Autor Thema: [Unknown Armies] Road Movie  (Gelesen 17291 mal)

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[Unknown Armies] Road Movie
« am: 2.03.2005 | 10:34 »
Hier folgt - in mehreren Fortsetzungen - das Tagebuchdings meines Charakters in Christian Preuss´ UA-Kampagne. Das Tagebuchdings ist a) aus meiner Begeisterung für die Runde und b) aus meinem schlechten Gedächtnis für Stories entstanden. Es ist aus der Sicht meines Charakters geschrieben.

Hier noch mal eine ganz kurze Erklärung, wer die Chars sind (das meiste erzählt Barry in dem Tagebuchdings selber):
- Bernard Wordsworth ("Barry") Jackson: Das ist mein Char, und der Ich-Erzähler. Am Anfang der Kampagne hat er Linguistik studiert, gekellnert, Parties gefeiert und sich für liberale Politik engagiert. Er ist groß, dunkelhaarig und einigermaßen gutaussehend. 23 Jahre alt.
- Brian Ferrington: Chemiestudent aus Passion. Brian hat wirre blonde Haare, grüne Augen und ist ein eher schmächtiges Hemd, aber trotz seiner gelegentlichen sozialen Imkompetenz irgendwie knuffig. 22 Jahre alt.
- Kim Parker: Ursprünglich Grafikdesigner auf dem Weg noch Los Angeles. Kim ist Halb-Amerikaner, Halb-Koreaner und sieht recht asiatisch aus. Er ist noch schmächtiger als Brian, aber sehr, sehr geschickt. Und ein wenig seltsam. 21 Jahre alt.
- Dr. Sylvia Sinclair: Dozentin für Biologie. Der älteste Charakter der Gruppe. Sylvia hat glatte rote Haare, grüne (?) Augen und eine Charakternase. Sieht ein bißchen aus wie Uma Thurman.

Tja, dann kann´s ja losgehen. (Woozle muß die Dinger posten, weil ich hier im Internet-Café schlecht daran arbeiten kann. Danke, Woozle...  :-* :-* :-*)
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
The best lack all conviction, while the worst are full of passionate intensity.

Korrekter Imperativ bei starken Verben: Lies! Nimm! Gib! Tritt! Stirb!

Ein Pao ist eine nachbarschaftsgroße Arztdose, die explodiert, wenn man darauf tanzt. Und: Hast du einen Kraftsnack rückwärts geraucht?

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #1 am: 8.03.2005 | 18:18 »
So, jetzt geht´s los. Ich fang einfach mal mit dem ersten Kapitel an (sind trotzdem zwei Posts geworden... *seufz)

Das hier ist eine Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Ereignissen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Im Klartext: Das hier ist alles nicht passiert. Wenn ihr trotzdem glaubt, daß es passiert sein könnte, und euch vielleicht sogar einbildet, es gäbe “Beweise” dafür, dann begebt euch zum nächsten Psychiater oder Psychologen und laßt euch von ihm was über die Trennung von Fiktion und Realität erzählen.
Keine der hier erwähnten Vorgehensweisen wird zur Nachahmung empfohlen. Nicht jeder, der versucht, sich umzubringen, erhält eine kosmische Vision. Die meisten sterben dabei einfach. ¿Comprendo? ¿Compredes?
Ach, wißt ihr was: Laßt einfach die Finger von diesen Unterlagen. Sind eh privat.


Hier geht´s los. Das kursiv Geschriebene hab ich später eingefügt, als mir klarwurde, daß dieses Mammutwerk eine Einteilung braucht... und hier ist die Überschrift des ersten Kapitels:

Chicago - Final Destination

Hier und heute ist ein genausoguter Zeitpunkt wie jeder andere, um ein Tagebuch anzufangen. Natürlich führe ich auch ein anderes, persönliches Tagebuch (gibt es irgendeinen Dichter, der das nicht tut?), aber ich will Dinge festhalten, die auch andere nachlesen und nachvollziehen können.

Genug mit dem hochgestochenen Gequatsche. Ich mache zu gerne zu viele Worte, statt nach dem richtigen zu suchen. Quantität ist nicht gleich Qualität. Ich fasele schon wieder.

Eigentlich wollte ich nur aufschreiben, was uns passiert ist. Die Namen der ganzen Leute und Orte, damit wir bei Bedarf noch mal genau nachschauen können. Die Visionen und Träume, die Sylvia und Brian haben - wer weiß, wann wir herausfinden, was sie wirklich bedeuten. Die Lieder, die Kim singt.

Ich sollte vorne anfangen, sonst hat das Ganze wenig Sinn.

Der Anfang war völlig harmlos: Ein viereckiger Zettel am Schwarzen Brett der Uni. “Biete Mitfahrgelegenheit nach Daytona Beach vom xx.xx. bis zum xx.xx. Meldet euch bei Sylvia Sinclair unter der Nummer 555-55555.” Ich hatte Streß mit meiner Ex-Freundin und wollte in den Ferien verreisen - Geld war da, Zeit auch, und ich dachte, Daytona Beach wäre eine nette Abwechslung von Chicago. Sonne, Strand, hübsche Mädchen, Zeit, Sachen zu schreiben.
Meine Mitfahrer hab ich eine Woche vor der Reise kennengelernt und war nicht sehr begeistert: Sylvia Sinclair war keine Studentin, wie ich eigentlich angenommen hatte, sondern eine Biologin-Dozentin (Dr. rer. nat.) und schon über 30. Die beiden anderen waren auch nicht besser: Kay Branden, eine Polizistin, ebenfalls um die 30, und Brian Farrington, der aussah, als würde er noch auf die High School gehen, Chemie studierte und von seiner Mutter begleitet bzw. angeschleppt wurde. Er sollte wohl mal unter Leute kommen.
Ich hab mir noch überlegt, die Sache abzublasen, aber andererseits dachte ich damals, daß ich von den anderen ja nicht sehr viel mitbekommen würde. Tja, das kam natürlich anders. Mittlerweile ist Kay in einer Nervenheilanstalt, und Sylvia und Brian sind die beiden Leute, denen ich in dieser Welt am meisten vertraue.

Ich sollte mit dem albernen Foreshadowing aufhören. Das hier soll doch kein Roman werden. Ich schätze, die anderen drei waren von mir auch nicht so sonderlich begeistert.

Ich werde immer nur eine Seite beschreiben und die andere freilassen. Das hier ist eine öffentliche Veranstaltung, und wenn jemand Kommentare hat, soll er sie dahin schreiben.

Jedenfalls brachen wir am xx.xx. auf. Die Ferien hatten gerade angefangen, und es war ein schöner, sonniger Tag. Wir waren nicht die einzigen, die auf den Highway wollten, und auf der Auffahrt mußten wir uns in eine Schlange einreihen.
In diesem Moment hatte Sylvia die Vision, die unser ganzes Leben verändern sollte. (Dramatische Musik bitte!). Leider weiß ich nicht mehr so ganz genau, worum es eigentlich ging... ich glaube, sie hat gesehen, wie wir und ein anderes Auto mit einem Holztransporter zusammenstoßen. In dem anderen Auto saßen eine Mutter und ihr kleiner Sohn, und keiner von uns hätte diesen Unfall überlebt. Als Sylvia die Augen wieder öffnete, sah sie, daß in dem Wagen vor uns tatsächlich eine Frau und ein Junge waren. Also fuhr sie nicht wie ein normaler, gesitteter Mensch los, sondern raste mit überhöhter Geschwindigkeit auf den Highway, überholte den Holztransporter mit einem ziemlich gewagten Manöver und wurde dann von der Highway Police gestoppt.

Brian, Kay und ich waren erst mal erleichtert: Für uns sah es ja so aus, als wäre Sylvia eine gefährliche Irre, die ein bißchen zu viel A-Team oder so angeschaut hatte. Von der Vision sagte sie natürlich erstmal nichts - ich weiß nicht, was sie den Cops erzählt hat. Ich war froh, aus ihrem Auto entkommen zu sein.

Naja, das hieß aber auch, daß der Urlaub erstmal abgeblasen wurde. Aus irgendeinem Grund hat sich dann Brian an mich dran gehängt (oder ich mich an ihn, das weiß ich nicht mehr so genau). Wir sind zusammen zum Lake Michigan gefahren - wenn schon nicht Daytona Beach, dann eben irgendein Strand. Ich glaube, wir wollten besprechen, ob´s noch andere Möglichkeiten gibt, nach Florida zu kommen.

Kay und Sylvia haben sich auch noch unterhalten, und dabei kam irgendwie raus, daß der Kleine, der in dem anderen Auto saß, an diesem Tag von einer fallenden Glasscheibe erschlagen wurde. Die beiden gerieten deshalb irgendwie in Sorge und wollten mit uns sprechen - ich glaube, wir haben telefoniert. Sie sind jedenfalls in Richtung See losgefahren (Kay hatte ihren Partner dabei, einen Mann namens Brown oder Green - es war irgendeine Farbe).

Dort gab es mittlerweile andere Schwierigkeiten: Mein Auto hatte beschlossen, Baden zu gehen. Obwohl ich immer noch ziemlich sicher bin, daß ich die Handbremse angezogen hatte. Es rollte in Richtung See, ich bin natürlich hingerannt, um es aufzuhalten (hatte es grade erst abgezahlt), und Brian kam mir nach. Ich packte nach der Handbremse, zog sie an, und der Wagen stand erst mal wieder. Allerdings verhedderte sich dabei mein Arm irgendwie mit dem Sicherheitsgurt, und plötzlich rollte die Karre wieder los. Ich zerrte an meinem Arm, Brian zerrte an mir, und das Auto geriet immer tiefer und tiefer ins Wasser - und ich mit. Langsam gerieten wir in Panik - ich konnte den Sicherheitsgurt einfach nicht loswerden, dazu hatte er sich zu sehr verknotet.
Mittlerweile trafen Kay und Sylvia am See ein. Als die beiden sahen, daß ich und Brian in Schwierigkeiten steckten, stiegen sie aus dem Auto und liefen auf uns zu. Gemeinsam gelang es uns dann schließlich, meinen blöden Arm zu befreien (natürlich war es der rechte) - genau rechtzeitig, sodaß wir alle noch sehen konnten, wie der Polizeiwagen, mit dem die beiden gekommen waren, in die Luft flog. Mit Kays Partner (Mr. Farbe?) drin, natürlich.

Wir waren alle ziemlich geschockt. Zumal das Auto aufgrund einer völlig unwahrscheinlichen Verkettung von Zufällen in die Luft geflogen war. Genau wie mein Wagen, der sich in den See verabschiedet hatte. Genau wie die Glasplatte, die auf dem Kopf des kleinen Jungen gelandet war. Sylvia stellte die These auf, daß wir eigentlich bei dem Unfall hätten sterben sollen, den sie durch ihre Vision verhindert hatte. Jetzt, so nahm sie an, versuchte das Universum, diesen “Fehler” wieder zu korrigieren - schon kleinere Mißgeschicke könnten zu unserem Tod führen.

Einerseits hielt ich das ja für Schwachsinn - aber andererseits hatte mein Auto grade versucht, mich zu ertränken. Wir beschlossen, erstmal zusammenzubleiben, da wir uns so ja vielleicht gegenseitig beschützen könnten. Irgendjemand schlug dann vor, die Mutter von dem Jungen zu suchen - wenn unsere These stimmen sollte, wäre sie ja auch in Gefahr. Also gingen wir los, natürlich nicht mit dem Auto (viel zu gefährlich!), sondern mit der U-Bahn. Das war allerdings auch nicht so lustig. Ich wollte als Letzter einsteigen, da ist die Tür vor meiner Nase zugegangen und ich stand alleine da.

Ich will ja nur soviel sagen: Mir ist zwar nichts passiert, aber ich habe nie wieder so schiere Panik empfunden wie in der Viertelstunde, in der ich an der Station auf die anderen gewartet habe. Nein, auch während des Kampfes mit dem Axtmörder I nicht. Auch nicht bei der Schießerei.

Hallo? Sollte das hier nicht ein objektiver “Fakten, Fakten, Fakten”-Bericht werden? Ich bin schon wieder beim Foreshadowing... Sorry, Leute. In Zukunft werde ich versuchen, mich zu beherrschen.

Mir ist jedenfalls nichts passiert. Keinem von uns vieren ist etwas passiert. Es gab zwar ein paar komische Unfälle (vor allem mit Brians Handy), aber keiner hat auch nur einen Kratzer abgekriegt.

Die andere Frau hatte nicht so viel Glück. Ich und Sylvia haben sie im Kaufhaus abgepasst (ich weiß nicht mehr, wo Kay und Brian grade waren), als sie es schon geschafft hatte, ihre Haare so in einer Fahrstuhltür einzuklemmen, daß sie sich erhängt hätte, wenn wir nicht dazu gekommen wären. So ist sie dann in das Messer gefallen, mit dem ich versucht habe, sie loszuschneiden.


