworden. Das war immerhin besser, als in der Zelle zu sitzen, die Wand anzustieren und zu überlegen, was schlimmer war: Die dröhnende Stille in der kleinen Kammer, oder vielleicht doch das Country-Gedudel im Radio?

In der Zwischenzeit wurde Sylvia aus dem Krankenhaus entlassen, und meine drei Reisegefährten machten sich auf einen längeren Aufenthalt in Steamboat Springs gefaßt.

Schließlich kam die Kautionsverhandlung, bei der überraschenderweise auch Brians Eltern anwesend waren - hauptsächlich wohl, um ihrem Jungen ins Gewissen zu reden. Dazu komme ich später.
Der Staatsanwalt war ein junger Kerl, höchstens 25 oder 26, namens Morten Windecker. Offenbar ein karrieregeiler Typ, denn die Anklage lautete auf Mord ersten Grades, und er forderte die Todesstrafe.
Ich war erst mal wie vor den Kopf geschlagen. Ich meine, in den letzten Tagen hatte ich von allen Seiten gehört, es würde schon nicht so schlimm werden, es würde alles in Ordnung kommen, und ich hatte tatsächlich angefangen, daran zu glauben. Und jetzt stand da dieser Typ, der mich nicht mal richtig ansehen wollte, und erzählte dem Richter, ich sei eine Gefahr für die Gesellschaft und müßte zum Wohl der Allgemeinheit hingerichtet werden.
Der Richter war wohl nicht ganz dieser Meinung, jedenfalls setzte er eine Kaution für mich in Höhe von 100.000 Dollar an. Glücklicherweise konnte mein Dad für so viel Geld bürgen, und ich durfte den Gerichtssaal mit ihm und Don verlassen.
Don war der Meinung, der Staatsanwalt hätte sich gehörig verschätzt und würde mit seiner Klage nie im Leben durchkommen. Ich hätte ihm ja wirklich gern geglaubt, aber grade vorher hatte er mir erzählt, daß ich höchstens wegen Totschlags angeklagt werden würde. Und ich mußte die ganze Zeit an meinen Großonkel William denken, den sie auf dem Stuhl umgebracht haben. Er hat vier weiße Männer getötet, die seine kleine Schwester vergewaltigt und ermordet hatten. Aber damals gab es zwei Arten von Rechtssprechung: Eine für Weiße (die vier Männer waren tatsächlich vor Gericht gekommen und frei gesprochen worden), und eine für Indianer. Ich hatte Angst, sein Schicksal zu teilen - meine Mutter hat mich immerhin nach ihm benannt.

Brians Eltern haben nach der Kautionsverhandlung mit ihm gesprochen. Ich weiß nicht genau, was sie gesagt haben, aber es ging wohl darum, daß er wieder nach Hause kommen und diese ganze Reise abblasen soll. Er hat sich geweigert, und sein Vater ist ganz schön sauer geworden. Jedenfalls war´s das mit der Kreditkarte, die Brian immer benutzt hat. Um sich finanziell über Wasser zu halten, hat er sich einen Job gesucht: Aushilfskoch bei Tante Edna´s, einem kleinen Burgerschuppen. Von da ab war er ziemlich beschäftigt.

Als Brian, Sylvia und Kim das Gerichtsgebäude verließen, mußten sie die leidige Erfahrung machen, daß es auf diesem Planeten möglicherweise intelligentes Leben geben mag, aber sicherlich nicht unter den Vertretern der örtlichen Presse. Ein paar dämliche Fragen von denen, ein paar sarkastische Antworten von Brian, und am nächsten Tag war ich plötzlich ein Alien. Oder der Bruder von Michael Jackson. Oder beides, natürlich. Sylvia mutierte sogar zur Anführerin einer Ufo-Sekte. Willkommen in Amerika, dem Land der unbegrenzten Blödheit. (Sorry. Es gab auch objektive Berichte. Ich werde bei Gelegenheit mal ein paar davon einscannen und anhängen.)

Die nächste Zeit verbrachten wir ziemlich friedlich. Brian briet Burger, Sylvia gab Nachhilfeunterricht in Mathe und Keyboard (ja, beides auf einmal) und Kim schrieb Songs und übte auf seiner Gitarre. Ich fing an, den Umgang mit einem Drum-Kit zu lernen, schrieb an einer Kurzgeschichte und diesem Ding hier herum und übte mit ein paar Hanteln. Nebenher hatte ich noch einen kleinen Nervenzusammen-bruch, der aber niemanden irgendwas angeht. Außerdem mußte ich mit zwei Psychologen reden, einem vom Gericht und einem, den mein Dad bezahlt hat. Die sollten feststellen, ob ich zum Zeitpunkt der Schießerei zurechnungsfähig war oder nicht. Mit einem Reporter habe ich auch gesprochen. Nachdem das Interview veröffentlicht worden war, hat die öffentliche Meinung eine echte Kehrtwende gemacht: Plötzlich war ich der Held von Craig, der unschuldige Bürger vor bösen Bikern beschützt hatte. Über Nacht hatte ich eine Fangemeinde, was das Ganze, ehrlich gesagt, nicht gerade einfacher machte.

Von Don erfuhren wir in dieser Zeit, daß Spending wirklich Sheriff in Joliet gewesen war, und daß sein Bruder tatsächlich von den Hollow Men umgebracht wurde. Jedenfalls gab es Unterlagen darüber. Und vor 10 Jahren war Spending Sheriff in Tucson. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. Was den Kerl angeht, bleibe ich skeptisch.
Mein Onkel Harry, der bei der Polizei in der Abteilung organisiertes Verbrechen arbeitet, erzählte mir, daß es die Hollow Men seit ungefähr fünf Jahren gibt. Sie kümmern sich um Schutzgelder und ähnliches, haben auch Kontakte zur Mafia. Bisher sind sie nicht durch so extreme Auseinandersetzungen wie in Craig aufgefallen. Sie verhielten sich im Augenblick ruhig, scheinen aber irgendetwas Größeres zu planen, allerdings nicht mit dem Ziel Colorado.

Der erste Verhandlungstag war schon zwei Wochen nach der Kautionsanhörung angesetzt worden: Offenbar wollte der Staatsanwalt die ganze Sache so schnell wie möglich durchziehen.
Schon kurz vorher hatten wir immer mal wieder einzelne Biker in Steamboat Springs gesehen. Die Polizei, die immerhin verstärkt worden war, hatte allerdings keinerlei Handhabe gegen die Typen, und vom FBI war weit und breit nichts zu sehen (wahrscheinlich mußten die irgendwo unschuldige Bürger belagern und waren zu beschäftigt).

Als ich mit meinem Dad und Don am Gerichtsgebäude ankam, hatten sich schon diverse meiner “Anhänger” versammelt, um Plakate zu schwenken und jedem, der es hören wollte, zu erzählen, ich sei ein Held. Einer von denen wollte sogar ein Autogramm von mir. Ich kam mir vor wie in einer sehr merkwürdigen, absurden Komödie - auf der einen Seite will mich dieser Staatsanwalt umbringen, auf der anderen Seite rufen mir irgendwelche Frauen zu, sie wollten ein Kind von mir. Leider war das Ganze überhaupt nicht witzig. Höchstens grotesk.
Brian und Sylvia hatten sich frei genommen, um auch beim Gericht zu sein, obwohl sie nicht mit in den Saal durften, weil sie ja Zeugen waren. Kim machte es anders: Er blieb im Hotel und nahm die ganze Verhandlung, die auf Justice TV gesendet wurde, mit dem Videorecorder auf. Und die ganzen Specials drumherum auch. Er hatte später sogar eine Aufnahme von einem Sprecher der Hollow Men, der ernsthaft versicherte, sie wären nur ein Club von Motorradfans, die dem Rachefeldzug eines gefährlichen Irren zum Opfer gefallen wären. Sehr glaubwürdig.