« Letzte Änderung: 8.03.2005 | 18:20 von Leonie »
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #2 am: 8.03.2005 | 18:18 »
Fortsetzung von Kapitel 1:

Das klingt ganz schön zynisch, was? Zu dem Zeitpunkt war mir nicht sehr nach Galgenhumor. Hat mich ganz schön mitgenommen -war immerhin das erste Mal, daß ich gesehen habe, wie eine Person stirbt. Noch dazu ausgerechnet durch das Messer, mit dem ich sie retten wollte (und ja, es war auch das erste Mal, daß ich versucht habe, einer Person wirklich das Leben zu retten).
Die Polizei hat ziemlich schnell gemerkt, daß das Ganze ein blöder Unfall war. Jedenfalls haben sie mich nicht allzu lange dort behalten. Haben mir nicht mal gesagt, ich soll die Stadt nicht verlassen. Aber ich wette, es gibt eine Akte drüber. (*Freude*)

Danach sind verschiedene Dinge passiert, aber die genaue Reihenfolge krieg ich nicht mehr zusammen (Sylvia? Brian? Mr. Reaper?).

- Wir waren alle vier im Park, da ist ein Typ auf einem Skateboard? Fahrrad? Bike? (Verdammt, warum kann ich mich nicht daran erinnern - sooo lange ist das doch noch nicht her? Naja, ich stand wegen Mrs. Messersturz noch unter Schock... denke ich zumindest) - na, das ist ja ein toller Satz. Völliger Murks. Noch mal von vorn, bitte.

- Wir waren alle vier im Park, als jemand mit einem Fahrzeug auf uns zuraste. Was es auch immer war, es hat uns verfehlt. Das muß ziemlich spät passiert sein, denn ich kann mich nicht erinnern, daß ich mir deswegen größere Sorgen gemacht habe. Nach einer gewissen Oh-mein-Gott-was-geschieht-nur-Panikphase bin ich in eine sowieso-alles-egal-wir-werden-alle-sterben-Resignationsphase hinübergeglitten.
Als das passiert ist, ist Sylvia aufgefallen, daß uns ein Typ sehr intensiv beobachtet hat - ein Typ, den sie kannte. Nach einigem Nachdenken ist ihr dann auch eingefallen, wer das war: Der Knilch heißt Raymond Brown (also muß Kays Partner wohl Mr.Green gewesen sein - irgendjemand hat entweder zu wenig Fantasie oder einen sehr skurrilen Sinn für Humor; ich glaube, die tote Frau aus dem Auto hieß White) und hatte mal Biologie studiert. Sie hat ihn durch eine wichtige Prüfung fallen lassen, weil er nix konnte und sich auch generell nicht für den Stoff interessiert hat. Er war deshalb trotzdem total sauer und hat sie bedroht oder so.

- Weil das alles so seltsam und übernatürlich war, hab ich meinen Großvater angerufen. Der ist wicasa wakan - heiliger Mann -, und lebt ziemlich zurück gezogen auf der Santee Reservation in Nebraska. Er war trotzdem da, als ich telefoniert habe (er ist immer da, wenn ich etwas wirklich wichtiges von ihm will. Ansonsten kann ich es echt vergessen, weil er kein eigenes Telefon hat, aber wenn man ihn braucht, ist er immer in der Nähe von Joeys Haus. Ich hab nie verstanden, wie er das macht). Er war auch nicht besonders erstaunt über meine Geschichte, sondern hat erzählt, daß so etwas schon einmal passiert sei: Irgendwann, vor langer Zeit, gab es einen Häuptling, der auf einer Jagd hätte sterben sollen, dies aber durch eine Vision abwenden konnte. Von diesem Tag an aber folgte ihm der Tod auf Schritt und Tritt. Um Unheil für seine Familie abzuwenden, machte sich der Häuptling allein auf, um sich seinem Schicksal zu stellen. Da begegnete er einem Büffel, der ihn angriff und überrannte. Und trotzdem überlebte der Häuptling (wie, wurde leider nicht überliefert - es war wohl einfach Schicksal), und von diesem Tage an schenkte ihm der Tod nicht mehr Beachtung als allen anderen Menschen.
Der Rat meines Großvaters war folgender: Entweder wir sollten ein neues Leben erschaffen und uns sozusagen “verankern”, oder wir sollten unseren eigenen Büffel finden.
Nach längerer Diskussion zeigte sich zunächst, daß keiner von uns so richtig bereit war, ein Kind zu zeugen oder zu bekommen, und Büffel gibt es in Chicago keine. Brian meinte, man könne ja statt dessen eine Kobra nehmen (die gibt es in Chicago auch nicht, aber ich nehme an, daß Brian das wußte. Er hatte auch keine Idee, wo man eine hernehmen solle - wahrscheinlich wollte er sich nur irgendwie aufmuntern). Mangels gefährlicher Tiere - und weil eigentlich keiner von uns wirklich bereit war, sein Leben bei so etwas aufs Spiel zu setzen - haben wir das zunächst sein gelassen.
Ich glaube, dieses Telefonat und die darauffolgende Diskussion ist als erstes nach dem Tod der Frau passiert.

- Und danach müssen wir uns getrennt haben, um irgendwo ein bißchen zu schlafen. Ich glaube, Kay und Sylvia sind zusammengeblieben, und ich bin mit Brian nach Hause gegangen. Er wohnt bei seinen Eltern im Keller, hat dort sein eigenes kleines Labor, aber keine Küche oder Waschmaschine oder andere solche Anzeichen von Selbständigkeit. Wir haben beschlossen, uns heldenhaft zu betrinken. Klar, das kann auch gefährlich sein, aber wir brauchten dringend irgendein Ventil.
Brian, der Chemie-Champ, warf gleich mal seinen Butangasbrenner an. Gas kam mir verdächtig vor, daher sagte ich ihm, er soll das Ding wieder ausmachen - was natürlich nicht geklappt hat. Ein bißchen panisch warf Brian den Brenner dann in den Swimming Pool, wo er lustig vor sich hin blubberte und Blasen schlug (der Brenner, nicht Brian). Weil das aufsteigende Gas von der Klimaanlage eingesogen wurde, mußten wir auch noch Brians Eltern aufwecken und die Feuerwehr rufen.
Die haben keine unmittelbare Gefahr feststellen können, uns aber geraten, den Swimming Pool bis zum nächsten Wasserwechsel zu meiden. Brians Eltern ließen noch ein paar besorgte Sprüche ab und gingen wieder ins Bett, während Brian und ich unser ursprüngliches Projekt mit ein paar Flaschen Whisky aus ihrer Sammlung weiter verfolgten.
Brian, der liebe Junge, vertrug nicht sonderlich viel, also pennte er irgendwann weg. Ich war noch wach, aber nicht mehr sonderlich klar beisammen, und beschloß, mich jetzt mit dem Büffel anzulegen. Daß der Büffel für “Todesgefahr” stand, war klar, und das nächstbeste, was ich gefunden habe, war der Swimming Pool, der immer noch ein bißchen seltsam blubberte. Sich in betrunkenem Zustand in einen Pool zu werfen, wird im allgemeinen für keine gute Idee gehalten, auch wenn einem der Tod nicht gerade auf den Fersen ist. Ich war also wenig erstaunt, als mir innerhalb kürzester Zeit schwarz vor Augen wurde...

Ja, sehr dramatisch. Am nächsten Morgen war ich vollständig durchnäßt, mir war total übel von dem Poolwasser, das ich geschluckt hatte - und von dem Überfluß an Whisky -, und ich war natürlich noch am Leben. Ich kann allerdings nicht sagen, wie ich aus dem Pool rausgekommen bin. Naja, ich kann aber auch nicht sagen, warum genau ich es für eine gute Idee hielt, mich sturzbetrunken und vollständig bekleidet nachts in einen butanverseuchten Pool zu werfen...

Das hier muß nach dem Telefonat mit meinem Großvater, aber vor der Geschichte im Park passiert sein. Da haben wir sie, die richtige zeitliche Einteilung. Chronologie wird in Erzählungen ja so was von überschätzt... 

- Aber um das Ganze noch ein bißchen zu verwirren, fällt mir noch eine Sache ein, die passiert ist, und von der ich wirklich nicht weiß, wann das war. Kay fand heraus, daß es vor einigen Jahren schon einmal eine Gruppe Leute gegeben hatte, die auf sehr unwahrscheinliche Arten gestorben waren. Es handelte sich um ein paar junge Studenten, die durch irgendeinen Zufall nicht an Bord eines Flugzeugs gegangen und dadurch nicht bei dem Absturz dieses Flugzeugs gestorben waren. Von der Gruppe lebte nur noch eine Frau, die aber seither in einer geschlossenen Anstalt untergebracht war - auf eigenen Wunsch, wie wir im Gespräch mit ihr erfuhren. Nur in einer ausgepolsterten Zelle, ohne Medikamente und ohne scharfe Gegenstände, fühlte sie sich einigermaßen sicher.
Da allerdings keiner von uns große Lust hatte, sich ihr in der Anstalt anzuschließen, sind wir dadurch nicht wirklich weitergekommen. Immerhin kann es sein, daß sie uns erst auf die Idee gebracht hat, daß der Tod uns verfolgt, weil wir ihm von der Schippe gesprungen sind. Ja, das macht irgendwie Sinn - ich kann mir nicht vorstellen, daß einer von uns damals von selbst auf so eine ungewöhnliche Idee gekommen wäre. Vielleicht sollten wir der guten Frau mal eine Postkarte schicken.

Um das jetzt noch mal ein bißchen in Form zu bringen: Wir sind also irgendwie auf diesen komischen Biologie-Studenten gestoßen, der sauer auf Sylvia war. Kay hat ein paar Nachforschungen angestellt und seine Adresse rausgekriegt, also sind wir hingegangen, in der Hoffnung, ein paar Antworten zu bekommen.

Raymond Brown hauste in einer kleinen Wohnung, nicht gerade in einer guten Gegend. Die Tür war abgeschlossen, was aber Kay nicht daran gehindert hat, sie gewaltsam zu öffnen (sprich: einzutreten). Browns Wohnzimmer war vollgestopft mit Videokassetten und DVDs aller möglicher Serien und Filme: Akte X, Firefly, Star Trek, Quantum Leap... Alles Mystery- oder Science-Fiction-Zeug. In der Mitte des Raums stand eine Videoanlage, die plötzlich ansprang, als wir uns noch im Raum umsahen, und anfing, einen Countdown von 10 herunterzuzählen.
Brian, Sylvia und ich sind eher würdelos aus der Wohnung gehechtet und wären fast als menschliches Knäuel die Treppe runtergefallen. Kay ist einfach stehengeblieben, ganz cool, und hat gewartet, bis der Countdown zu Ende war und auf dem Bildschirm das Schild “Ka-Bumm!” auftauchte, begleitet von manischem Gelächter. Da hat sie echt Nerven wie Drahtseile bewiesen.
Jedenfalls hörte man dann diesen Brown aus dem Off, der uns erklärte, es wäre super-lustig, mit uns zu spielen, und er würde uns in Los Angeles erwarten. Mehr haben wir von ihm in der Wohnung nicht gefunden. Wir haben auch darauf verzichtet, uns seine gesamte Video-Sammlung durchzuschauen.

Ich glaube, Brown hat uns auch auf den Film “Final Destination II” hingewiesen, aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht hatte er auch nur ein Poster davon herumliegen. Aber als wir uns den Film angesehen haben (in der Hoffnung auf Hinweise), gab es nicht nur ein paar Parallelen zwischen der Handlung und dem, was uns passiert war - es war eher, als hätte jemand den Film mit uns in den Hauptrollen inszeniert. Das fanden wir dann doch beunruhigend, zumal “Final Destination II” schon mehrere Tage vor unserem Fast-Unfall in den Kinos angelaufen war...
Wir riefen in dem Filmstudio an, wo er gedreht worden war, aber die Leute dort konnten uns nicht viel dazu sagen, auch der Drehbuchautor nicht. Er schien unsere Fragen absurd zu finden. Ich kann mich nicht erinnern, ob er Raymond Brown kannte oder nicht, oder ob wir ihn überhaupt nach dem Typ gefragt haben.
Immerhin haben wir herausgefunden, daß der Regisseur des Films “Joe Black” heißt. Dazu fällt mir leider kein passender Kommentar ein...

Wie auch immer - Brian, Sylvia, Kay und ich beschlossen, uns auf den Weg nach Los Angeles zu machen. Was wir genau tun wollten, wenn wir dort ankommen würden, wußten wir nicht (wissen wir ja immer noch nicht). Aber es erschien uns besser, als ständig in Angst zu leben oder uns in eine geschlossene Anstalt zu begeben. Wegen des Todesfluches, der über unseren Köpfen hing, wollten wir kein Flugzeug nehmen, also quetschten wir uns in Sylvias Auto, kauften Überlebensausrüstung für alle möglichen Lebenslagen (der Typ in dem Laden muß uns für völlig durchgeknallte Survival-Freaks gehalten haben), und brachen auf. 2.000 lustige Meilen lagen vor uns. Im Moment haben wir vielleicht die Hälfte davon geschafft - in nur knapp einem Monat...