Ich war an diesem Tag der Erste, der aussagen mußte. Nachdem ich erzählt hatte, was in Craig passiert war, nahm mich Windecker ins Kreuzverhör und fing mit albernen Fragen nach meiner indianischen Abstammung und den vier Ute an. Offenbar wollte er auf eine größere Verschwörung von Indianern hinaus, die sich zusammengetan hatten, um die Hollow Men niederzumeucheln. Gut, daß ich mein Verhalten im Gerichtssaal vorher mit Don geübt hatte, sonst wäre ich wahrscheinlich ein klitzekleines bißchen sarkastisch und/oder wütend geworden. Ich kann Rassismus nicht leiden, und die Aussagen des Staatsanwalts schrammten immer wieder nur sehr knapp daran vorbei. Immerhin meinte Don philosophisch, daß das schon mal ein guter Grund für eine Berufung wäre, wenn wir den Prozeß verlieren sollten.
Während ich dabei war, meine Aussage zu machen, bemerkte ich Sie im Publikum. Claire Soderbergh, meine Ex-Freundin, und gewisse Vergleiche mit der irren Krankenschwester aus Stephen Kings Roman sind vielleicht gar nicht so unangebracht. Nein, das war unfair. So schlimm ist sie auch wieder nicht.
Claire studiert Psychologie (kennt einer von euch einen netten, ausgeglichenen Psychologen?) und modelt nebenher für irgendeine Agentur. Kim konnte erst gar nicht verstehen, warum ich sie nicht mehr wollte - schließlich sieht sie wirklich super aus. Aber sie hat ein paar Probleme damit, die Worte “es ist vorbei” zu verstehen. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, daß ich mich von ihr getrennt habe. Schon in Chicago hat sie mich regelrecht verfolgt. Das war auch der ursprüngliche Grund, warum ich nach Daytona wollte - um einfach ein bißchen Abstand zu ihr zu kriegen.
Jedenfalls tauchte sie in diesem Gerichtssaal auf. Ich nehme an, sie hat durch Presse oder Fernsehen von meinen Schwierigkeiten gehört und war sofort losgedackelt, um mich zu “unterstützen”. Wäre sie mal besser in Chicago geblieben.
Als der Staatsanwalt mir ein paar besonders unangenehme Fragen stellte, stand sie auf und fing an, ihn zu beschimpfen. “Mein Freund hat so etwas nie getan”, rief sie tapfer aus, “Lassen Sie ihn sofort in Ruhe!” Und dann kam sie richtig in Fahrt und erzählte ihm, was ich doch für ein friedliebender Mensch bin und daß sie mich ja sooo gut kennt, bla, bla, bla. Sie redet noch mehr als ich.
Der Richter war von ihrem Auftritt natürlich nicht so angetan und ließ sie aus dem Gerichtssaal entfernen. Dort traf sie prompt auf Sylvia, die auch noch versuchte, sie zu trösten (sie kannte Claire ja nicht).
Nachdem Richter Miller die Verhandlung für diesen Tag aufgehoben hatte, ging ich mit Dad und Don nach draußen, wo Claire auf mich gewartet hatte. Sie fiel mir prompt um den Hals, erzählte mir, wie sehr sie mich vermißt hat, und so weiter. Ich versuchte, ihr klar zu machen, daß ich mich von ihr getrennt habe, aber irgendwie kam ich nicht richtig zu ihr durch. Schließlich gelang es mir, sie an Don abzugeben, der ihr den richtigen Umgang mit Presse und anderen offiziellen Stellen erklären sollte (sehr zu Dons Begeisterung).

Zusammen mit Brian und Sylvia ging ich dann zu Kim. Der zeigte uns ein paar Interviews, die Claire wohl nach dem Gespräch mit Don gegeben hatte. Vor laufender Kamera fing sie an, den Staatsanwalt (“Er wurde nicht gestillt”) und den Richter (“Er hat Probleme mit Autoritäten”) zu analysieren. Dankeschön, Claire, ich bin sicher, das hat mir total geholfen.
Während der darauffolgenden Lästereien fiel mir plötzlich auf, daß Claire, die sich ja öffentlich als meine Freundin geoutet hatte, auch in Gefahr sein könnte. Immerhin konnten die Hollow Men nicht wissen, daß wir nicht mehr zusammen waren. Also rief ich Don an und bat ihn, nach ihr zu sehen und sie zu warnen. Don war nicht sehr begeistert - er war sie doch grade erst losgeworden -, ging dann aber los. Und rief kurz darauf zurück: Claire war von zwei Rocker-Typen aus ihrem Hotel mitgenommen worden.

Ich geriet erst mal in Panik. Ich meine, ich liebe Claire nicht, aber mir vorzustellen, was die Hollow Men mit ihr machen würden... sie ist eine so hübsche Frau. Ich wollte sofort losrennen, um ihr zu helfen, hatte aber nicht die geringste Idee, wohin eigentlich. Brian hielt es für wahrscheinlich, daß sie sie nach Craig bringen würden, um sie dort zu ermorden und in die Zelle zu legen, in der ihr Kumpel gestorben war. Er und Sylvia machten sich sofort auf den Weg dorthin. Ich wollte auch mit, aber die beiden überzeugten mich, daß ich nur im Weg wäre, und daß sie vielleicht mit den Hollow Men verhandeln könnten.
Nachdem die beiden weg waren, überlegten Kim und ich, daß sie ja vielleicht auch in einer der vielen Skihütten um Steamboat Springs herum gefangengehalten werden könnte. Wir beschlossen, auf Don zu warten, der bei uns vorbeikommen wollte, bevor wir etwas unternehmen würden.
Kim nahm das sehr wörtlich: Kaum tauchte Don auf, verschwand Kim, so schnell, daß er sogar sein Handy vergaß. Er mietete sich einen Wagen, den Don und ich noch wegfahren sahen, und begann, die Skihütten abzuklappern.
Nachdem auf einmal alle weg waren, hielt mich auch nichts mehr im Motel. Don wollte erst mit mir kommen, aber ich konnte ihn überzeugen, lieber der Polizei auf die Nerven zu fallen - im Wald hätte er mir ohnehin nicht helfen können. Also mietete ich mir ein Pferd (warum auch immer, ich schätze, ich dachte, mit einem Pferd wäre ich leiser und beweglicher) und brach zur nächstbesten Skihütte auf.


Bad Horse:
Der Rest der Geschichte ist ein bißchen lückenhaft, weil ich teilweise einfach nicht genau weiß, was die anderen gemacht haben. Andere Sachen habe ich mitgekriegt, die schreibe ich natürlich auf, aber ein paar Kommentare wären diesmal echt erwünscht.
Aber bevor ich mit dem dramatischen Teil anfange, muß ich kurz noch mal zurückspringen, weil mir grade noch etwas wichtiges eingefallen ist (sorry. Irgendwann werde ich das mit der chronologischen Erzählung schon noch hinkriegen).
Am Abend vor der Verhandlung sind wir zusammen ins Autokino gegangen, in den Film “The Gathering”. Schon ganz am Anfang gab es eine Szene, in der ein junger Mann in ein Loch fiel und von einem Kreuz aufgespießt wurde. Dabei verging mir und Kim jegliche Lust, den Film weiter anzuschauen, und wir sind ein bißchen in der Gegend herumgelaufen. Brian und Sylvia sind dageblieben und haben sich das Teil bis zum Ende angeschaut. Dabei sind ihnen ein paar merkwürdige Sachen aufgefallen: Die Kirchenwand aus Tucson kam darin vor, die mit unseren Bildern drauf. In dem Film wurde auch erklärt, was mit den Personen auf dem Bild war - das waren Schaulustige, die sich die Kreuzigung von Jesus Christus angesehen hatten. Dafür wurden sie dann verflucht, in alle Ewigkeit als Geister herumzuwandern und immer wieder Zeuge von gewaltsamen Toden zu werden. Die Heldin des Films geriet irgendwie mit ihnen aneinander und starb zum Schluß, um sie zu besiegen. So etwas in der Richtung zumindest, ich habe Brian und Sylvia da nur mit einem Ohr zugehört. Die beiden waren etwas beunruhigt, weil es zwischen den Sachen, die uns passiert sind, und dem Film ein paar Parallelen gibt. Irgendwie stört mich das nur sehr wenig. Wer weiß, vielleicht hat unser “Freund” aus L.A. den Film auch mal gesehen. Oder vorher mit dem Drehbuchautor geredet. Ach ja, da fällt mir ein, der Schurke im Film war ein geistig Behinderter, der sauer war, weil er aus der Schule geflogen ist. Jedenfalls hatten wir hier noch die Parallele mit der verpatzten Prüfung. Ich glaube, ich habe mich in dem Moment ausgeklinkt, als Sylvia erzählte, der Mörder wäre irgendwie behindert gewesen - ich kann so etwas nicht ab. Als ob geistig Behinderte nicht schon genug Probleme hätten, auch ohne daß irgendwelche blöden Hollywood-Idioten die Ängste vor ihnen noch schüren müssen.

So, jetzt aber zurück zur Entführung. Da ich nicht wußte, wo Kim war, und ihn auch nicht anrufen konnte, ritt ich einfach zur ersten besten Skihütte. Und tatsächlich: Davor waren zwei Motorräder mit Kennzeichen aus Illinois geparkt. Ich rief erst einmal Don an und sagte ihm Bescheid. Dann schlich ich mich näher an die Hütte heran. Trotz meiner Unfähigkeit (ich konnte noch nie besonders gut schleichen) bemerkte mich niemand, und durch eines der Fenster konnte ich hören, wie zwei Männer darüber sprachen, daß die ganze Aktion ein bißchen ungeplant passiert war, weil die Gelegenheit so günstig gewesen sei. Das hätte harmlos sein könnte, aber das Gefühl hatte ich nicht, also schickte ich Don eine SMS mit meinem Standort. Und wo ich das Handy schon mal draußen hatte, kam ich doch tatsächlich auf die Idee, den Klingelton abzustellen.
Leider ungefähr zwei Sekunden zu spät: Als ich mich noch durch die Menüs klickte, fing das Ding natürlich an zu klingeln. Das war Brian, der eigentlich nur Bescheid sagen wollte, daß in Craig alles in Ordnung war und sie Claire nicht gefunden hatten. Ich drückte ihn erstmal weg und rannte los. Die Typen in der Hütte hatten das Gefiepe meines Handys natürlich auch gehört und kamen raus, um nachzusehen, was los sei. Sie sahen ziemlich Biker-mäßig aus und waren mit Schrotflinten bewaffnet. Ich versteckte mich erstmal in einem Gebüsch (in der Hoffnung, daß sie Stadtjungs wären, die das Fiepen eines Handys nicht von einem Vogel unterscheiden können). In der Eile hatte ich aber vergessen, den Klingelton tatsächlich auszustellen, und das verdammte Ding klingelte erneut. Also verabschiedete ich mich von dem netten Gebüsch und rannte zu meinem Pferd. Glücklicherweise verfolgten mich die beiden Biker nicht allzu enthusiastisch, sondern beschränkten sich darauf, ein paar Mal hinter mir her zu schießen.
Weil ich in dieser Hütte (Morgentau hieß sie, glaube ich, die Dinger hatten alle so romantische Namen) Claire nicht gesehen hatte, und außerdem Don ja Bescheid wußte und hoffentlich die Polizei losschicken würde, machte ich mich auf den Weg zur nächsten Hütte (Rosenduft? Rosenhauch? Irgendwas mit Rosen).