Wenn dieses Ding hier (Erzählung kann man das nicht nennen, aber für einen Bericht ist es auch wieder zu persönlich gefärbt, also bleiben wir erstmal bei “Ding” - ach, und für den unbeteiligten Leser: Das ist natürlich alles reine Fiktion. Nie passiert. Kann ja gar nicht. Solche Sachen gibt´s überhaupt nicht. Also nicht zu ernst nehmen, ja?), wenn also dieses Ding hier eine Einteilung in Kapitel hätte, wäre das jetzt das erste gewesen. Damit fing unsere Reise an.
Und ich bitte zu beachten, daß in diesem ersten Kapitel noch gar kein Axtmörder vorkam! Immerhin war es aber meine Idee, eine Axt auf die Reise mitzunehmen - und ich hatte zu diesem Zeitpunkt wirklich nur Sachen wie Feuerholz im Sinn...

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #3 am: 21.03.2005 | 13:45 »
Hier geht also jetzt das zweite Kapitel los. Diesmal kommt auch ein Axtmörder vor.

Highway 70, erster Halt - Der Axtmörder

Wir fuhren also los, immer auf dem Highway 70 lang, in der vagen Hoffnung, irgendwann wohlbehalten in LA anzukommen. Und natürlich wurden wir unterwegs aufgehalten - das muß bei dem ersten Tucson gewesen sein.

Die Stadt war klein, eine typische Ortschaft mitten im Mittleren Westen - Tucson, Nebraska. Es war nicht viel los, also haben wir unsere Vorräte aufgefüllt und sind weiter gefahren.

Ich weiß nicht, ob wir die Leichen vor oder nach der Stadt gefunden haben. Tatsache ist, daß am Rand der Straße ein zerbeulter Wagen stand, und als wir nachgesehen haben, was damit los ist, haben wir eine oder mehrere zerstückelte Personen gefunden. Während wir da noch so rumstanden und versuchten, ein Netz für unsere Handys zu finden, brauste plötzlich ein schmutzig-weißer Jeep an uns vorbei.

Der Sheriff war von der Situation verständlicherweise nicht sehr angetan, machte uns aber zunächst keinen Ärger. Viel mehr konnte er uns über den grausamen Mord auch nicht erzählen. Da wir uns ohnehin nicht noch mehr Probleme aufhalsen wollten als nötig, sind wir erstmal weiter gefahren.

Unterwegs tauchte der weiße Jeep wieder auf und überholte uns. Ein Anruf bei der Polizei brachte - wie üblich - keine Resultate. Schließlich sahen wir den Jeep im Hof eines einsamen, abgelegenen Hauses wieder, wo ihn der Fahrer abgestellt hatte. Wir haben ihn tapfer ignoriert und sind weitergefahren. Dann tauchte die Karre plötzlich hinter uns auf und drängte uns von der Straße ab.

Hier stimmt irgendwas an der Reihenfolge der Ereignisse nicht. Ich habe die vage Erinnerung, daß Kay und ich allein im Wagen saßen und versucht haben, den Typen im Jeep wegzulocken, was uns aber nicht gelungen ist. Es kann sogar sein, daß der weiße Wagen an zwei Orten gleichzeitig gewesen ist - ich weiß es nicht mehr. Das ist alles ziemlich verwaschen.

Meine Erinnerung setzt wieder ein, als ich und Kay bei dem Haus ankamen. Brian und Sylvia müssen sich zu diesem Zeitpunkt schon im Keller versteckt haben. Wir standen beide an dem Jeep, der zu diesem Zeitpunkt leer schien, und plötzlich ging dieser Kerl mit der Axt auf uns los! Ich habe keine Ahnung, wo der plötzlich hergekommen war, aber ich weiß noch, daß ich aus irgendeinem Grund eine Schußwaffe bei mir hatte. Kay hat sich dem Axt-Typen mit einem Messer entgegengestellt und ihn abgelenkt, und da habe ich auf ihn geschossen.

Ich weiß nicht, ob ich ihn getroffen habe oder nicht. Tatsache ist, daß ich aus nächster Nähe geschossen habe, es den Kerl aber kein Stück interessiert hat. Doch, ich muß getroffen haben, ich kann mich erinnern, daß er von der Wucht des Aufschlags ein Stückchen zurückgetaumelt ist. Das war´s aber auch. Er fing nicht an zu bluten oder zu Boden zu gehen, er taumelte nur ein bißchen und kam dann weiter auf uns zu. Das war der Moment, wo ich davongerannt bin. Ein Kerl, der durch Kugeln nicht zu verwunden ist? Das war damals ein bißchen viel für mich (ich glaube, heute wäre es nicht viel mehr als eine hochgezogene Augenbraue wert).

Kay hat dann mit dem Messer nach ihm gestochen, was ein bißchen effektiver war, aber auch nicht ganz den Effekt hatte, den man im Allgemeinen erwartet. Dafür hat er sie ziemlich böse mit seiner Axt erwischt, und da kam sie darauf, daß Weglaufen vielleicht nicht sehr heldenhaft sein mag, aber auf Dauer dem Überleben förderlicher sein könnte.

Ich glaube, von der Reihenfolge her war das tatsächlich so: Wir hielten blödsinnigerweise vor dem einsamen Haus, wo der Jeep geparkt war, um uns dort umzusehen (wenn ich mich erinnere, war das Kays brilliante Idee). Während Brian und Sylvia ins Haus eingedrungen sind, blieben Kay und ich draußen, um aufzupassen. Und da wurden wir von dem Axt-Typen angegriffen. Das erklärt auch, warum ich eine Schußwaffe in der Hand hatte.

Jedenfalls sind Kay und ich nach dem Kampf auf die Idee gekommen, den Typ mit seinem Jeep hinter uns und dem Wagen herzulocken. Leider wollte er uns nicht hinterherfahren, und schon nach ein paar 100 Yards gab dann auch unsere Karre den Geist auf. Weil wir Brian und Sylvia nicht im Stich lassen wollten, sind wir zu Fuß zu dem Haus zurück.

Die beiden hatten sich im Keller umgesehen, aber nichts dramatisches entdeckt. Irgendwann hörten sie den Typen mit der Axt runterkommen und versteckten sich (clevererweise in zwei verschiedenen Räumen). Da es im Keller stockdunkel war, mußten sie sich auf ihr Gehör verlassen, was dann fast dazu führte, daß Sylvia den herumschleichenden Brian niedergeschlagen hätte.

Als Kay und ich zum Haus zurückkamen, fanden wir die beiden wohlbehalten, wenn auch panisch, im Keller vor. Von dem Typ mit der Axt fehlte erstmal jede Spur. Weil Kay blutete wie ein angestochenes Schwein, und der Typ uns allen zu unheimlich war, sind wir zurück in die Stadt gefahren, um einen Arzt aufzusuchen und noch mal mit dem Sheriff zu reden. Unser eigener Wagen war zwar kaputt, aber der Jeep stand noch herum, also haben wir den genommen.

Während Sylvia und ich Kay zu einem Arzt begleitet haben, ist Brian allein zum Sheriff gegangen und hat ihm von den Vorfällen erzählt. Irgendwas an seiner Geschichte hat dem Gesetzeshüter wohl nicht gefallen, also hat er Brian erstmal eingebuchtet. Sylvia und ich haben das erst am nächsten Morgen gemerkt, und als wir den Sheriff gesucht haben, konnten wir ihn nicht finden.

Das wirklich Seltsame an der ganzen Geschichte ist, daß wir ein paar Stunden später einen anderen Sheriff getroffen haben, der gar nicht wußte, was Brian in seinem Knast macht. Wie es scheint, gab es den ersten Sheriff durchaus - aber er hat das Amt vor 10 Jahren innegehabt. Damals gab es auch mehrere grausame Axtmorde, die von dem Einwohner des einsamen Hauses ein paar Meilen vor der Stadt verübt wurden. Offenbar sind wir irgendwie in diese Geschichte hineingeraten...
Der erste Sheriff ist später noch ein paar Mal aufgetaucht: Bei der Geschichte mit Bill Toge, und dann in Craig, wo er sich als Don Spending vorgestellt hat. Dazu später mehr.

Kay war zu schwer verletzt, als daß sie hätte weiter mitfahren können. Außerdem war ihr geistiger Zustand ein bißchen - naja, verwirrt ist da wohl der richtige Ausdruck. Ich glaube, sie wollte eine Therapie mitmachen, um auf Dauer wieder ein normales Leben führen zu können. Ich wünsche ihr viel Glück.

Als wir die Stadt verließen, fuhren wir noch einmal an dem einsamen Haus vorbei. Und es war tatsächlich viel zerfallener, als wir es in Erinnerung hatten - so, als wären die Ereignisse, die wir miterlebt hatten, wirklich vor 10 Jahren passiert...

Das war eine sehr merkwürdige Geschichte. Ich hatte teilweise das Gefühl, als hätte uns jemand in eine mittelprächtige Steven-King-Geschichte hineingeschrieben. Immerhin hat es sich als Antrieb für meine Kreativität erwiesen. Seitdem habe ich mehr und mehr Ideen für Gedichte, Liedtexte und ein paar sehr seltsame Fragmente, die nun wirklich niemanden etwas angehen...


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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #4 am: 24.03.2005 | 20:29 »
Tja, wie nennen wir denn das nächste Kapitel? Ich würde sagen:

Das zweite Tucson, Teil 1 - Bilder einer Kirche

Ich habe vorhin behauptet, das erste Tucson hätte in Nebraska gelegen, aber wenn ich mir das jetzt so überlege, dann bin ich mir nicht mehr so sicher. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mal, ob der Ort wirklich Tucson hieß - ich weiß nur noch, daß wir mindestens zwei Tucsons hatten. Vielleicht war ja auch der Bill-Toge-Ort ein Tucson, aber da bin ich mir nicht sicher. Ist aber auch egal.

Der nächste Ort, an dem wir kamen, hieß auf jeden Fall Tucson. Kurz bevor wir dort ankamen, sahen wir am Straßenrand ein liegen gebliebenes Auto, neben dem ein junger asiatischer Mann mit verärgertem Gesicht stand. Das war Kim Parker, und ich weiß nicht, ob es für ihn gut oder schlecht war, daß wir ihn mitgenommen haben. Jedenfalls gehört er jetzt dazu - vielleicht war es ja Schicksal (das soll jetzt kein Klischee sein. Wenn ich an das Bild in der Kirche denke... und an Zufälle glaube ich eigentlich nicht so richtig. Nicht in dieser Geschichte.).

Wenn ich mich richtig erinnere, ging es unserem Auto aber auch nicht viel besser: Kurz vor Tucson ist es nämlich verreckt. Kann aber auch sein, daß das in einem der anderen Tucsons war. Tut mir leid, daß das alles so chaotisch ist, aber vor meinem Tod in Hillrose kam es mir dauernd so vor, als würden wir durch einen Schleier laufen.

Oh ja, Schleier ist ein gutes Stichwort. Da war noch was. Genau - unser Auto war tatsächlich kaputt. Wir standen nämlich rum und haben auf den Abschleppwagen gewartet, als ich die Geister gesehen habe. Es waren drei Stück: Ein alter Mann, eine alte Frau und ein kleiner Junge. Sie haben nicht viel gemacht, sondern standen nur da und schauten uns zu. Sie sahen nicht aus, als wären sie vor allzu langer Zeit gestorben - sie trugen moderne Kleidung.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich angefangen, die Axt mit mir herumzuschleppen. Warum? Irgendwie fühlte ich mich sicherer damit. Die Welt stand plötzlich total auf dem Kopf, nichts hat mehr gepaßt (ich schon gar nicht), und so eine Axt ist ein gutes, beruhigendes, irdisches Gewicht. Keine Frage, was eine Axt ist. Eine Axt ist eine Axt ist eine Axt.
Jetzt, wo ich das aufschreibe, wird mir erst klar, wie kaputt ich damals war. Es ist nicht wahr, daß man nicht merkt, wie man verrückt wird - ich habe es schon gemerkt. Naja, jetzt bin ich auf der anderen Seite. Entweder ich bin verrückt oder nicht, aber das macht eigentlich überhaupt keinen Unterschied.

Das klingt jetzt nicht sehr beruhigend. Ich schätze, Brian und Sylvia, wenn ihr das lest, fangt ihr wieder an, euch Sorgen zu machen. Ist nicht nötig - ich weiß, was richtig und was falsch ist. Meine Betrachtungsweise in Bezug auf “möglich” und “unmöglich” und “real” und “irreal” und “surreal” hat sich vielleicht geändert, aber eure doch auch, oder?
Ich habe das Gefühl, daß wir alle ein bißchen neben der Welt, die wir bisher kannten, stehen - insofern sind wir alle “ver-rückt”.