Als ich dort ankam, sah ich außer drei Motorrädern auch Kims Wagen auf dem Vorplatz stehen. Idyllischerweise stand hinter der Hütte ein Biker und hackte Holz. Ich dachte mir, daß er mich zwischen den Schlägen kaum würde hören können, also schlich ich näher. Durch das Fenster sah ich zwei weitere Hollow Men, die sich darüber unterhielten, daß “einer von den Idioten ihnen direkt in die Hände gelaufen war”. Ich nahm an, daß es sich um Kim handelte.
Da ich nicht sicher war, ob ich es mit drei Bikern auf einmal aufnehmen konnte - naja, eigentlich war ich verdammt sicher, daß ich auch schon mit einem Schwierigkeiten kriegen würde -, wollte ich wieder wegschleichen und Don und die Polizei verständigen. Aber auf dem Rückweg sah mich der Holzhacker und rief seine Kumpels, die mich dann durch den Wald jagten. Ich schaffte es bis zu meinem Pferd, aber das blöde Vieh scheute, als es Schüsse hinter sich hörte, und ich fiel prompt runter (soviel zum Thema Lone Ranger). Und dann hatten sie mich. Noch ein Idiot, der ihnen direkt in die Hände gelaufen war.

Sie zogen mir erst mal eine über den Schädel, und als ich wieder zu mir kam, lag ich - an Händen und Beinen gefesselt - neben Kim und Claire auf einem Bett. Die beiden waren ebenfalls verschnürt. Da außer uns niemand in dem Raum war, stand Kim auf und hüpfte zu dem großen Spiegel hinüber, der an einer Wand hing. Es gelang ihm, das Teil abzuhängen und auf dem Boden zu zerschmettern.
Der Lärm, den der zerbrechende Spiegel machte, rief allerdings einige der Hollow Men herbei. Die waren nicht eben begeistert von der Aktion. Einer von ihnen schlug Kim nieder, ein anderer löste meine und Claires Beinfesseln und band uns aneinander. Der letzte beschränkte sich darauf, uns mit seiner Waffe zu bedrohen. Hätte er mal besser aufgepasst - noch während Kim zu Boden ging, gelang es ihm, eine der Spiegelscherben zu greifen und in seiner Hand zu verbergen.
Die drei Typen brachten uns zu Kims Mietwagen. Ich und Claire mußten uns auf den Rücksitz setzen, Kim kam in den Kofferraum. Einer von ihnen, ein Kerl mit Haaren bis zur Hüfte, setzte sich auf den Fahrersitz, die anderen beiden blieben bei der Hütte.
Unterwegs gelang es Kim, seine Fesseln mit der Spiegelscherbe durchzuschneiden. Danach versuchte er, durch den Spalt im Sitz auch mich und Claire zu befreien, aber genau in diesem Moment muß der Langhaarige in den Rückspiegel geschaut und Kims Hand bemerkt haben. Er hielt an, stieg aus und ging zum Kofferraum. Ich habe versucht, ihn irgendwie abzulenken, aber mein Gerede interessierte ihn erstmal herzlich wenig. Er stellte fest, daß Kim seine Fesseln gelöst hatte, verschnürte ihn erneut und schlug ihn dann nochmal nieder.
Als er zurückkam, fing ich an, ihn zu beschimpfen. Ich war nervös und hatte panische Angst um Kim, und ich mußte dem ganzen Luft machen, auch wenn das natürlich keine sonderlich brilliante Idee war. Nachdem er Claire mit seiner Knarre bedroht hatte, war ich auch wieder still.

Wir fuhren weiter, und da bemerkte ich, welchen Fehler unser Freund begangen hatte. Er hatte Kim zwar wieder verschnürt, aber er hatte sich wohl keine Gedanken darüber gemacht, wie so ein schlanker Kerl die Fesseln überhaupt losgeworden war. Als ich ziellos hinter mir herumtastete, auf der Suche nach irgendetwas, daß uns die Flucht ermöglichen könnte, griffen meine Finger plötzlich in die Spiegelscherbe.
In Romanen oder Filmen ist es immer ganz einfach, sich Fesseln mit beliebigen spitzen und/oder scharfen Gegenständen durchzuschneiden. Leider erwies es sich, daß die Autoren noch nie versucht hatten, das Ganze mit einer scharfkantigen Scherbe in einem fahrenden Auto zu probieren. Ich schnitt mehr in mein Handgelenk und meine Finger als in die Stricke, mit denen ich gefesselt war. Reines Glück, daß ich mir nicht versehentlich die Pulsadern durchgeschnitten habe.
Bei einem besonders tiefen Schnitt muß ich wohl das Gesicht verzogen haben, jedenfalls bemerkte unser langhaariger Freund, daß irgendetwas im Gange war. Ich konnte ihm allerdings weis machen, daß es nur mein rechter Arm sei. (Die Hollow Men hatten die Schiene freundlicherweise abgemacht, damit sie mich besser fesseln konnten.)
Schließlich gelang es mir, mich zu befreien. Ich packte die Scherbe fester, beugte mich vor und hielt sie dem Langhaarigen an den Hals. Er versuchte erst gar nicht, ein Held zu sein, sondern hielt den Wagen an und ließ sich brav von mir entwaffnen. Ich gab Claire die Scherbe und sagte ihr, sie solle sich losschneiden, während ich den Biker mit seiner eigenen Waffe bedrohte. Sie zickte ein bißchen herum, warum ich das nicht machen könnte (na klar, ich hätte den Biker ja auch sich selber überlassen können. Der hätte uns schon nichts getan. Wollte ja nur spielen oder so. Manchmal raubt sie mir den letzten Nerv, und das war eine von diesen Gelegenheiten).
Danach holte sie Kim aus dem Kofferraum, und wir fesselten den Langhaarigen und sperrten ihn dort ein. Armer Kerl, das war keine gute Idee, zumindest für ihn nicht. Aber dazu später mehr.

Während Claire, Kim und ich mit unserer Flucht beschäftigt waren, kamen Sylvia und Brian aus Craig zurück. Vor meinem verfehlten Schleichversuch hatte ich Don angerufen und ihm erzählt, vor welcher Hütte Kims Wagen geparkt war, daher konnte er den beiden unseren letzten bekannten Standort mitteilen. Telefonisch erreichbar waren wir nicht, da ich diesmal zumindest den Klingelton ausgestellt hatte.
Als Brian und Sylvia bei der Rosen-Dings-Hütte ankamen, war niemand mehr dort, aber auf dem Boden des Schlafzimmers fanden sie Blutspuren und die Scherben des Spiegels (ich nehme an, daß sich Kim auch geschnitten hat und daß das Blut von ihm stammte). Sie gerieten ein bißchen in Panik, und als sie draußen Motorengeräusche hörten, rannten sie sofort zu ihrem Wagen.
Es waren zwei Biker, die bei der Hütte auftauchten. Sylvia trat das Gaspedal durch und fuhr sie beide über den Haufen, dann hielt sie an - während sie noch auf dem Bein eines Typen stand. Brian sprang wild brüllend aus dem Wagen und rannte auf den anderen zu, der nicht ganz wußte, was los war, sich umdrehte und erst einmal floh. Brian machte sich sofort an die Verfolgung. Ganz klar gedacht haben kann er nicht, denn der Hollow Man hatte ein Gewehr in der Hand, und er selber war nur mit einem Wagenheber bewaffnet. Aber er hatte Glück: Als dem Biker irgendwann auffiel, wie die Situation tatsächlich aussah, und sich umdrehte, um auf Brian zu schießen, verfehlte er ihn um eine Handbreit. Er war stehen geblieben, um zu schießen, und Brian kam nah genug an ihn heran, um ihm den Wagenheber quer übers Gesicht zu dreschen. Der Hollow Man ging zu Boden und blieb erstmal liegen.

Mittlerweile war auch die Polizei, von Don alarmiert, eingetroffen - zwei ganze Polizisten (immerhin). Einer von ihnen übernahm den von Brian eingefangenen Biker, konnte aber auch nichts näheres über unseren Aufenthaltsort herausfinden. Schließlich versuchten sie mit irgendeiner archaischen Anlage, unsere Handys zu verfolgen.