Und was hat das jetzt mit meinem Tatsachenbericht zu tun? Nicht sonderlich viel, natürlich, aber wenn ich schreibe, habe ich die Worte nicht immer völlig unter Kontrolle. Manche wollen einfach hinaus und gesagt werden. Lo siento.

Gut, aber jetzt weiter mit der Erzählung. Der Abschleppwagen tauchte auf, die Geister standen rum (außer mir hat sie keiner gesehen, glaube ich), und ich hatte eine Axt in der Hand. Da der Mensch im Abschleppwagen aber keine Anstalten machte, uns anzufallen, und auch die Geister nur beobachteten, gab es keine Zwischenfälle, und wir sind mit dem Typ dann nach Tucson gefahren. Er meinte, es braucht eine Weile, bis er das nötige Ersatzteil auftreibt, und empfahl uns das örtliche Motel. Da haben wir uns dann niedergelassen.

Schon an diesem Abend gab es den ersten Mord. Natürlich. Wir kamen grade vom Essen, als wir einen barbarischen Schrei hörten. In dem Raum neben unseren beiden lag eine Tote - zerhäckselt. Mit einer Axt. In unglaublich kurzer Zeit. Zwischen ihrem (?) Schrei und unserem Eintreffen lagen höchstens 20, 30 Sekunden, aber das hat offenbar gereicht, um sie auseinanderzunehmen wie ein Schlachttier. Es war widerlich. Die Details spare ich mir lieber, sonst wird mir noch schlecht.

Wir waren erstmal ziemlich besorgt, weil ich schon vorher mit dieser blöden Axt herumgelaufen war - jetzt hatten wir plötzlich eine Tote... Die Polizei hat mich dann auch verhört, aber ich konnte mich rausreden. Außerdem war ich, wenn ich das noch richtig weiß, zur Tatzeit ohnehin mit den anderen zusammen.

Jedenfalls haben sie mich erstmal wieder laufengelassen. Wir haben den nächsten Tag dann genutzt, um uns in Tucson umzusehen. Dabei haben wir in der örtlichen Kirche ein Wandbild gefunden, das angeblich antik (oder zumindest mittelalterlich) war. Es handelte sich um irgendeine religiöse Prozession, und vier der Personen, die in mittelalterlichen Kleidern an die Wand gemalt waren, sahen aus wie wir. Zumindestens ungefähr, weil alle eindeutig Weiße waren. Erstaunlicherweise war auch Kim auf Anhieb zu erkennen. Leider haben wir es nie geschafft, das Ding zu fotografieren oder abzuzeichnen.

Um mehr darüber herauszufinden, sind Sylvia und ich zum Priester des Ortes gegangen, während Kim und Brian noch in der Kirche geblieben sind.
Beim Priester tauchte dann der Geist des alten Mannes wieder auf. Ich weiß nicht genau, was er gemacht hat, aber Sylvia hat ihn diesmal auch gesehen. Wir haben ihn nach draußen verfolgt, und der Pfarrer war von unserem Verhalten einigermaßen befremdet. Aus irgendeinem Grund mußte er dann aber schnell weg, und Sylvia und ich sind zurückgeblieben.
Plötzlich hörten wir oben einen Schrei. Als wir hochstürmten, sahen wir dort eine schwerverletzte Frau liegen. Wir konnten ihr nicht mehr helfen, und sie ist innerhalb von ein paar Minuten gestorben. Sie hatte ähnliche Wunden wie die Tote aus dem Motel (Axtwunden eben. Wenigstens hatte ich diesmal die Axt in unserem Zimmer gelassen).
Auch der Geist war da. Er hat allerdings weder etwas gesagt noch wirklich getan, nur geschaut (bedauernd, aber nicht wirklich entsetzt, wenn ich mich richtig erinnere).

Für Sylvia und mich war das das Ende des ersten Kapitels. Die Polizei kam und nahm uns erst einmal mit. Wir standen beide unter Schock - die Frau war blutig vor unseren Augen verendet. Hatte nur noch genug Kraft, um “Hilfe” zu murmeln... Wir waren beide mit den Nerven völlig am Ende. Die Polizisten haben uns dann erstmal unter psychiatrische Aufsicht gestellt, und man hat uns mit Pillen zugedröhnt.
Ich weiß nicht mehr warum, aber aus irgendeinem Grund hatte ich zu diesem Zeitpunkt ein unglaublich starkes Bedürfnis nach einem Zimmer mit grünen Wänden. Ich dachte, das würde helfen. Komisch eigentlich: Ich habe noch nie in einem Zimmer mit grünen Wänden gelebt.

Brian und Kim hatten in der Zwischenzeit noch ein bißchen Spaß: Sie haben nämlich den Axtmörder gefunden. Wie? Keine Ahnung. Vielleicht haben sie es erzählt, aber wenn, dann habe ich es vergessen. Jedenfalls waren sie in irgendeinem Auto unterwegs - ich weiß auch nicht, woher das kam.
Der Axtmörder hatte sich bei einem alten Bergwerk in einer leerstehenden Hütte versteckt. Als Brian reinging, um nachzusehen, was dort los ist, wurde er angegriffen und schwer verletzt (ich glaube, er hat mal wieder eine Vision gehabt, die ihn dahin geführt hat. Das passiert ihm in letzter Zeit dauernd. Irgendwie merkwürdig, daß ihm das so normal erscheint...). Kim kam ihm zu Hilfe, und gemeinsam konnten die beiden aus der Hütte in das Auto entkommen. Dabei wurde Kim allerdings auch verletzt. Aber er konnte noch fahren.
Der Axtmörder wollte sie nicht entkommen lassen und ist aus der Hütte, wo er dann von Kim überfahren wurde (zweimal, das Auto mußte gewendet werden. Außerdem nehme ich stark an, daß Kim sichergehen wollte, daß der Freak tot ist). Das war möglicherweise sein Ende. Vielleicht aber auch nicht.

Kim und Brian sind dann in die Stadt gefahren und mit letzter Kraft im Krankenhaus angelangt, wo man sich ihrer angenommen hat. Allerdings nicht ganz so, wie man das gemeinhin annehmen sollte...
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #5 am: 4.04.2005 | 15:26 »
Was uns zum zweiten Teil der Geschichte führt:

Das zweite Tucson, Teil 2 - Bill Toge

Mir fällt jetzt auch wieder ein, warum mein Gedächtnis an diese Zeit so schwammig ist - es liegt daran, daß ich meistens ziemlich besoffen war. Irgendwie war ich auf den Gedanken gekommen, daß sich alles leichter ertragen läßt, wenn man es durch einen alkoholischen Nebel betrachtet. Lustig, wie man zu solchen Trugschlüssen kommt, nicht wahr? Letzten Endes hat das Saufen zu meinem Tod geführt, also hütet euch davor, Jungs und Mädels.

Aber das hat mit der Geschichte nur am Rande zu tun. Am Ende des letzten Kapitels befanden sich Sylvia und ich im Krankenhaus, weil wir beide einen Nervenzusammenbruch hatten, und Brian und Kim waren auch dort, allerdings mit Axtwunden.
Aufgewacht sind wir alle wieder in einem grünen, gepolsterten Raum - einer typischen Gummizelle, mit freundlichen, ebenfalls gepolsterten Bändern an niedrige Liegen gebunden. Wir mußten nicht allzu lange herumrätseln, was eigentlich los war. Kurz nach unserem Aufwachen tauchte ein netter Arzt auf und teilte uns mit, daß wir uns in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt aufhalten würden. Er wäre aber zuversichtlich, daß wir mit der richtigen Therapie schon bald wieder entlassen werden könnten. Auf unsere Proteste hat er nicht reagiert - nicht einmal auf die Frage, seit wann man körperlich Verletzte in der Psychiatrie behandeln würde. Danach ließ er uns erstmal wieder allein.
Schließlich tauchten ein paar Pfleger auf und banden uns los. Sie warnten uns, keinen “Ärger” zu machen, und ließen uns aus der Zelle raus. Im Anschluß an einen kurzen Gang folgte ein großer Raum, in dem sich mehrere Personen aufhielten, alle offenbar auf die eine oder andere Art und Weise geistig gestört.
Ich fing trotz der Warnung an, Ärger zu machen. Ich war verwirrt, verängstigt und ich wollte einen Drink. Die Wächter fanden mich nicht sonderlich witzig, also haben sie mich genommen und zurück in die Zelle geschleift. Dort hielt mich der eine fest, und der andere wollte mir eine fies aussehende Spritze verpassen. Das hat mir Angst gemacht: Daß diese Wächter soviel Macht über mich hatten. Daß sie mir so etwas einfach antun konnten. Daß ich überhaupt nichts daran ändern konnte.
Also hab ich klein beigegeben. Sie angefleht, mich in Ruhe zu lassen, und ihnen versprochen, keinen Ärger mehr zu machen. Sie haben mich laufen gelassen, mit dem ganz blöden Gefühl, ein Feigling zu sein.

Tja, das ist schon ganz schön persönlich, was? So viel zu dem “unvereingenommenen, objektiven Bericht”. Aber ich bin auch Dichter und kein Sekretär oder Buchhalter. Wir werden alle damit leben müssen. Ich streiche nichts durch (außer offensichtlich grammatikalisch falschen spanischen Einwürfen, natürlich).

Die haben uns danach einzeln zu irgendwelchen Gesprächen geholt. Brian kam in ein Zimmer zu dem Arzt, der uns schon begrüßt hatte. Der schaute ihn schweigend an, Brian schaute zurück. Er wollte erst einmal warten, was der Typ von ihm wollte. Nach etwa fünf Minuten ließ der Arzt Brian wieder aus dem Raum bringen, mit der Bemerkung, daß der Patient nicht bei der Therapie mitarbeiten würde und verstockt sei.
Kim kam in einen Raum, in dem sich nur ein einzelner, riesiger Fernseher befand. Er mußte sich “Dumbo” anschauen, was aber bei ihm kein tiefes Trauma hinterließ.
Sylvia hatte ein sehr fruchtbares, ergiebiges Gespräch mit einer jungen Psychiaterin, mit der sie erstmal eine vertrauensvolle Basis aufbaute.
Mich hat der Arzt, der uns begrüßt hat, durch eine Tür geführt - und dahinter war die Kirche von Tucson. Oder ein genauer Nachbau. Dann hat er mich irgendwas gefragt, was wir wollen, oder was los ist - nichts, worauf ich eine Antwort gewußt hätte. Im Nachhinein erscheint es mir, als hätte er geglaubt, daß wir viel mehr Kontrolle über unser eigenes Schicksal hätten, als wir tatsächlich haben, oder als hätte er etwas über uns gewußt oder in uns gesehen, von dem wir selber keine Ahnung haben.
Nachdem ihm meine Antworten nicht gefallen haben - stimmt, er hat mich gefragt, warum diese vier Personen auf dem Fresko in der Kirche aussehen wie wir, und alles, was ich ihm sagen konnte, war, daß ich auch absolut keinen Schimmer habe -, hat er mich in dem Raum allein gelassen. Wenn man meinen geistigen Zustand berücksichtigt, war das nicht besonders nett. Ich war vollkommen verwirrt (wie kam diese komische Replik von der Kirche, in Originalgröße, in eine psychiatrische Anstalt?), und er hatte dafür gesorgt, daß ich noch verunsicherter war als vorher. Außerdem herrschte in dieser Kirche eine derartig beklemmende, betäubende Stille, daß ich mich am liebsten in einer Ecke zusammengerollt und leise vor mich hin gewimmert hätte. Kann auch sein, daß ich es gemacht habe. Weiß ich nicht mehr.

Vor der Behandlung haben wir uns noch in dem großen Raum umgesehen. Es gab mehrere Ausgänge, darunter auch einen, der in einen schönen, großen Garten mit lauter Pflanzen führte. Einer der Patienten kam auf uns zu und fragte uns, ob er uns verraten soll, wie man nach draußen kommt? Wir haben natürlich bejaht, und er erklärte uns, wir müßten nur durch die Tür gehen. Wir waren etwas enttäuscht (wir nahmen natürlich an, daß die Tür verschlossen sei). Fünf Minuten später kam der Mann wieder und bot uns erneut an, uns zu erzählen, wie man in den Garten kommt. Und zehn Minuten später noch mal...
Einer der anderen Patienten kam uns bekannt vor. Das lag daran, daß wir sein Gesicht schon einmal auf dem Fresko in der Kirche gesehen hatten. Er erzählte uns, daß er ein Vertreter sei, und nach einem Autounfall hier gelandet wäre. Offensichtlich gehörte er genausowenig in die Klinik wie wir (na gut, wie die anderen drei. Ich hätte damals vermutlich wirklich in Behandlung gehört). An seinen Namen kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Auch der Vertreter und der Autounfall sind mehr Vermutungen meinerseits. Aber jedenfalls war er nicht freiwillig hier, und er machte auch keinen wirklich gestörten Eindruck.

Nach der “Therapie” gab es Abendessen. Dazu wurden zwei lustige Pillen gereicht, die wir vier erstmal natürlich nicht nehmen wollten. Die Pfleger haben mich dann “überzeugt”, daß ich sie lieber freiwillig nehmen wollte. Aber auch alle Tricks, die die anderen angewendet haben, um die Pillen nicht zu schlucken, haben nicht viel gebracht - nach dem Abendessen gingen bei uns allen die Lichter aus.

Am nächsten Morgen wachten wir wieder in der grünen Zelle auf. Wir durften aber gleich raus, in den großen Raum. Dort hat dann Kim (oder Brian, einer von beiden) herausgefunden, daß die Tür in den Garten gar nicht abgeschlossen war, und der Patient tatsächlich recht hatte: Um in den Garten zu kommen, mußte man nur durch die Tür gehen. Das haben wir dann auch gemacht, aber leider haben wir auch da keine Möglichkeit gefunden, aus der Anstalt zu entkommen. Während ich mit Sylvia und Kim im Garten war, ist Brian drin geblieben und hat von einigen anderen Patienten gelernt, ritualisiertes Poker zu spielen.

Später wurden wir wieder zur “Therapie” geholt. Diesmal war die Verteilung anders: Sylvia mußte Dumbo gucken, Kim wurde angeschwiegen, Brian kam in die Kirche (die ihm nicht so furchterregend schien wie mir) und ich durfte mich mit der Psychiaterin unterhalten. Das war aber in diesem Fall kein sinnvolles Gespräch: Erst hat sie mir einen Drink angeboten (den ich dankbar angenommen habe), und dann hat sie sich die Kontrolle über das Gespräch von mir aus der Hand nehmen lassen. Ich nehme an, daß das weniger mit meiner cleveren Gesprächsführung zu tun hatte, sondern daß das Ganze eine Art Test war. Wofür, kann ich aber auch nicht sagen.
Nach der Therapie kam wieder das Abendessen und die Pillen, denen wir auch diesmal nicht entgehen konnten (ich hab es auch gar nicht versucht, aber die anderen waren hartnäckiger als ich).

Am nächsten Tag kam dann Kim auf die entscheidende Idee (oder war das Brian? Ich weiß nicht, warum ich die teilweise nicht auseinanderhalten kann... Sylvia passiert das immer mit Brians und meinem Namen, obwohl beide nicht sonderlich ähnlich klingen. Es wäre interessant, zu untersuchen, warum Leute Namen verwechseln. Liegt es am Anfangsbuchstaben? An der Länge, oder an der Silbenzahl? Oder kombinieren sich die Ursachen? Entschuldigung, ich komme vom Thema ab. Aus, böser Linguist!).
Er fragte nämlich den Mann, der uns den Tip mit dem Garten gegeben hatte, ob er uns nicht den Weg aus der Klinik zeigen könnte. Das tat der dann auch, und siehe da - die Tür war nicht verschlossen. Keiner der Pfleger hat uns bemerkt, und niemand hat uns aufgehalten, als wir die geschlossene Psychiatrie und dann die Klinik verließen (den Typen, der auch auf dem Bild war, haben wir leider vergessen. Als uns das später auffiel, hatte keiner mehr Lust, wieder zurückzugehen und ihn auch noch zu holen. Ob das eine reale Person war? Und ob er in dem Krankenhaus verbrannt ist? Die letzten beiden Fragen machen chronologisch keinen Sinn, aber ich fürchte, später habe ich sie wieder vergessen...).
Nachdem wir auf freiem Fuß waren, haben wir Sylvias Auto und unsere Sachen beim Motel abgeholt. Ja, wir haben uns gewundert, daß alles noch da war, aber in diesem Moment wollten wir nicht zu viele Fragen stellen. Wir wollten nur noch weg aus Tucson / Nebraska (oder Kansas. Vielleicht auch schon Colorado).

Kim beschloß, bei uns zu bleiben. Er wollte auch nach L.A. - er hatte eine Stelle als Graphiker irgendwo da in Aussicht, und er wollte uns zumindest bis zum nächsten Flughafen begleiten.
Also fuhren wir weiter. Und dann wurde es wirklich wirr.

Als wir uns dem nächsten Ort näherten (der wieder mal Tucson hieß - wie auch sonst?), kamen wir an eine große Kreuzung. Dort waren drei Wagen, die aus den drei anderen Richtungen gekommen waren, ineinander gefahren und brannten jetzt fröhlich vor sich hin.
Sylvia und Brian wollten sofort die Insassen retten. Ich war der Ansicht, die könnten gefährlich sein, und nahm meine Axt mit - ich habe zwar gesagt, daß ich das Ding nur dabei hatte, um Fenster einzuschlagen, aber ich glaube, das hat niemanden getäuscht. Fakt ist, daß ich mich zu diesem Zeitpunkt ohne das Ding und einen ordentlichen Drink nicht wohl gefühlt habe. Krücken der Realität.

Mit Hilfe der Axt haben wir es dann geschafft, die drei Typen aus den Autos zu holen. Mittlerweile war auch ein Sheriff aufgetaucht (Mr. Don Spending mal wieder. Brian hat ihn da nicht erkannt, warum auch immer...), der uns geholfen hat. Seltsamerweise sahen alle drei Typen exakt gleich aus. Andere Kleidung, aber genau das gleiche Gesicht. Als der Sheriff das sah, meinte er: “Schon wieder Bill Toge.”
Dann explodierten die brennenden Autos.

Wir befanden uns plötzlich in einem Einkaufszentrum (meine Axt hatte ich noch, glaube ich. Ja, muß so sein. Später hatte ich ja definitiv auch...), mitten in einem Überfall. Die Räuber forderten uns auf, uns hinzulegen, was wir nach kurzer Überlegung auch taten - sie waren schließlich bewaffnet.
Ich bin mir nicht sicher, ob nicht der eine oder andere Schuß gefallen ist, aber nicht auf einen von uns. Wir sind völlig ungeschoren davongekommen, und die Räuber sind abgehauen.
Danach waren wir ein bißchen ratlos - wir wußten nicht so ganz, wie wir in das Einkaufszentrum geraten waren, und was jetzt eigentlich real war und was nicht. Brian und ich haben beschlossen, unsere Familien anzurufen. Ich war so sehr neben mir, daß ich komische Andeutungen gemacht habe, daß ich “noch” am Leben sei, und ich habe durchklingen lassen, daß ich sehr deprimiert und verwirrt war. Ina (meine Mutter) hat glücklicherweise nicht richtig zugehört - mein Cousin Jason war gerade verhaftet worden, und das hat sie wohl stark beschäftigt.

Nach dem Telefongespräch befanden wir uns plötzlich wieder an der Kreuzung, die Autos brannten, waren aber noch nicht explodiert. Jetzt konnten wir anhand der Kleidung erkennen, daß einer der Toten an dem Raubüberfall beteiligt war. Bevor wir unserer Verwirrung größer Ausdruck geben oder den Sheriff näher unter die Lupe nehmen konnten, verschwanden wir aber wieder.

Diesmal landeten wir in einem Flur, direkt vor einer Tür - sah aus wie eine Wohnungs- oder Hotelraumtür. Keine sonderlich gute Gegend. Ich weiß nicht mehr, ob die Tür offen stand, oder ob einer von uns neugierig genug war, um sie aufzumachen.
Dahinter befanden sich zwei Leute: Einer von ihnen war an einen Stuhl gefesselt, der andere war unser guter alter Freund vom Autounfall, Bill Toge. Bill war wohl gerade dabei, den anderen zu befragen. Dieser andere Typ machte einen verängstigten Eindruck, und er hatte keinen Mund. Da war einfach nur glatte Haut, die sich da, wo die Öffnung hingehört hätte, kräuselte und bewegte. Der Mann gab leise, erstickte Laute von sich - ein scheußliches, groteskes Geräusch.
Geschockt stolperten wir in den Raum und wollten wissen, was hier los ist. Bill hat uns vielleicht eine Erklärung gegeben, vielleicht auch nicht. Ich hab ihn aufgefordert, den Typ in Ruhe zu lassen - ich hatte die Axt, ich kam mir einigermaßen stark vor. Sylvia, oder einer der anderen, hat sich um den Gefesselten gekümmert, während ich Bill bedroht habe.
Dann hat er ein Messer gezogen - sah scharf aus, das Ding, aber er ist damit nicht auf mich losgegangen. Meine Axt war sowieso größer. Nein, er hat sich die Klinge langsam über seinen eigenen Arm gezogen. Als der erste glitzernde Blutstropfen aus der langen, roten Linie rann, grinste er mich an, und mein rechter Arm brach. Einfach durch. Elle und Speiche, ein glatter Bruch.
Ich hab erstmal keinen Schmerz gespürt, aber ich konnte die Axt nicht mehr festhalten. Meine Finger hatten plötzlich keine Kraft mehr, und mein Arm fühlte sich seltsam an - falsch und taub. Als hätte ihn mir jemand weggenommen und gegen einen Ersatz aus billigem Plastik ausgetauscht.
Ich betrachtete den Arm eine Weile. Verständnislos. Sah aus, als hätte ich ein neues Gelenk, dessen Gebrauch ich noch nicht so ganz gelernt hatte. Im Hintergrund hörte ich Lärm, der an mir vorbeirauschte. Ein Handgemenge. Hastige Fußschritte.
Ich sah auf. Der Typ ohne Mund hatte sich befreit, oder Sylvia und die anderen hatten ihn losgemacht. Sie, Brian und Kim kämpften mit Bill und hatten ihn zu Boden gerungen. Er lachte. Schob sich einen Finger ins Auge. Ekliges Geräusch, und dann rann ihm weißliche Flüssigkeit übers Gesicht. Der andere Typ war an der Tür. Dann platzte ihm der Kopf. Wie eine Melone. Einfach so.
Ich hob die Axt auf, mit der linken Hand. Es war klar - dieser Bill Toge war kein Mensch. Irgendwas anderes, irgendwas schreckliches. Er sah nicht einmal aus wie ein Mensch, mit dem weiß und rot blutenden Auge. Das andere Auge lachend, wahnsinnig. Noch schlimmer als das kaputte. Wie ein besonders ekliges Insekt.
Ich hab draufgeschlagen. Ich wollte sein waches Auge wegmachen. Es auslöschen. Zufall, daß ich die Axt mit der scharfen Seite benutzt habe. Hätte genauso gut die andere sein können. Hab ich mir zumindest hinterher versucht, einzureden.


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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #6 am: 4.04.2005 | 15:27 »
Fortsetzung des letzten Kapitels...

Dann waren wir wieder an der Kreuzung mit dem Unfall. Diesmal waren nur zwei Autos ineinandergekracht, und es lagen auch nur zwei tote Bill Toges in der Gegend herum. Mein Arm war immer noch gebrochen.
Mir wurde klar, was ich getan hatte. Daß das kein Insekt gewesen war, das ich totgeschlagen hatte (und ich halte prinzipiell nicht mal viel davon, Insekten totzuschlagen. Ökologische Nischen und so). Ich ließ die Axt erstmal fallen und war nicht mehr so richtig ansprechbar. Von den weiteren Ereignissen habe ich nicht mehr so viel mitgekriegt - es war, als hätte mir jemand Watte in die leeren Plätze in meinem Kopf gestopft. Nur der Schmerz in meinem Arm war so richtig real.

Wir sind nochmal gesprungen - diesmal in einen Trailer Park. Wir standen im Schatten eines Wohnwagens und konnten sehen, daß am “Eingang” des Parks die Leiche einer Schwarzen lag. Im Wald, der die Trailer umgab, konnten wir Scheinwerfer leuchten sehen.
In dem Trailer Park hatte sich ein Kult versammelt, der wohl gerade von Polizei und (wahrscheinlich) FBI belagert wurde (als könnten die sich zurückhalten, wenn es darum geht, irgendwelche Leute zu belagern).
Wir fanden heraus, daß der Führer des Kults Bill Toge war. Der war aus irgendeinem Grund völlig begeistert von Brian, den er für eine Art “Gesandten” oder so hielt. Er brabbelte auf uns ein und nahm uns mit in seinen Wohnwagen.
Bevor er uns seine Philosophie erklären oder mit seinem Tee vergiften konnte, hab ich ihn niedergeschlagen. Mit einem Aschenbecher, wenn ich mich richtig erinnere. Warum? Keine Ahnung. Er hatte denselben Blick wie der andere Bill - irre, durchgedreht. Nicht so ganz menschlich. Gut, daß keine echte Waffe in der Nähe war.
Bill war nur ohnmächtig. Wir wollten fliehen, und ich glaube, wir haben dafür seinen Trailer benutzt (war ein Caravan). Sylvia ist gefahren, auf die FBI-Lichter zu. Irgendwer hat auf uns geschossen, aber ob es die Kultisten oder die Polizei war, weiß ich nicht. Getroffen haben sie nicht.