Claire hatte sich in der Zwischenzeit hinter das Steuer des Wagens geklemmt, Kim saß neben ihr, und ich war hinten, um auf den Biker im Kofferraum aufzupassen. Wir wollten zur Polizei fahren und ihnen unseren Gefangenen übergeben. Da ich mir nicht vorstellen konnte, daß die Behörden es gut finden würden, wenn ich schon wieder mit einer Waffe durch die Gegend fuhr, bat ich Kim, das Teil ins Handschuhfach zu packen.
Nur wenige Minuten später hörten wir die Motorräder hinter uns. Claire geriet in Panik, trat das Gaspedal durch und jagte den Wagen in Richtung Tal. Leider geriet sie bei einer Kurve ins Schleudern und krachte frontal gegen die Leitplanke. Das war der erste Autounfall des Tages. Keine Angst, es kommen noch mehr.
Kim und Claire vorne hatten das Bewußtsein verloren, mir ging es relativ gut. Durch Claires wilde Fahrweise waren die Biker immer noch ein gutes Stück hinter uns, also sprang ich aus dem Wagen, ging nach vorne, schob Claire auf Kim drauf und setzte mich selber hinters Steuer. Wir hatten Glück: Die Karre fuhr noch, und bevor die Biker bei uns ankamen, war ich schon wieder auf der Straße und raste auf das Tal zu.
Schade, daß ich auch nicht besser Auto fahren kann als Claire: In einer Kurve übersteuerte ich, und weil meine blutigen Finger am Lenkrad festklebten, gelang es mir auch nicht, rechtzeitig wieder auf die Straße zu kommen (ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewußt, wie klebrig Blut sein kann; aber es ist ein toller Ersatz, wenn man mal keinen Klebstoff dabei hat). Wir krachten mit der linken Seite voll gegen einen Baum, ich schlug mit dem Kopf gegen das Lenkrad, und diesmal gingen auch bei mir die Lichter aus.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich das Gesicht eines Bikers über mir. Naja, Gesicht ist vielleicht das falsche Wort: Hauptsächlich sah ich lange, wirre Haare und einen buschigen Bart, aus denen so etwas wie eine Nase ragte. Zwei kleine Äuglein, von den Augenbrauen fast verdeckt, blinzelten mich erstaunt an. Im ersten Moment dachte ich, es sei ein Bär, aber die riechen im Allgemeinen nicht nach Bier.
Ich dachte, jetzt hätten sie uns wieder, griff hastig nach meinem Handy und drückte wild einige der Knöpfe. Schließlich meldete sich Brian, aber bevor ich ihm sagen konnte, wo wir waren (wenn ich es denn gewußt hätte), nahm mir das Bartgestrüpp mein Telefon weg und unterbrach die Verbindung. Ich fing unklugerweise an, ihn zu beschimpfen, und er schlug mir mit einer behaarten Hand ins Gesicht. Da wurde es erstmal wieder dunkel.

Brian, der ein schlauer Bursche ist, wählte das Handy sofort wieder an, und es klingelte tatsächlich - beim Knöpfchendrücken hatte ich den Rufton wohl wieder eingestellt. Verwirrt nahm der Hollow Man den Anruf an, und Brian war geistesgegenwärtig genug, ihm zu erzählen, er wäre von der Bankberatung in Islington und würde gerne Mr. Wade sprechen. Der Biker gab das Handy daraufhin Kim, der gerade wieder zu Bewußtsein gekommen war. Ich weiß nicht, warum er das tat - wahrscheinlich war er geistig ziemlich unterbelichtet. Irgendwann hatte er aber genug von dem Gespräch, nahm Kim das Telefon aus der Hand und warf es mit großem Schwung weg.
Inzwischen war ich wieder bei zu mir gekommen. Ich hatte rasende Kopfschmerzen und war nicht ganz klar, aber ich dachte, es wäre gut, wenn ich die Waffe wieder hätte. Also griff ich rüber zum Handschuhfach, öffnete es und nahm die Waffe heraus - alles ganz ruhig, ohne Hektik oder schnelle Bewegungen. Das muß den Biker getäuscht haben, denn er machte keinerlei Anstalten, mich aufzuhalten.

Kaum hielt ich die Waffe in der Hand, verschwand der traumähnliche Schleier und ich war wieder klar. Ich richtete die Pistole auf Bartgestrüpp und drängte ihn zurück, damit ich aussteigen konnte. Erst da fiel mir auf, daß er nicht allein unterwegs war: Hinter ihm stand noch ein zweiter Biker-Typ mit sehr hellblonden, dünnen Haaren. Er hatte auch eine Waffe, die er sofort auf mich richtete. Im Schach nennt man so eine Situation Patt. Ich wollte nicht, daß er mich erschießt, er wollte nicht, daß ich seinen Kumpel erschieße, also standen wir beide da und versuchten, einen Kompromiß zu finden, was sich aber als schwierig erwies.
Immerhin war auch Claire wieder bei Bewußtsein, und sie und Kim kletterten aus dem Wagen. Ich sagte zu den beiden, sie sollten verschwinden, ich hätte die Situation schon unter Kontrolle, sie sollten nur sehen, daß sie wegkämen, und gab Kim sein Handy, das ich ja noch bei mir trug. Erstaunlicherweise taten die beiden, was ich sagte, und da Blondie den Lauf seiner Waffe nicht von mir wegbewegen wollte, schafften sie es, außer Sichtweite zu kommen.
In diesem Moment dachte ich wirklich, ich sei erledigt. Ich war allein mit diesen beiden Typen, die mich umbringen wollten, und ich dachte, das war´s dann. Hier komme ich niemals lebendig wieder raus. Wenigstens sind Claire und Kim davongekommen.

Ich hatte meine Rechnung allerdings ohne Claire gemacht. Nachdem sie ein paar Meter gerannt ist, ist ihr aufgefallen, daß ich ja nicht dabei war, und sie ist prompt wieder umgekehrt, um mir zu helfen. Kim, der das für keine gute Idee hielt, und der wußte, daß sie nur als Geisel gegen mich verwendet werden würde, versuchte, sie aufzuhalten, allerdings nur mit beschränktem Erfolg. Immerhin konnte ich deutlich hören, wie die beiden sich weiter unten am Hang stritten.
Das war allerdings absolut nicht Teil des Plans, der mir ganz vage vor meinem inneren Auge vorschwebte. Die beiden konnte ich da gar nicht brauchen. Also schlug ich den beiden Typen vor, daß sie mich zu ihrem Anführer bringen sollten. Ich stieg hinter Bartgestrüpp aufs Motorrad und behielt meine Pistole an seinem Kopf, während Blondie auf die zweite Maschine stieg und hinter uns herfuhr - seine Waffe war die ganze Zeit auf meinen Rücken gerichtet.
Wir waren also schon ein gutes Stück entfernt, als Kim und Claire wieder beim Auto ankamen. Claire beschloß natürlich, hinter uns herzufahren, und wie durch ein Wunder fuhr der Wagen immer noch! (Wenn ich die Automarke noch wüßte, würde ich sie sofort weiterempfehlen, aber leider habe ich nicht drauf geachtet.)

Bad Horse:
Wie schon gesagt, ich hatte eine Art Plan im Kopf, als wir losfuhren, und an diesem Tag muß irgendein guter Geist seine Hand über mich gehalten haben, denn schon nach kurzer Zeit sah ich genau das, was ich brauchte: Einen einigermaßen sanften Abhang ohne viel Unterholz. Wir fuhren ziemlich langsam, und als wir neben dem Abhang waren, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sprang vom Motorrad. Ich kam über die Leitplanke, der Schuß der Blonden fegte über mich hinweg, und dann kugelte ich den Hang hinunter.
Bei einem großen Stein kam ich zu einem Halt. Das war auch gut so, denn der Abhang wurde dahinter bedeutend steiler - wenn ich da hinunter gefallen wäre, hätte ich meine Knochen einzeln einsammeln können. So hatte ich nur überall blaue Flecken. Was mein rechter Arm zu der Sache sagte, will ich lieber nicht berichten. Begeistert war er jedenfalls nicht. Aber ich hatte meine Waffe noch, und der große Stein schien eine gute Deckung zu sein. Außerdem konnten mich die beiden oben erstmal nicht sehen. Ich dachte, im Wald hätte ich gute Chancen, ihnen auch ohne Pferd zu entkommen.

Kim und Claire waren mittlerweile wieder mit voller Geschwindigkeit unterwegs, und gerade, als die beiden Typen von ihren Motorrädern steigen wollten, kamen sie um die Ecke geschossen. Kim (oder Claire, ich weiß nicht, wer gerade fuhr) versuchte, Bartgestrüpp und Blondie umzufahren, aber die beiden konnten ausweichen und fingen nun ihrerseits an, auf den Wagen zu schießen. Glücklicherweise hielt Kim nicht an, sondern fuhr einfach weiter, bis er außerhalb der Reichweite der beiden war. Dann fiel ihm ein, daß er ja versuchen könnte, Hilfe herbeizurufen. Also rief er Brian an, der natürlich erleichert war, wieder von uns zu hören. Leider wußte Kim auch nicht so ganz, wo er sich befand. Erst nachdem Claire mit ihrem Handy ein Photo von der Umgebung gemacht und verschickt hatte, erkannte einer der Polizisten die Straße. Brian und Sylvia brachen sofort mit den zwei Cops auf, um mir zu helfen. Kim hatte ihnen erzählt, die Biker würden mich umbringen.