Irgendwann waren wir wieder an der Kreuzung. Diesmal gab es keinen Unfall und keine Leichen, nur ein einzelnes Auto, das mit hoher Geschwindigkeit an uns vorbeifuhr. Wahrscheinlich Bill, der Bankräuber.
Wir sind weitergefahren, auf die Stadt zu. Dort haben die anderen mich erst mal zu einem Arzt gebracht, der meinen Arm gerichtet und geschient hat.

Ich bin mir nicht sicher, ob wir gleich weitergefahren sind, oder ob wir erstmal in der Stadt geblieben sind. Mir ging es nicht besonders toll. Ich kam nicht so gut damit klar, daß ich diesen Typ umgebracht hatte. Brians “aufmunternde” Worte haben auch nicht geholfen. Er mußte es wohl ins Lächerliche ziehen, um damit fertig zu werden. Mir war nicht nach Lachen zumute. (Und wenn ihr einen Beweis dafür wollt, daß ich nicht wirklich ein gewalttätiger Mensch bin, dann kann ich jetzt anführen, daß ich - trotz aller Provokation - Brian nie eine reingehauen habe. Kann er von sich nicht behaupten.)

Was die anderen gemacht haben, weiß ich nicht. Ich bin erstmal losgelaufen. Irgendwohin. Schade, daß man seinen Gedanken nicht davonlaufen kann. Auch schade, daß mein Orientierungssinn nicht so der Hit ist, und ich mich erstmal verlaufen habe. Ich hatte es aber sowieso nicht so eilig damit, die anderen wiederzutreffen.
Irgendwann hab ich dann die Lichter der Stadt gesehen und bin drauf zugelaufen. Unterwegs mußte ich über eine Grasebene, auf der ein einzelner Baum wuchs. Ich lief so vor mich hin, ein bißchen high von den Schmerzmitteln, die der Arzt mir gegeben hatte, als ich auf einmal den Büffel sah. Ein erwachsenes Männchen (auf der Rez-Ranch züchten sie Büffel, ich kann die Dinger unterscheiden), und schlecht gelaunt. Sah mich, und rannte auf mich zu.
Ich dachte an die Geschichte von meinem Großvater, über den Häuptling und seinen Büffel, und blieb stehen, um dem Vieh entgegenzusehen.
Das wurde natürlich nicht langsamer, und im letzten Augenblick bin ich zur Seite gesprungen. Da sah ich dann auch, daß es sich tatsächlich um ein Auto handelte. Es brauste an mir vorbei und krachte mit voller Wucht gegen den Baum. Der Insasse des Autos war sofort tot. Es war Bill Toge.

Kurz nach dem Unfall tauchten Sylvia, Brian und Kim auf. Sie hatten wohl nach mir gesucht und das brennende Auto gefunden. Brian machte ein paar blöde Bemerkungen, ob ich diesen Bill auch umgebracht hätte, und versuchte ihn dann aus dem Auto zu ziehen.
Ich weiß nicht, ob es ihm gelang oder nicht, aber es war auch unwichtig. Jetzt kam nämlich der surreale Teil.

In der Nähe der Grasebene war ein kleiner Wald, über dem plötzlich ein helles, grell-weißes Licht aufging. Sylvia und Kim gingen sofort los, um herauszufinden, was da los ist. Brian folgte ihnen, weil er sich Sorgen machte. Ich ging auch hinterher, aber sehr langsam. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß das Leuchten etwas gutes bedeutete.

Sylvia und Kim verschwanden in dem Wäldchen. In dem Moment griff irgendetwas nach mir und zog mich nach vorne, auf das Leuchten zu. Brian ging es genauso, er war noch näher dran. Wir kämpften vergeblich gegen den Zwang an, und wurden schließlich ins Licht gezogen.

Und wachten auf. Im Krankenhaus im zweiten Tucson. In weißen, gepflegten Betten. Alles in Ordnung.
Was für eine Soap-Opera-Erklärung. Alles nur ein Traum, Bobby ist nicht tot, er steht nur unter der Dusche. Klar.
Ganz so einfach war es aber nicht. Mein rechter Arm war immer noch gebrochen.
Ein bedrückter Arzt tauchte auf und gab uns ein paar Erklärungen. Wir waren tatsächlich in der psychiatrischen Abteilung der Klinik gelandet. Dort hat uns der Chefarzt unter Drogen gesetzt und irgendwelche Experimente mit uns veranstaltet - einen Monat lang. Schließlich brannte die Klinik durch ungeklärte Ursachen ab, der Chefarzt war tot, erschlagen. Sein Name? Bill Toge.

Vielleicht war alles eine Halluzination. Vielleicht habe ich Bill Toge nicht mit der Axt erschlagen. Aber es fühlte sich so verdammt real an - es machte keinen echten Unterschied. In einer “realen” Situation hätte ich das gleiche getan. Und mein Arm war gebrochen. Das war keine Halluzination. So einfach kann ich mich da nicht rausreden. “Hach, ich habe ja nur geträumt, daß ich ihn ermordet habe.” Nein. Funktioniert nicht.

Dem Arzt in der Klinik war die Situation jedenfalls sehr peinlich. Er hatte wohl Angst, daß wir losgehen und das Krankenhaus wegen Freiheitsberaubung verklagen. Er war erleichtert, als wir nur Atteste wollten, daß wir einen Monat in dem Krankenhaus verbringen mußten (wegen eines Autounfalls, war die offizielle Erklärung). Dann hatten wir eine Telefonrunde: Sylvia hat die Uni angerufen, weil sie zu Semesterbeginn nicht da war, und es mit Hilfe ihres Attests geschafft, ein Urlaubssemester zu bekommen. Ich konnte meinen Eltern einigermaßen verklickern, was passiert war. Allerdings konnte ich nicht sicher herausfinden, ob sie meinen Anruf aus dem Einkaufszentrum bekommen hatten - die Möglichkeit besteht. Mein Cousin Jason ist jedenfalls tatsächlich verhaftet worden.
Brian hatte mit seinen Eltern nicht so viel Glück. Die waren total von der Rolle, haben sich riesig Sorgen gemacht. Mr. Farrington hat Brian gesagt, er soll bloß bleiben, wo er ist - seine Eltern kommen vorbei, um ihn abzuholen.
Wenn wir je einen Grund gebraucht haben, um sofort weiterzufahren, hatten wir ihn jetzt. Wir sind noch einmal in die Kirche, um nach dem Wandgemälde zu schauen (es war noch da, und unsere Gesichter waren auch noch drauf). Dann haben wir unser Zeug geholt und Tucson verlassen. Nach dem toten Axtmörder haben wir nicht mehr gefragt.

Ich glaube, das war alles. Der nächste Ort, den wir anfuhren, hieß nicht mehr Tucson. Leider hieß das nicht, daß er vollkommen harmlos war... kommen wir zum nächsten Kapitel.
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #7 am: 11.04.2005 | 16:32 »
Hillrose - Lost in the Music

Nachdem wir Tucson verlassen hatten, überquerten wir die Grenze zu Colorado. Und prompt gab unser Auto mal wieder seinen Geist auf. Das war kurz vor dem malerischen Städtchen Hillrose - der Stadt mit der magnetischen Anomalie.

Sylvia rief den AAA an, damit die den Wagen abschleppen. Und wieder trafen wir in einer Stadt mit einem Abschleppwagen ein. Die Geschichte mit der magnetischen Anomalie stand groß und breit auf einer Tafel vor den ersten Häusern von Hillrose. Der Abschleppmann erzählte uns, daß es in den Hügeln ein seltsames Phänomen geben würde: Durch starken Magnetismus würde man beim Besteigen eines Hügels nach oben gezogen. Auch der Bach dort fließt bergauf. Es gäbe auch noch andere, optische Verzerrungen. Die anderen fanden das faszinierend - mich hat mehr interessiert, ob es in dem Ort eine Kneipe gibt, in der man sich betrinken kann.

Wir mieteten uns erstmal im örtlichen Motel ein. Der Motelbesitzer war ein unfreundlicher Typ, den wir später mit einer Axt rumschleichen sahen (natürlich). Ich glaube, er wollte nur ein kaputtes Rohr reparieren, aber in unserer geistigen Verfassung hatten wir natürlich Angst vor ihm. Wir sind dann Essen gegangen (spannend: Hamburger) und haben uns ein bißchen mit der Frau unterhalten, die dort arbeitet. Danach wollten die anderen gehen und sich die Anomalie ansehen. Ich ging nicht mit. Ich hatte andere Pläne.

Während des Essens sind ein paar Sachen gesagt worden, die mich auf die eine oder andere Weise getroffen haben. Brian hat der Bedienung erzählt, wie “bestialisch” der Chefarzt der Psychiatrie in Tucson ermordet wurde (ohne meine Beteiligung zu erwähnen, aber ich wußte, wen er meinte). Und die Frau meinte - in einem ganz anderen Zusammenhang - “Wenn es dir irgendwo nicht mehr gefällt, dann mußt du weiterziehen.”

Mir gefiel diese Welt nicht mehr. Ich konnte nicht mit dem leben, was ich getan hatte, und ich kam nicht mit den Dingen klar, die wir erfahren hatten. Das Übernatürliche, das Unnatürliche jagte mir derartig Angst ein - das hatte nichts mehr mit rationaler Furcht vor einer Bedrohung zu tun. Die Welt, in der ich mich fand, war ein fremder Ort für mich, ein dunkler, bedrohlicher Ort. Nichts hatte mich je darauf vorbereitet, damit klar zu kommen. Ich habe nie an das Übersinnliche geglaubt. Horoskope? Aberglaube. Kristalle? Pendel? New-Age-Humbug. Visionen? Wahrträume? Schwachsinn. Und das, obwohl mein Großvater ein paar sehr seltsame Dinge tun kann. Aber das konnte ich ja ignorieren. Jetzt konnte ich nichts mehr ignorieren.

Ich bin allein ins Motel gegangen. Eigentlich wollte ich mir die Pulsadern aufschneiden, aber dazu war ich dann doch zu feige. Also hab ich Schlaftabletten genommen, die ganze Dose, und mit einer Flasche Whisky runtergespült. Dann hab ich Hollow Men von Eliot gelesen und Zitate daraus auf Zettel gekritzelt, bis es schwarz um mich wurde.

Zuerst war es, als würde ich nur träumen. Ich befand mich in einem großen, schwarzen Raum tief unter der Erde. Um mich herum standen Statuen aus weißem Gips. Einige davon erkannte ich: Der Abschleppmann, der Motelbesitzer, die Bedienung aus dem Restaurant. Alle Statuen waren hohl, mit gähnenden Augenhöhlen und Mündern. Als ich eine davon berührte, brach der Gips sofort weg. Und mein Finger auch. Da sah ich, daß ich genauso hohl war wie die Statuen.

Dann wurde es wieder dunkel. Ruhig, irgendwie warm, ganz friedlich. Ich vergaß alles und schwebte eine Weile zufrieden in der Schwärze.
Dann bemerkte ich, daß ich mich bewegte. Das Licht, auf das ich zuflog (oder das auf mich zuflog?) war zunächst nur ein kleiner, weit entfernter Punkt, wurde aber rasch größer und heller. Und als ich in das Licht eintauchte, sah ich für einen Moment lang alles. Das ganze Universum, den ganzen Kosmos. Wie alles zusammenhängt, wie alles funktioniert, wie alles Sinn macht. Es war nicht nur klar und verständlich, es war auch so schön, daß es mir das Herz brach. Ich kann das jetzt nicht mehr in Worte fassen, aber ich glaube, daß es Worte gibt, die all das ausdrücken können. Ich bin zurückgekommen, um diese Worte zu suchen.

In der Zwischenzeit schauten sich Brian, Kim und Sylvia die Anomalie an. Es gab auch einen Führer, der ihnen alles zeigte. Wie es schien, floß das Wasser an diesem Hügel tatsächlich bergauf. Die Schwerkraft schien hier irgendwie nicht zu funktionieren. Während der Führer ihnen zeigte, wie sich auch die Wahrnehmung durch den Magnetismus verzerrt, hatte Sylvia eine merkwürdige Vision: Sie sah, wie ich plötzlich an Kims Stelle auf dem Hügel stand, am Rand einer kleinen, aber tiefen Schlucht. Und wie Brian ausholte, um mich den Hügel hinunterzustoßen. Wie ich taumelte.
Sylvia rannte los, um mich zu retten. Tatsächlich hätte sie fast Kim in die Schlucht gestoßen. Danach war den Dreien die Lust an dem Ausflug vergangen, und sie gingen zurück in die Stadt. Dort stellten sie fest, daß die Tür zu meinem Zimmer verschlossen war. Eigentlich wollten sie es damit auf sich beruhen lassen (was hätte mir schon passieren sollen), aber Sylvia hatte ein wirklich seltsames Gefühl, und Kim war neugierig. Also holte Brian den unfreundlichen Motelbesitzer, damit er die Tür aufbrach.