Das haben sie auch versucht. Nachdem der Wagen weg war, kamen die beiden Hollow Men aus ihrer Deckung heraus und fingen an, mich von oben zu beschießen. Ich wußte, daß ich mich nicht ewig hinter einem Stein verkriechen konnte, und rannte unten am Hang von Baum zu Baum. Die beiden folgten mir oben an der Straße und gaben hin und wieder einen Schuß auf mich ab. Einer traf, aber es war nur ein Streifschuß an meinem linken Bein. Trotzdem wurde ich langsamer und überlegte, ob ich nicht doch versuchen sollte, die Schlucht hinunter zu klettern.

Claire und Kim konnten das Warten in der Zwischenzeit nicht ertragen und fuhren wieder los, um mir zu helfen. Als Claire die beiden Biker ein Stück unterhalb der Straße sah, lenkte sie den Wagen in den Wald hinein und fuhr in voller Schußfahrt auf die beiden zu. Es gelang ihr, einen zu streifen, bevor sie den Wagen wieder - und diesmal zum endgültig letzten Mal - gegen einen Baum fuhr. Der andere Biker - Bartgestrüpp - konnte dem Auto zwar ausweichen, verlor dabei aber das Gleichgewicht und stürzte den Hang hinunter, der hier nicht mehr ganz so sanft war. Ich sah ihn, wie er beinahe in die Schlucht stürzte, sich aber im letzten Moment an einem Stück vorstehenden Fels festklammern konnte. Ich ging zu der Stelle, an der er hing. Er schien Angst vor mir zu haben, aber er sagte kein Wort. Ich nahm meine Waffe in die rechte Hand und half ihm mit der linken hoch. Danach schlug ich ihn nieder, nicht besonders kräftig, aber ich schätze, er hatte erstmal genug von diesem Tag.

Als ich zu dem kaputten Auto kam, kam Kim gerade wieder zu sich, Claire war noch ohnmächtig. Ich zog sie aus dem Wagen - sie war gefahren, jetzt weiß ich es wieder, sie saß auf dem Fahrersitz. Sie war noch am Leben und schien nicht schwerwiegend verletzt zu sein, genausowenig wie Kim, der nach ihr aus dem Wagen kletterte.
Wir konnten uns nicht länger auszuruhen, denn oben am Hang hörten wir schon wieder Motorräder heranfahren. Zeit, zu verschwinden. Claire war noch nicht wieder bei Bewußtsein, also mußte ich sie tragen. Es gelang uns, abzuhauen, bevor die neu angekommenen Hollow Men uns bemerkten. Offenbar gab es unter ihnen niemanden, der Spuren lesen konnte, sonst hätten sie uns wieder gefunden und eingefangen - sonderlich schnell waren wir nämlich nicht.

In der Zwischenzeit waren Brian, Sylvia und die beiden Polizisten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf dem Weg zu uns. An der Stelle, an der ich den Wagen gegen den Baum gesetzt hatte, hielten sie kurz an, um sich umzusehen. Das war auch gut so, sonst hätten sie die zehn Motorräder, die ihnen entgegenkamen, nicht gehört. So beschlossen sie, daß sie es zu viert nicht mit zehn Bikern aufnehmen können, und fuhren ein Stück zurück, um sich auf einem Hohlweg vor den Hollow Men zu verstecken. Brian versuchte, Kim anzurufen, aber bei dem letzten Autounfall war dessen Handy kaputtgegangen, und er war nicht mehr erreichbar.
Sylvia und Brian vermuteten daraufhin das Schlimmste, und als sie endlich an dem Hang ankamen und den kaputten Wagen fanden, dachten sie, wir wären alle tot. Die Polizisten waren derselben Meinung, und sie verbrachten den Rest des Tages damit, nach unseren Leichen zu suchen.

Erst am Abend kamen Kim, Claire und ich aus dem Wald heraus und fanden eine Telefonzelle. Claire war wieder bei Bewußtsein und mußte selber laufen - nachdem das Adrenalin bei mir nachgelassen hatte, konnte ich mich selber kaum auf den Beinen halten, geschweige denn irgendjemanden tragen. Wir sahen ziemlich kaputt aus, als wir aus dem Wald kamen. Kim war weiß wie ein Laken und zitterte, Claire heulte leise vor sich hin, und ich sah dauernd kleine schwarze Sternchen vor meinen Augen herumtanzen.
Wir riefen erst einen Krankenwagen, dann telefonierten wir mit Brian und Don und versicherten ihnen, daß wir am Leben und nicht allzu schwer verletzt waren. Wir trafen uns dann später im Krankenhaus, wo wir unsere Geschichten austauschten. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Wenn nicht, dann nehmt´s mir bitte nicht übel, aber ich hatte an diesem Abend überall kleine Löcher.
Die Polizei hat uns auch noch vernommen. Das war der Moment, wo mir der Kerl im Kofferraum wieder eingefallen ist. Leider zu spät: Die Polizei hatte ihn schon gefunden. Er war tot. Noch einer also. Er hatte mir erzählt, daß die Hollow Men für jeden von ihnen, den ich umgebracht habe, einen meiner Freunde oder Verwandten töten würden. Oh, und mich natürlich auch. Trotzdem tat mir der Kerl irgendwie leid - gefesselt in einem Kofferraum herumgeschleudert zu werden, bis einem der Schädel oder das Genick bricht, kann keine schöne Art zu sterben sein.

Don und mein Dad, die auch zum Krankenhaus gekommen waren, wollten die Verhandlung ein paar Tage aufschieben, weil Kim so fertig war, aber letzten Endes haben wir uns dann entschieden, das Ganze lieber hinter uns zu bringen. Also wurde nur der Beginn der nächsten Sitzung vom frühen Morgen auf den nächsten Nachmittag verschoben.

Kim und ich hatten daher den ganzen Morgen Zeit, Blödsinn zu veranstalten. Brian und Sylvia wollten vor der Verhandlung noch auf den Schießstand, und Kim und ich beschlossen, uns auf die Suche nach dem Mietpferd zu machen, das nicht von alleine zurückgekommen war. Unterhalb der Rosen-Hütte fanden wir es dann auch: Sylvia hatte es am Tag vorher an einen Baum gebunden (aber leider vergessen, Bescheid zu sagen), warum auch immer. Glücklicherweise hat es kein Bär gefressen. Jedenfalls übergab ich Kim die Schlüssel für das Auto (Dons Mietwagen, den wir uns kurzerhand ausgeliehen hatten), und schwang mich selbst auf das Pferd, das auch ganz friedlich wirkte.
Ohne größere Probleme kamen wir wieder nach Steamboat Springs zurück, aber kurz vor dem Hotel übersah Kim ein Vorfahrtsschild und fuhr mit Dons schönem Auto in einen brandneuen Porsche hinein. Dann wurde es ein bißchen absurd: Don tauchte auf, um die zeternde Tussi, der der Porsche gehörte, zu beruhigen, ich mußte mich halb auf der Straße in den Anzug schwingen, und das Pferd konnte ich vor Verhandlungsbeginn auch nicht zum Mietstall bringen. Also mußte es eben mit.

Die Zeitungen hatten über die Ereignisse des Vortages natürlich mit Genuss berichtet. Ich hatte jetzt einen neuen Spitznamen: Lone Ranger Jackson. Na klar, Jungs. Als wäre ich allein da wieder rausgekommen (streng genommen wäre ich allein auch gar nicht reingeraten, aber lassen wir das). Entsprechend hatte sich eine noch größere Menge an “Fans” angesammelt, die mich und mein Pferd bestaunen wollten.
Ich konnte den Gaul schließlich einem Cop in die Hand drücken, der nicht sonderlich begeistert darüber wirkte, und wäre fast noch wirklich zu spät gekommen.
An diesem Tag durften Brian, Kim und Sylvia aussagen. Sie haben es alle geschafft, sich sinnvoll zu äußern und  weder zu verplappern noch in allzu scharfen Sarkasmus zu verfallen. Ich hatte den Eindruck, daß der Staatsanwalt mit dem Prozeßverlauf nicht allzu zufrieden war.

Nach der Verhandlung passierte ein kleines Wunder: Claire kapierte irgendwie, daß ich sie wirklich nicht in meiner Nähe haben wollte, und rauschte beleidigt nach Chicago ab. Ich hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht sehr nett zu ihr war, aber hauptsächlich war ich erleichtert.

Den Abend verbrachten wir zu viert in Kims Zimmer und dichteten ein bißchen an Alanis Morissettes Lied “Ironic” herum. Schließlich war es ja ironisch, daß ein Dutzend Hollow Men nicht mal auf drei Gefangene aufpassen konnte. Und daß einer von ihnen vor Brian Reißaus genommen hat, obwohl er eine Schußwaffe hatte und Brian nicht, ist auch eher peinlich.
Außerdem gab es noch ein paar amüsante Specials über mich im Fernsehen. Ich weiß nicht warum, aber an diesem Abend war ich in Hochstimmung. Wahrscheinlich war es nur die Erschöpfung. Man kann nicht immer Angst haben.
Beim Bierholen fielen Kim und ich dann über eine Horde meiner “Fans”. Ein Kid war besonders nervig - vor allem fand ich seinen Gesichtsausdruck, als ich ihm sagte, er solle gehen und seine Hausaufgaben machen, ziemlich beunruhigend. Ich hoffe, ich konnte dem Kleinen klarmachen, daß es nicht in Ordnung ist, Leute einfach zu erschießen, auch keine Hollow Men.
Außerdem wollten diese Irren alle Autogramme von mir. Ich hab mich natürlich geweigert, aber Kim, unser kleiner Rockstar, hat ein paar verteilt. Und das, obwohl er vorher so sehr auf Anonymität gepocht hat.

Der nächste Verhandlungstag brachte keine sensationellen neuen Ergebnisse. Der Staatsanwalt schien auf jemanden zu warten und wurde immer nervöser. Schließlich beantragte er eine Verschiebung der Plädoyers, die schon am nächsten Tag gehalten werden sollten. Der Richter weigerte sich - immerhin war es Windecker gewesen, der auf einen schnellen Prozeßverlauf gedrängt hatte.
Im Hotel konnten wir dann Kims erstes Live-Video bewundern: Er hatte sich auf den Balkon gestellt und der Presse und ein paar Fans unsere “Ironic”-Variante vorgespielt.
Der Abend verging sehr ruhig. Ich war ziemlich nervös und unruhig. Am liebsten wäre ich nach draußen gegangen und ein bißchen herumgelaufen, aber ich sah ja ein, daß das keine sonderlich gute Idee war. Trotzdem fühlte ich mich in dem Hotelzimmer eingesperrt.

Irgendwie verging auch diese Nacht, und der nächste Verhandlungstermin war schon früh am Morgen angesetzt. Brian, Sylvia und Kim kamen mit mir zum Gerichtsgebäude, durften aber natürlich nicht mit hinein. Sie wollten bis zur Urteilsverkündung da bleiben (falls sie nicht vorher zur Arbeit hätten gehen müssen, natürlich).
Das Plädoyer des Staatsanwalt lief darauf hinaus, daß ich schon in Chicago eine Fehde mit den Hollow Men gehabt und Joseph Napier kaltblütig und mit Vorsatz in seiner Zelle abgeknallt hätte. Überzeugende Argumente dafür hatte er nicht.
Dann war Don dran. Naja, besonders brilliant fand ich seine Ausführungen darüber, daß das alles ein Unfall gewesen sei, ja nicht, aber immerhin dachte er daran, den Geschworen einzuimpfen, daß sie jenseits aller vernünftigen Zweifel von meinen mörderischen Absichten überzeugt sein müßten, wenn sie mich schuldig sprechen wollten.
Ich weiß nicht, was jetzt am ehesten gewirkt hat. Die Geschworenen brauchten relativ lange - eine knappe Stunde -, um zu ihren Urteil zu kommen: Nicht schuldig. Ich mußte mich erstmal hinsetzen. An die nächsten paar Minuten kann ich mich nur vage erinnern - Umarmungen, Glückwünsche. Kim, Sylvia und Brian waren auf einmal da und strahlten mich an. Es war vorbei.

Wir verließen das Gerichtsgebäude durch den Hinterausgang. Kein Grund, jetzt noch einen Angriff der Hollow Men zu riskieren.
Wir hatten nicht vor, noch länger in Steamboat Springs zu bleiben. Noch am gleichen Tag brachen wir wieder auf in Richtung Westen. Brian, Sylvia und Kim hatten es auf einmal furchtbar eilig, also fuhren wir wieder auf den Highway und waren die ganze Nacht hindurch unterwegs. Ich habe nicht den Eindruck, daß das so eine gute Idee ist. Seitdem wir beschlossen haben, den Ute Sleeping Mountain nicht oder später zu besuchen, habe ich ein blödes Gefühl im Magen. Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht schneller zu unserem Ziel, aber wenn wir den falschen Weg nehmen, hilft uns das gar nichts. Die anderen haben Angst, daß die Hollow Men uns finden, wenn wir zu langsam unterwegs sind, aber ich verstehe nicht, warum. Die Biker sind auf ihren Motorrädern viel schneller unterwegs als wir, und früher oder später werden wir wieder mit ihnen aneinander geraten. Wer weiß, welche Faktoren das beschleunigen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, das wir bei unserer Pilgerreise gerade einen Schrein ausgelassen haben. Und was heißt das? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich darüber nachdenke, kommt mir jedesmal eine Ausdruck aus einem Buch in den Sinn, das ich irgendwann mal gelesen habe: “Catastrophe, my friend.”

Entschuldigung. Ich neige dazu, dramatisch zu werden. Aber das komische Gefühl ist real.
Seit Steamboat Springs folgen uns irgendwelche Leute, die sehr geschniegelt aussehen, in einem unauffälligen Auto. Wahrscheinlich hat das FBI endlich seinen Hintern hochgekriegt. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie beruhigt mich das kein bißchen.

Mir ist noch etwas merkwürdiges aufgefallen. Ich weiß gar nicht, wie ich es hatte übersehen können, aber tatsächlich brauchte es eine Frage meines Vaters, um es mir bewußt zu machen: Ich habe lange Haare. Das mag nicht sonderlich verwunderlich erscheinen, aber als wir vor sechs oder sieben Wochen aus Chicago aufgebrochen sind, waren sie noch kurz (ich war in der Woche vorher noch beim Friseur). Bevor wir in das Krankenhaus in Tucson eingeliefert worden sind, waren sie immer noch kurz - gut, ein bißchen wirr für meine Verhältnisse, aber eben kurz. Danach waren sie etwa schulterlang, und mittlerweile reichen sie mir bis über die Schultern. Ich habe keine Ahnung, wie die so lang geworden sind.

Kurz nachdem mein Vater und Don angekommen waren, rief mich mein Großvater an. Er sagte mir, ich sollte die Haare nicht abschneiden. Woher er wußte, daß sie lang waren? Keine Ahnung. Mein Großvater weiß Sachen. Das ist jetzt kein Aberglaube, das ist einfach so. Jedenfalls war ich etwas überrumpelt und habe ihm versprochen, sie dran zu lassen.
Mein Vater und Don waren natürlich nicht so begeistert. Steamboat Springs ist ein Hinterwäldler-Kaff, wo Männer mit langen Haaren sicher nicht so gerne gesehen werden. Sie hatten Angst, daß die Geschworenen Anstoß daran nehmen könnten. Außerdem wollten sie die Jury auch nicht gerade mit der Nase darauf stoßen, daß ich kein reinrassiger Weißer bin. Ich sehe zwar eigentlich nicht sehr indianisch aus, aber mit den langen Haaren fällt es schon auf. Vielleicht wollte mein Großvater ja deswegen, daß ich sie dranlasse. Vielleicht will ich sie ja deswegen dranlassen.

Bad Horse:
Hallo... das hat ja lange gedauert, aber ich hatte vergessen, wo ich genau war in der Geschichte... jetzt geht´s mal weiter:

So, da bin ich wieder. Nicht etwa in Los Angeles, aber das hat ja auch niemand erwartet, oder? Statt dessen waren wir in:

Salina - La Familia

Wir sind also von Steamboat Springs aus losgefahren, und schon in der ersten Nacht  (Kim fuhr, und alle anderen schliefen) verreckte uns das Auto. Der Keilriemen war gerissen und hatte noch ein paar andere Teile im Getriebe beschädigt. Danach folgte das übliche Spiel: Sylvia rief bei AAA an, ein freundlicher Mitarbeiter kam, sah und schüttelte den Kopf. Mit dem Versprechen, er würde für die Reparatur nur ein bis zwei Tage brauchen, schleppte er uns dann in die nächste Kleinstadt ab. Das war Salina.
Wir mieteten uns - mal wieder - im örtlichen Motel ein und machten uns am nächsten Tag daran, den Ort zu erkunden. Es gab ein kleines Heimatkundemuseum, in dem wir ein paar Dinge über die Geschichte von Salina erfuhren: Gegründet wurde es Mitte des 19.Jhd. (von den "ersten Siedlern in dieser Gegend" - die Ute, die da vorher gelebt hatten, zählten wahrscheinlich nicht), später aber im Zuge von Black Hawk´s War wieder verlassen. Nachdem die Ute endgültig besiegt und auf Reservate gebracht worden waren, kamen die Siedler langsam zurück. In den Bergen um die Stadt herum gibt es Salz- und Kohlevorkommen, und in den 40ern wurde das gesamte Tal überschwemmt. Nicht sehr interessant. Nur eine Sache: Auf einem Foto von ein paar alten Ute-Kriegern fiel mir eine Halskette mit einem großen Tigerauge auf, die einer der Männer trug. Ich bin mir sicher, daß ich dieses Schmuckstück schon mal irgendwo gesehen habe, aber ich kann mich nicht erinnern, wo und wann das war. Vielleicht auf einem größeren Powwow?
Zunächst erschien mir die Kette nicht sonderlich wichtig. Viel interessanter waren unsere Geldprobleme - so langsam gehen uns die Reserven aus. Klar, Sylvia und Brian haben in Steamboat Springs gearbeitet, und ich habe eine meiner Kurzgeschichten verkauft ((!), aber die ständigen Motels und Mahlzeiten in irgendwelchen Restaurants fressen das Geld rasend schnell auf. Und unsere Möglichkeiten, nebenher an Kohle zu kommen, sind reichlich beschränkt.
Na gut, das konnten wir in dem Moment nicht ändern - Sylvia und Brian konnten für einen oder zwei Tage keinen Job finden (Kim hat es, wie üblich, gar nicht erst versucht). Also beschäftigten wir uns so gut wir konnten: Brian und Sylvia gingen in die Bibliothek, Kim hing rum und spielte auf seiner Gitarre, und ich wanderte auf der Suche nach Inspiration und ein bißchen Ruhe in die Wälder um Salina.
In der Bücherei fand Sylvia interessanterweise ein Buch, auf dessen Titelbild die Kette abgebildet ist, die mir schon im Museum aufgefallen war. Als sie damit zurück zum Motel lief, fiel ihr auf, daß sie von einem Indiander verfolgt wurde.