Ich wurde ins Krankenhaus gebracht (meine komischen Zettel müssen die anderen verschwinden haben lassen. Oder ich habe mir nur eingebildet, sie zu schreiben. Jedenfalls habe ich sie nie wieder gesehen, und mich hat auch nie wieder jemand danach gefragt). Dort bekam ich den Magen ausgepumpt (gut, daß ich davon nichts mitbekommen habe) und kreislaufstützende Medikamente verabreicht. Ganz gereicht hat das nicht: Ich bekam Herzflimmern und war für einige Zeit klinisch tot. Mit einer Defibrilator konnte der Arzt mich wieder beleben. (Die elektrischen Verbrennungen von diesem Ding tun gar nicht so unwesentlich weh. Ein Fakt, der wenig bekannt ist.).

Sylvia und Brian hockten die ganze Nacht im Vorzimmer des Arztes (es gab in Hillrose kein Krankenhaus. Nur diesen Arzt) und mußten Kate Bushs “Running Up That Hill” ertragen. Die Krankenschwester hatte eine Kassette mit einer Endlosschleife von diesem Lied laufen und weigerte sich kategorisch, irgendetwas anderes zu hören.
Sie haben mir später erzählt, daß sie sich fürchterliche Sorgen gemacht haben, vor allem, als mein Herzschlag ausgesetzt hat. Sylvia hat sich wohl schwere Vorwürfe gemacht, weil das alles angeblich ihre Schuld sei - schließlich hatte sie R. Brown durch die Prüfung fallen lassen, blah, blah, blah. Jetzt nur mal für dich, Sylvia: Du hast keine Schuld an dem, was passiert ist. Okay?

Was Kim zu der Zeit gemacht hat, weiß ich nicht. Geschlafen, schätze ich.

Am nächsten Tag war mein Zustand so weit wieder stabil, und Brian und Sylvia konnten frühstücken gehen. Kim kam auch vorbei. Und da wurden die drei Zeuge einer wundersamen Veränderung: Der Motelbesitzer, vorher so mürrisch und abweisend, war an diesem Tag fröhlich und nett. Flirtete mit der Bedienung in dem Diner herum. Kim hatte vorher mitbekommen, daß er - noch im Motel - ein Lied gehört, bei dem es ums Flirten und die Liebe ging.

Nach dem Frühstück haben die drei mich besucht. Ich war bei Bewußtsein, wenn auch körperlich ziemlich schwach. Ich fühlte mich wie jemand, der eine schwere Krankheit überstanden hat. Erleichtert, irgendwie.
Das Gespräch hat die drei wohl beruhigt. Dem Arzt habe ich erzählt, daß ich betrunken war, und mich mit der Anzahl der Schlaftabletten verschätzt hatte. Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hat - er machte eigentlich schon den Eindruck.

Kim, Brian und Sylvia sind dann gegangen, um sich die Stadt anzusehen. Außer der magnetischen Anomalie (die zumindest Brian noch mal untersuchen wollte) gab es in Hillrose auch noch so faszinierende Sachen wie das Haus, in dem Elvis mal eine Nacht verbracht hatte. Und einen sehr gut sortierten Musikladen - CDs, Platten, Bücher, alles zum Thema Rockmusik.
Nach dem Besuch im Musikladen haben sich die drei getrennt. Brian wollte zur Anomalie, Kim wollte rumhängen und sein neues Buch lesen. Sylvia ist (glaube ich) mit Brian mitgegangen.
Bei der Anomalie mußten die beiden erstmal feststellen, daß der Führer, der gestern sehr enthusiastisch und zuvorkommend gewesen war, heute knurrig und desinteressiert erschien. Brian hat dann noch festgestellt, daß die Anomalie eine optische Täuschung ist - durch den ständigen Wind an der Hügelseite wachsen die Bäume so zur Seite, daß es aussieht, als würde es nach oben gehen. Statt dessen führt der Weg leicht nach unten. Der Führer fand die Erklärung nicht so witzig.

Kim wurde mittlerweile von einem Typ angesprochen, den er schon im Musikladen getroffen hatte. Der hatte dort eine größere Lieferung von Kassetten abgegeben. Im Gespräch erfuhr Kim, daß der Typ George Hunter heißt und hier ein gutes Werk tut - nämlich Kassetten unters Volk bringt. Er bot auch Kim an, ihm eine Kassette zu geben, was der auch annahm. (Kim hat mir das mal erzählt, aber ich weiß nicht, ob ich die Reihenfolge und den Zeitpunkt richtig aufgezeichnet habe.)

Später kamen Brian und Sylvia noch mal bei mir vorbei, um mir die Geschichte mit der Anomalie und den merkwürdigen Musikstücken zu erzählen. Da auch mein Traum von den hohlen Menschen ziemlich gut dazu paßte, beschlossen die beiden, von jetzt an vorsichtig zu sein.

Beim Mittagessen im Diner erzählte die Bedienung (sie hatte auch einen Namen. Ich wußte ihn auch mal, aber jetzt nicht mehr. Rose?) Brian, daß ich wahrscheinlich einfach eine Freundin bräuchte (klar, sicher. Das letzte, was ich brauchen kann, ist eine Freundin). Die junge Hope Smith wäre doch ein nettes Mädchen, vielleicht sollte ich sie ja mal kennenlernen. Brian beschloß, sich danach noch ein bißchen im Ort umzusehen. Sylvia ist auch noch herumgewandert, dann aber wieder zu der Arztpraxis gekommen. Da konnte sie sich mein Gejammer über das schrottige Essen anhören - mir war die ganze Zeit ziemlich schlecht, und ich konnte nichts bei mir behalten. Die Sachen, die ich haben wollte, wollte mir die Krankenschwester nicht geben. (Nein, kein Whisky. Damit bin ich fertig. Ich brauche keine Krücken mehr.)

Kim und Brian sind an diesem Abend nicht wieder aufgetaucht. Kim war damit beschäftigt, Musik zu hören, und Brian lief im Ort herum und unterhielt sich mit verschiedenen Leuten. Dabei stellte er fest, daß alle einen Kassettenrekorder besitzen, der scheinbar ständig läuft und immer wieder dasselbe Lied spielt. Jeder hatte ein eigenes Lied, einen bekannten Rock- oder Popsong aus den letzten paar Jahrzehnten, den er andauernd hörte. Die Musik schien die Stimmung der Leute extrem zu beeinflußen. Wie extrem, zeigte sich erst am nächsten Tag, als es Brian schon egal war.

Ich höre jetzt damit auf, mich für Foreshadowings zu entschuldigen. Sie sind einfach stärker als ich. 

Zuletzt ging Brian bei Hope Smith vorbei. Sie war eine junge Lehrerin, deren Eltern schon vor längerer Zeit gestorben waren - weiß, blond, so ein richtiges 50er-Jahre-Mädel mit Rock und Pferdeschwanz. Sie hörte “Love Is In the Air”, als Brian ankam. So hat sie sich auch benommen: Hat ihn angehimmelt, lieb gelächelt, schüchtern, aber interessiert getan und schließlich einen Spaziergang unter dem Sternenhimmel vorgeschlagen. Brian ist voll darauf abgefahren und hat die Nacht bei ihr verbracht (ja, klar. Schüchterne Mädchen schlafen immer gleich mit einem Typen, wenn sie ihn nett finden. Sicher doch).
Am nächsten Morgen hatte Brian dann einen eigenen Kassettenrekorder, der ihm vorgedudelt hat, es sei ein “Wonderful Day”. Hope hat auch irgendein Liebeslied gehört, also war an der Front alles klar - ein strahlendes junges Paar.

Kim muß irgendwann an diesem Morgen oder noch am vorigen Abend George Hunter wieder begegnet sein. Entweder Georgie hat ihm vorgeschlagen, doch den Musikladen zu übernehmen, oder Kim ist selber auf die Idee gekommen. Jedenfalls hörte der alte Musikladenbesitzer an diesem Tag das schöne Lied “Surprise! You´re Dead!” auf seinem Kassettenrekorder und brach tot zusammen. Kurz darauf zog Kim in dem Musikladen ein und beschloß, eine Band zu gründen.

Sylvia und ich haben zu diesem Zeitpunkt natürlich auch gemerkt, daß etwas nicht stimmt. Die Kassettenrekorder der ganzen Hillrose-Leute waren ihr auch aufgefallen, und es war irgendwie komisch, daß wir Brian seit dem vorigen Nachmittag nicht mehr gesehen hatten. Kim kannten wir noch nicht gut genug, um sagen zu können, was für ihn normales Verhalten ist und was nicht. (Jetzt, wo ich ihn besser kenne, bin ich mir immer noch nicht ganz sicher. Aber “normal” ist vielleicht auch kein Begriff, den ich auf irgendeinen von uns anwenden sollte).
Der Arzt meinte, es ginge mir ja schon viel besser, und ich solle nur in den nächsten Tagen aufpassen, was ich esse. Ich fühlte mich zwar nicht sonderlich fit (Kreislaufprobleme, Übelkeit und Schwindelanfälle gehören bei mir nicht zum normalen Programm), aber ich habe mir Sorgen um Brian und Kim gemacht, also bin ich mit Sylvia losgedackelt.
Wir trafen Hope und Brian vor ihrem Haus - sie hatte beschlossen, die Schule für heute sein zu lassen, und mit ihrem neuen Lover zum Picknick zu fahren. Brian war ganz erfreut, uns zu sehen, wollte aber von unseren Bedenken nichts hören - er wollte mit Hope in den Park. Er war völlig euphorisch und glücklich. Und er schleppte diesen Kassettenrekorder mit sich rum.

Sylvia und ich haben uns erstmal zurückgezogen und nach Kim gesucht. Der hing im Laden rum, zeigte völliges Desinteresse an uns beiden oder sonst irgendwas und hörte auf seinem Walkman irgendeine Kassette.
Jetzt kriegten wir es mit der Angst zu tun. Schließlich hatten wir beide “Invasion of the Body Snatchers” irgendwann mal im Spätprogramm gesehen, und Kim und Brian kamen uns vor wie diese ausgetauschten Pflanzen-Zombies. Natürlich war uns klar, daß die Gefahr von den Kassetten ausging, aber wie die Dinger genau funktionierten, wußten wir nicht. Also mußten wir experimentieren.

Zunächst beschlossen wir, Brian seinen “Wonderful Day” zu verderben. Ihn zu provozieren und zu verärgern, in der Hoffnung, die Kontrolle des Lieds zu durchbrechen. Wir hofften, daß die Musik ihn noch nicht völlig im Griff hätte.
Also haben wir uns auf den Weg gemacht, um Brian und Hope im Park zu treffen. Während sich Sylvia mit der Kleinen unterhielt, habe ich Brian provoziert. Ich habe ein paar ziemlich fiese Dinge zu ihm gesagt, bis er schließlich wirklich böse wurde und mir eine geknallt hat. Das war das Ende des Gesprächs - er wollte nicht sehen, daß in Hillrose irgendetwas nicht stimmt, er wollte bei Hope bleiben. Und zwar für immer.
Als nächstes haben wir versucht, den beiden seinen Kassettenrekorder wegzunehmen. Es gab eine kleine Rangelei, bei der wir nicht allzusehr im Vorteil waren - ich war immer noch angeschlagen, hatte Probleme mit dem Kreislauf und einen gebrochenen Arm, auf den Brian prompt draufgeschlagen hat. Die beiden sind dann abgezogen - ziemlich sauer auf mich und Sylvia. Nicht ganz ohne Grund, ein paar von den Dingen, die ich zu Brian gesagt habe, waren wirklich unter der Gürtellinie. Verdammt. Ich hab mich nie dafür entschuldigt.

Jedenfalls war Sylvia und mir jetzt klar, daß wir zu drastischeren Maßnahmen greifen mußten - wir würden Brian aus der Stadt entführen müssen, in der Hoffnung, ihn dadurch dem Einfluß der Kassetten zu entziehen.
Dazu haben erstmal einen Wagen gekauft (für fünfzig Dollar, eine rostige Klapperkiste, aber sie fuhr), und haben Brian und Hope dann auf offener Straße angegriffen. Sylvia wollte ihn niederschlagen, und um ihn abzulenken, habe ich Hope angestoßen. Das hat ihm nicht gefallen: Er hat mir mit voller Wucht den Ellenbogen auf den rechten Unterarm gerammt. Auch ohne das charmante Krachen der beiden Knochen hätte der blendende Schmerz mir wahrscheinlich gesagt, daß der Arm wieder gebrochen war.
Immerhin hat sich das Ablenkungsmanöver gelohnt: Sylvia konnte Brian niederschlagen, und wir haben ihn in den Wagen gezerrt. Bevor wir losgefahren sind, hat Sylvia noch den Kassettenrekorder ausgeschaltet, konnte ihn aber Hope nicht entreißen, die damit abgehauen ist.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
The best lack all conviction, while the worst are full of passionate intensity.