Apropos verfolgt: Die beiden Jungs vom FBI tauchten natürlich auch in Salina auf. Mieteten sich sogar im selben Motel ein. Sylvia hat ja überlegt, sie zum Grillen einzuladen, aber ich hielt das für keine gute Idee. Wenn die beiden sich von uns verarscht fühlen, können sie uns jede Menge Ärger machen, und das hat uns ja dann grade noch gefehlt. Wenn die beiden Typen überhaupt vom FBI waren...

Am nächsten Tag war der Wagen noch nicht fertig ("Ich warte noch auf ein Ersatzteil, aber es muß morgen oder übermorgen kommen...", wie üblich). Dafür sah Sylvia neben dem FBI-Auto vier Harleys mit Illinois-Kennzeichen stehen. Und da waren sie wieder, unsere freundlichen Biker aus der Nachbarschaft. Man könnte ja fast meinen, daß sie uns verfolgen.
Es gab eine kurze Panik, hauptsächlich von Dr. Sylvia verbreitet, aber eigentlich war niemand überrascht. Weg konnten wir ja ohnehin nicht, solange das Auto noch in der Werkstatt war. Als Kim zur Bibliothek wollte, bin ich trotzdem mal lieber mitgekommen - man kann ja nie wissen. Tatsächlich kamen wir nicht bis zur Bücherei. Diesmal waren die Hollow Men allerdings nicht schuld, sondern eher die Reporter.

Unterwegs sprach mich ein Indianer an (Sylvias Verfolger, übrigens) - er hatte diesen dämlichen "Lone Ranger Jackson"-Artikel in der Zeitung gelesen und wollte mich jetzt um Hilfe bitten. Offenbar hat er uns mit dem A-Team verwechselt - naja, der Witz ist auch schon älter. Sylvia ist Hannibal (wir müssen ihr nur noch angewöhnen, Zigarren zu rauchen und "Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert" zu sagen), Brian ist Face (naja, er ist blond), Kim ist Murdock (kein Kommentar () und ich muß dann wohl B.A. sein. Vielleicht sollte ich mir ein paar Goldketten kaufen.

Entschuldigung, aber ich kam mir tatsächlich ziemlich seltsam vor. "Hilf mir, du bist doch der Lone Ranger." Ich dachte echt, der verwechselt mich jetzt mit einem Superhelden oder so.
Jedenfalls wollte er auf offener Straße nicht sagen, worum es eigentlich ging. Wir verabredeten, uns später bei seinem Haus zu treffen - ich wollte Sylvia und Brian gern dabeihaben (hätte ja eine Falle sein können).

Zu viert kamen wir dann bei William (so heißt der Indianer) an. Er erzählte uns, daß seiner Familie vor ungefähr zehn Jahren eine heilige Halskette gestohlen worden sei, die früher einmal Red Eagle, einem Kriegshäuptling der Ute, gehört hatte. Niemand war sonderlich überrascht, daß es sich um die Kette mit dem Tigerauge handelte.
Jedenfalls befand sich die Kette im Augenblick im Besitz eines reichen Weißen, der in der Nähe von Salina lebte. William und sein Bruder Edgar hatten schon versucht, mit diesem Charles Adkinson zu sprechen, allerdings erfolglos. Edgar wurde sogar von Adkinsons Bodyguards zusammengeschlagen.
Ich war mir erst nicht ganz sicher, was William eigentlich von mir wollte. Dachte er vielleicht, daß ich mir nur meine Superheldenuniform anziehen muß, um da reinzufliegen und ihm seine heilige Kette wiederzuholen? Glücklicherweise wollte er eigentlich nur, daß ich Adkinson noch einmal um die Rückgabe der Kette bitte (sonst hätte ich ihn auch enttäuschen müssen). Warum er glaubte, daß ich da Erfolg haben könnte, war mir nicht ganz klar, aber ich versprach ihm, es zu versuchen.

Ganz ungefährlich schien die Sache nicht zu sein: Adkinson hatte sein Geld angeblich durch Verwicklungen ins organisierte Verbrechen verdient. Außerdem hatte William schon öfter Harleys vor seinem Anwesen gesehen. Möglicherweise hatte der Typ also Kontakte zu den Hollow Men. Aber ich dachte mir, er würde schon nichts versuchen, solange wir ganz offen, vor Zeugen, bei ihm auftauchen. Ja, ich bin ein naives Schäfchen, ich weiß. Tut mir leid, ich kenn mich mit der Mafia eben nicht aus.

Bevor wir uns auf den Weg zu Adkinson machten, warnten wir William noch - wenn es wieder Probleme mit den Hollow Men geben würde, wäre auch seine Familie in Gefahr. Er beschloß, seine Frau und seine zwei kleinen Kinder erstmal zu seinem Bruder auf die Ranch außerhalb der Stadt zu schicken.
Aber kaum waren die drei aus dem Haus, hörten wir Motorräder heranfahren. Wie angestochen rannten wir auf die Straße, wo vier Hollow Men gerade auf Williams Frau und die zwei Kinder zufuhren. Sylvia schrie: "Hierher, ihr Schweine!", und die Rocker fuhren an den drei Indianern vorbei, auf uns zu.
Wir hatten echtes Glück: Die Jungs waren nicht wegen uns in Salina. Die erkannten uns nicht mal. Naja, Zeitung zu lesen ist vielleicht nicht gerade ein typisches Biker-Hobby. Nachdem wir uns gegenseitig angestresst hatten, zogen wir uns zurück, die setzten nicht nach, und alles war (erstmal) in Ordnung.

Am späten Nachmittag brachen wir auf, um Mr. Adkinson zu besuchen. William - der ein funktionierendes Auto hatte - fuhr uns hin.
An der Tür nahm uns ein gorillaförmiger Angestellter in Empfang. Nachdem ich meinen Namen genannt hatte, ließ er uns tatsächlich in die Villa rein. Klar, das machte mich mißtrauisch, aber nicht übermäßig.
Wir durften eine Weile auf Adkinson warten. Als er schließlich reinkam, wartete eine große Überraschung auf uns: Der Typ, der da reinkam, war kein anderer als Brians Onkel Charly. Alias Charles Farrington, alias Charles Adkinson.
Brian war ziemlich erstaunt, Onkel Charly auch. Die beiden begrüßten sich erstmal eine Weile, bevor Brian uns dann auch vorstellte. Mir war die ganze Sache ziemlich suspekt, aber Brian schien sein ganzes Mißtrauen auf einen Schlag vergessen zu haben. Sein Onkel konnte schließlich kein Mafiosi sein - der kam doch immer an Sylvester zum Feiern.
Adkinson (oder Farrington) hieß Sylvia, Kim und mich ebenfalls willkommen. Als wir ihn nach der Kette fragte, erklärte er sich tatsächlich bereit, sie den Utes wieder zurückzugeben. Allerdings wollte er nicht, daß ich gehe, um sie zu William zu bringen. Wohlgemerkt, das bezog sich nur auf mich - er hatte nichts dagegen, Sylvia und Kim mit ihr weg zu lassen. Die beiden sind dann auch los, und ich hoffte in dem Moment wirklich, sie würden nicht zurückkommen. Farringtons Bereitschaft, mich gegen meinen Willen festzuhalten, verhieß nichts gutes.
Nicht, daß Brian irgendetwas davon merkte. Nein, das war nur sein lieber alter Onkel, der eben eine sehr altmodische Vorstellung von Gastfreundschaft hatte. Der würde mir doch nichts tun.
Also verbrachten wir die nächste Stunde damit, Farringtons Privatsammlung von indianischen Kultgegenständen anzusehen. Es waren einige wirklich schöne Stücke dabei, die ganz sicher nicht in die Hände eines einzelnen Mannes gehören, sondern eigentlich in den Besitz des Stammes, dem sie heilig sind. Farrington sah das natürlich anders: Nachher machen die Indianer die schönen Sachen noch kaputt oder so. Da sind sie bei ihm schon besser aufgehoben.
Schließlich kamen Sylvia und Kim zum Abendessen wieder (warum auch immer). Es war eine ziemlich steife Angelegenheit - ich war nicht gerade sehr höflich zu "Onkel Charly", und er versuchte die ganze Zeit, die Farce aufrechtzuerhalten. Seine junge Frau war auch dabei, vielleicht hat er wegen ihr so getan, als wären wir nur ein paar Gäste, die vollkommen freiwillig an seinem Tisch säßen.

Nach dem Abendessen sind Sylvia und Kim gegangen. Ich war erleichtert: Ich dachte schon, er würde sie auch da behalten. Als Brian den Raum ebenfalls verließ, um mit seinen Eltern zu telefonieren, ließ Farrington die Maske fallen. Er sagte mir direkt, daß sein Neffe morgen von seinen Eltern abgeholt werden würde. Sylvia und Kim könnten ihren Weg nach LA weiter fortsetzen. Mit mir wäre das eine andere Geschichte - er hätte da ein paar Freunde, die dringend mit mir reden wollten, und er hätte ihnen versprochen, ein "Treffen" zu arrangieren. Bis dahin würde Brian natürlich schon Hunderte von Meilen von Salina entfernt sein und nie erfahren, was aus mir geworden wäre.
Das war immerhin deutlich. Für einen wilden Moment dachte ich, wenn ich ohnehin schon so gut wie tot wäre, könnte ich auch versuchen, ihn mitzunehmen. Er muß das wohl auf meinem Gesicht gesehen haben, denn plötzlich hatte er einen kleinen Revolver in der Hand.
In diesem Augenblick kam Brian wieder ins Zimmer. Sein Onkel hatte wohl keine Lust mehr, ihn anzulügen, und bestätigte meine Anschuldigungen Wort für Wort. Danach ließ er uns von seiner Leibwache zu unseren Quartieren zu bringen. Immerhin gestattete er uns, unsere letzte Nacht zusammen zu verbringen (das mag jetzt zweideutig klingen, ist aber nicht so gemeint. Wer einen schmutzigen Gedanken findet, darf ihn behalten).
Nachdem die Konfrontation mit Farrington vorbei war, bin ich erstmal ein bißchen zusammengeklappt. Ich nahm nicht an, daß uns eine Flucht gelingen könnte, und ich versuchte, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß ich in ein paar Tagen sterben würde, und wahrscheinlich nicht gerade kurz und schmerzlos. Brian dagegen war in heller Aufregung: Sein Onkel war ein Mafiosi, sein Vater wußte augenscheinlich darüber Bescheid, und sie arbeiteten mit den Hollow Men zusammen! Er war der Meinung, daß wir natürlich irgendwie entkommen würden. Dafür sprach immerhin, daß er seine Tasche noch hatte, in der sich diverse Chemikalien befanden. Hatte ich schon erwähnt, daß Brian ein kleiner Pyromane ist?
Jedenfalls redete er solange auf mich ein, bis ich wieder ein bißchen Mut schöpfte. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich wie ein braves Schaf zur Schlachtbank getrottet.

Wir machten uns daran, unser Zimmer zu erkunden. Es gab ein Bad, das wir überschwemmen konnten, ein Doppelbett (ich frag mich, was Onkel Charly sich dabei gedacht hat), das wir anzünden konnten, und einen praktischen Balkon, von dem wir springen konnten. Naja, ganz so praktisch war er nicht - immerhin drei Meter über dem Boden. Ich bin zwar schwindelfrei, aber so richtig niedrig sah das nicht aus.
Jedenfalls beschlossen wir, eine Ablenkung zu inszenieren: Ich hatte immer noch ein Magazin Patronen in meiner Hosentasche (die Pistole selber lag sicher in unserem Auto), die Brian in die Luft jagen wollte. Dazu überreichte uns Onkel Charly doch tatsächlich freundlicherweise noch eine Flasche Whisky. Danach wollten wir über den Balkon springen und davonlaufen, möglichst Richtung Stall (ja, der nette Onkel hatte einige richtig gute Pferde. Und da heißt es immer, Verbrechen zahlt sich nicht aus).
Also legten wir eine Zündschnur, machten ein bißchen Feuer und dann sprang ich als erster. Leider kam ich nicht wirklich gut auf: Mein rechter Knöchel gab nach, ich knickte um und knallte heftig auf den Boden. Das war der Moment, wo der Kerl, der unter dem Balkon Wache gehalten hatte, mit einer Pistole auf mich zielte und mir sagte, ich sollte bloß keinen Scheiß machen. Tat ich nicht, ich war noch viel zu beschäftigt damit, herauszufinden, was ich mir diesmal alles gebrochen hatte (nichts).
Brian sah das natürlich von oben und warf einen kleinen Hocker nach dem Typen. Er traf zwar nicht richtig, aber der Kerl war abgelenkt und schaute nach oben. Das war der Moment, als ich dachte, ich könnte ihm doch meine Schiene an den Kopf donnern. Leider beschloß Brian im selben Augenblick, von oben auf die Wache drauf zu springen.
Die Katastrophe war vorprogrammiert: Anstatt auf den Wächter zu treffen, fiel Brian auf meinen Arm - das Knacksen kannte ich irgendwie schon - und rammte seinen Kopf gegen meine Schiene. Immerhin verwirrte das den Typen mit der Pistole. Klar, wer rechnet schon damit, daß sich seine Gegner selbst verstümmeln?
Brian und ich waren mal wieder voll auf Adrenalin, und irgendwie gelang es uns, den Typen auszuschalten, ohne uns selbst weiter zu verletzen. Dummerweise konnte er vorher noch "Alarm" rufen, und schon kamen von allen Seiten weitere Wächter auf uns zugelaufen.

Wir rannten los, Richtung Stall, und schafften es irgendwie, vor den anderen da zu sein. Naja, wir hatten auch mit der Explosion im Herrenhaus gerechnet. Ich schätze, das hat die Jungs ein bißchen abgelenkt. Im Stall ließ ich die Pferde aus den Boxen, und Brian zündete das Heu an. Dann ließen wir die Pferde raus und rannten im Schatten der panischen Herde weg vom Haus. Fragt mich jetzt nicht, wie wir es geschafft haben, nicht zertrampelt zu werden. Manchmal haben wir mehr Glück als Verstand.
Es gelang uns jedenfalls, in ein kleines Wäldchen zu flüchten, das sich aber immer noch auf dem Grundstück befand. Und ja, das gesamte Grundstück war umzäunt. Offenbar hat der gute Onkel Charly mehr Feinde, als wirklich gesund ist - jedenfalls fällt mir kein anderer Grund ein, warum er einen Zaun mit Betonfundament und Stacheldraht um sein gesamtes, riesiges Grundstück ziehen sollte. Wenigstens stand das Ding nicht unter Strom.
Wir wären aber wohl trotzdem nicht drüber gekommen. Brian hatte eine Gehirnerschütterung und trottete mir mit glasigen Augen hinterher. Mein Knöchel pochte im Takt mit meinem Arm herum, und ich glaube nicht, daß ich noch auf einen Stuhl hätte klettern können, geschweige denn über irgendwelchen Stacheldraht. Aber da kam uns etwas? jemand? zu Hilfe: In dem Zaun fanden wir ein kreisrundes Loch mit ungefähr zwei Fuß Durchmesser. Groß genug, um durchklettern zu können. Wer das Loch gemacht hatte? Warum es ausgerechnet kreisrund war? Warum überhaupt irgendjemand ein Loch in diesen Zaun schneiden sollte? Keine Ahnung. Wissen wir nicht.
Wollten wir aber in dem Moment auch gar nicht so dringend wissen. Wir wollten nur weg, und das Loch war praktisch. Hinter Charlys Grundstück begann sofort die Wildnis, und wir liefen erstmal einfach drauflos. Ich glaube, wir versuchten, immer bergauf zu gehen. Tatsächlich sind wir orientierungslos herumgestolpert. Nach einiger Zeit hörten wir Hunde hinter uns. Brian murmelte Pfadfindertips: "Wir müssen durch einen Bach..." - als hätte ich irgendwo einen versteckt. Es gibt natürlich tolle Kräuter, die den Geruch verdecken, und vielleicht kann ich sie unter optimalen Bedingungen auch finden. Aber nicht nachts im Wald, verletzt, mit einem Kumpel, dem ständig die Augen zufallen. Also humpelten wir einfach weiter.
Nach einiger Zeit hörten wir nicht nur Hundegebell, sondern auch noch Wolfgeheul. Das motivierte Brian, eine improvisierte Fackel anzuzünden (na klar, wenn es um Feuer oder Explosionen geht, ist er leicht zu motivieren). Und irgendwann fielen wir tatsächlich über den "Wolf": Das war William Forrester, der nach uns gesucht hatte.

In der Zwischenzeit waren Sylvia und Kim zu ihm gegangen und hatten ihm alles erzählt. Leider wußte er auch nicht, was man tun könnte - von einem direkten Angriff hat er abgeraten, nehme ich an. Schade, ich schätze, ein frontaler Angriff von ein paar wilden Ute-Kriegern hätte Brian irgendwie gefallen.
Kim ist so sehr in Panik geraten, daß er sogar seinen Vater angerufen hat. Der dachte, sein Kleiner ist irgendwo in Korea, um da zu studieren und Verwandte zu besuchen. Entsprechend begeistert war er, als er jetzt erfuhr, daß der liebe Junge irgendwo in Utah hängt und sich mit der Mafia angelegt hat. Allerdings hat er nicht viel Zirkus gemacht, sondern aufgelegt und sich ins nächste Flugzeug geschwungen, was Kims Panik nur gesteigert hat. Schließlich wollte er seinen Papi eigentlich nicht treffen.

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