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #8 am: 11.04.2005 | 16:33 »
Also sind wir mit unserer Klapperkiste erstmal vor die Stadt gefahren. Dort konnten wir vernünftig mit Brian reden - naja, quasi vernünftig. Er hatte sich wirklich in diese Hope verknallt und ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht. Er wollte, daß wir sie auch retten. Nach einer längeren Diskussion haben wir uns darauf eingelassen. Ich mußte mir ein paar Schmerzblocker einwerfen, damit ich überhaupt weitermachen konnte - mein Arm tat höllisch weh.
Dann sind Sylvia und ich zurück nach Hillrose. Brian haben wir beim Auto gelassen, da wir nicht wußten, wie er reagieren würde, wenn er wieder in die Nähe des Ortes käme. Ich wollte Hope aus ihrem Haus locken, mit dem Versprechen, sie zu Brian zu bringen. Sobald sie weg war, sollte Sylvia in ihr Haus einbrechen und ihren Kassettenrekorder ausschalten. Brians Gerät wollte sie auch mitbringen.

Mein Teil des Plans ging auch soweit auf: Ich konnte Hope überzeugen, mit mir zu kommen. Was wir allerdings nicht wußten, ist, daß sie Brians Kassettenrekorder mittlerweile wieder angeschaltet hatte. Damit geriet er wieder unter die Kontrolle der Musik. Er kannte unseren Plan, und er machte sich auf, um ihn zu vereiteln. Mich und Hope hat er verpaßt, aber Sylvia traf er beim Haus und “half” ihr beim Einbruch, in der Hoffnung, sie in den Keller locken und dort einschließen zu können. Kaum dachte er, daß er sein Ziel erreicht hätte, rannte er los, um die Polizei zu holen, die die Einbrecherin verhaften sollte.
Glücklicherweise hatte er sich da verrechnet. Hope Smith schloß ihren Keller nicht ab, und Sylvia gelangte problemlos ins Haus, stellte Hopes Stereoanlage ab und griff sich Brians Kassettenrekorder. Als die beiden Polizisten auftauchten (die an diesem Tag in den Genuß des Liedes “I Shot the Sheriff” gekommen und daher besonders schießwütig waren), war sie schon auf dem Weg nach draußen. Es gab trotzdem eine längere Verfolgungsjagd, bis Sylvia die beiden im Wald abhängen konnte. Gut, daß sie ihr Marathon-Training nicht so vernachlässigt hat wie die beiden Cops ihre Schießstunden.

Sobald Sylvia Hopes Stereoanlage abgeschaltet hatte, stellte sich auch Hope irgendwie ab. Sie bewegte sich noch, wenn man sie irgendwohin führte, aber es war nicht so, als wäre noch jemand zu Hause. Immerhin war sie dadurch leichter zum Wagen zu bringen.
Ich war zunächst besorgt, weil Brian ja weg war. Aber er tauchte bald darauf wieder auf und erklärte mir, er hätte sich nur Sorgen um uns gemacht. Ich sah keinen Grund, ihm zu mißtrauen - ich war ohnehin mit der Welt ziemlich am Ende. Der Wagen war anderthalb Meilen von der Stadt entfernt geparkt, und der Weg kam mir in meinem Zustand ziemlich lang vor.
Nach einem kurzen Gespräch zeigte Brian dann sein wahres Gesicht: Er packte mich an dem gebrochenen Arm und fing an, mich in Richtung der Stadt zu zerren. Dabei erklärte er mir, bald würde ich alles verstehen und auch ein Teil von Hillrose werden.

Die Schmerzen waren höllisch. Unerträglich. Ich habe Brian angefleht, mich loszulassen, den anderen Arm zu nehmen, aufzuhören. Ich hätte alles getan, ihm alles erzählt oder versprochen, wenn er nur meinen Arm losgelassen hätte.
Ich weiß nicht, wie lange er mich hinter sich hergeschleppt hat. Eine halbe Stunde? Vierzig Minuten? Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Zu dem Schmerz kam noch die Angst, was mit mir in der Stadt passieren würde. Ich wollte kein Musik-Zombie werden. Aber ich hatte keine Chance gegen Brian.

In der Zwischenzeit kam Sylvia beim Wagen an und entdeckte die reglose Hope, die dort allein herumsaß. Sie versuchte, mich anzurufen, was natürlich nicht funktioniert hat (ich habe das Klingeln nicht einmal gehört).
Ich nehme an, daß ihr zu diesem Zeitpunkt aufgefallen ist, daß Brians Kassettenrekorder noch lief, und sie ihn ausgeschaltet hat.
Brians stures Gehirn lief noch eine Weile auf dem “Ich muß ihn in die Stadt bringen”-Trip weiter. Erst, als wir Hillrose erreichten, wurde ihm klar, was er da eigentlich mit mir tat. Er ließ mich los und fing an, sich zu entschuldigen, was mir zu diesem Zeitpunkt natürlich völlig egal war - ich hätte ihm alles verziehen, solange er nur den Arm losließ.
Brian hat mich dann wieder zurückgebracht. Diesmal mußte er mich beinahe tragen. Meine Beine wollten nicht mehr.

Beim Wagen angekommen beschlossen wir, erst einmal nach Fort Morgan zu fahren (nach einer kurzen Rast und ein paar Uppern war ich wieder fit - naja, so fit wie unter diesen Umständen möglich, was zu meiner Überraschung erstaunlich fit war). Dort konnten wir uns um Hope kümmern, einen Plan machen, um Kim rauszuholen, und vor allem etwas essen und uns ausruhen. Ein Krankenhaus schlossen wir erstmal aus - die hätten mich wahrscheinlich dabehalten. Bevor wir losgefahren sind, hat Brian seinen Kassettenrekorder zerstört.

Unterwegs habe ich versucht, Hope wachzureden. Sie war immer noch reglos und katatonisch, aber ich hatte das Gefühl, daß ich sie vielleicht erreichen könnte, wenn ich die richtigen Worte wähle.
Wir haben uns in einem Motel eingemietet und die ganze Nacht auf Hope aufgepasst. Kurz vor Morgengrauen hatte ich auch kurz den Eindruck, daß sie mich verstanden hätte, daß sie aufwachen würde. Zumindest denke ich, daß ich in diesem Moment nicht auf einen Zombie eingeredet habe. Aber dann dämmerte sie wieder weg.
Als die Sonne aufging, wachte sie wieder auf. Aber sie wollte wieder zurück nach Hillrose - offenbar hatte dort jemand ihren Kassettenrekorder wieder angeworfen. Da wir eine erwachsene Frau wohl kaum gegen ihren Willen festhalten konnten, haben wir ihr ein Busticket für den Mittagsbus gekauft und sie in einem kleinen Café in Fort Morgan gelassen. Wir dachten, es ist besser, wenn sie nicht im Ort ist, wenn wir Kim retten gehen. Außerdem hatte Brian die Hoffnung, daß er Hopes Stereoanlage zerstören und sie so vom Einfluß der Musik befreien könnte.

Also sind wir - mit einem neuen Mietwagen - wieder zurückgefahren. Brian gelang es, Hopes Stereoanlage kaputtzuschlagen, danach sind er und ich bei Kim im Musikladen vorbeigegangen. Da Sylvia möglicherweise von der Polizei gesucht wurde, wollte sie lieber im Auto bleiben. Wir hatten den einfachen Plan, Kim mit K.O.-Tropfen in einem Alkopop zu betäuben. Bisher konnte er ja nie widerstehen, wenn irgendjemand an etwas Buntem herumnuckelte. Woher konnten wir auch wissen, daß Kim überzeugter Anti-Alkoholiker ist?
Jedenfalls verlief das Gespräch zunächst eher ungünstig, vor allem, weil Kim aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, Brian nicht zu mögen. Von mir wollte er allerdings Texte für seine Band haben, also war er ganz freundlich. Nach längerem Hin und Her und einem weiteren Handgemenge konnten wir Kims Walkman zerschlagen, bevor der an seine Schrotflinte gelangt war.
Kim fand es eigentlich nicht schlimm, von einem Typ mit Kassetten zu einem Musik-Zombie gemacht zu werden. Allerdings beschloß er trotzdem, mit uns zu kommen, weil er die Chancen, in Hillrose eine vernünftige Band zu gründen, als minimal ansah. Er packte alle Musikinstrumente, die er finden konnte, in unser neues Mietauto (glücklicherweise hatten wir ein ziemlich großes Modell gewählt). Dann räumte er die Konten des Ladens leer, und wir konnten aufbrechen.

In Fort Morgan fanden wir Hope noch in dem Café vor, wieder in dem reglosen Zustand des Vortags. Wir nahmen sie erst einmal mit, allerdings ohne große Hoffnung, ihr wirklich helfen zu können.
In dieser Nacht hatte Brian einen seltsamen Traum: Den sollte er besser selber schildern. Es ging auf der einen Seite darum, daß er und eine Gruppe anderer Menschen zusammengerufen wurden und ein Gebäude betraten, das wie eine Art Kirche wirkte. Dort wurde ein Lied gespielt, “Let the Moment Stay Forever” oder “Don´t Let the Moment Pass” oder so ähnlich. Unter den Menschen machte sich ein ungeheures Glücksgefühl breit, alle gehörten zusammen, alles war perfekt. Dann löste sich die Versammlung langsam auf, aber er hatte das Gefühl, als würden die Menschen hier regelmäßig zusammenkommen.
Vielleicht war es auch Sylvia, die diesen Traum hatte.
Jedenfalls weiß ich, daß Brian auch noch träumte, daß er vor einem großen Schloß steht, in dem eine schöne Prinzessin gefangen gehalten wird. Ihr grausamer Vater, ein Zauberer, hat sie eingesperrt. Brian kann nichts tun, auch wenn er gekleidet ist wie ein Ritter und ein Schwert mit sich führt. Das Tor des Schlosses ist versperrt. Brian reitet davon, verspricht dem Zauberer aber, wiederzukommen und die Prinzessin zu holen. Doch der lächelt nur spöttisch und fordert Brian auf, das doch bitte zu tun - er würde sich schon darauf freuen.

Zur selben Zeit wie in der vorherigen Nacht hatte ich das Gefühl, als würde Hope kurz zu sich selber kommen. Dieser Zeitpunkt muß ungefähr mit dem ersten Traum zusammenfallen - es gibt sicherlich eine Verbindung.
Am nächsten Morgen wollte sie auf jeden Fall wieder zurück nach Hause, auch wenn es ihr nicht leicht fiel, Brian zu verlassen. Er versprach ihr, wieder zurückzukommen, sobald wir unsere Angelegenheit in L.A. geklärt haben. Ich hoffe, wir kommen wieder, bevor ihr jemand “I Don´t Like Mondays” in den Kassettenrekorder tut.

Ich war am Tag vorher in Fort Morgan im Krankenhaus gewesen und hatte mir den Arm eingipsen lassen. Ich dachte, dann geht er nicht mehr so schnell kaputt. Die Leute haben mir ernsthaft geraten, den Arm so weit wie möglich zu schonen, sonst würde ich mit Folgeschäden rechnen müssen. Haha.
Jedenfalls fand ich am nächsten Tag, als wir schon wieder unterwegs waren, die Unterschriften von Sylvia, Brian, Kim, einem “J. Hunter” und “Mr.Reaper” auf dem Gips. Die drei behaupten steif und fest, daß sie nicht auf meinem Arm herumgekrakelt haben. Ich weiß auch nicht, wie jemand da dran gekommen ist - der Arm schmerzte immer noch stark, und ich bilde mir ein, ich hätte gemerkt, wenn sich jemand daran vergriffen hätte.
Wenn Mr. oder Mrs. Hunter und Mr. Reaper hier in diesen Aufzeichnungen Kommentare hinterlassen, fange ich an, mir Sorgen zu machen. (Laß es sein, Kim. Ich erkenne deine Schrift. Das gilt auch für dich, Brian. Witzbolde.)

Zwei Tage, nachdem wir Hillrose verlassen haben, habe ich bei Bob Shaw angerufen. Bob ist mein Therapeut - naja, er ist eigentlich Familientherapeut, aber ich kenne ihn schon ziemlich lange, und ich vertraue ihn.
Ich mußte einfach mit irgendjemandem reden. Ich kam nicht mit der Sache klar, die Brian mit mir gemacht hat - um genauer zu sein, kam ich nicht damit klar, wie ich reagiert hatte. Daß ich ihn angebettelt habe, mir nicht mehr wehzutun. Wir haben alle unsere Illusionen hinsichtlich unserer eigenen Stärke, und meine waren nach dieser Sache ziemlich angeschlagen.
Ich habe Bob irgendwas über Drogen erzählt. Die Wahrheit hätte er mir - bei aller Zuneigung - nie im Leben geglaubt. Er ist kein Experte auf diesem Gebiet (wie gesagt, er ist Familientherapeut), aber er meinte, daß ich Schwierigkeiten hätte, zu akzeptieren, daß ich in dieser Situation schwach gewesen sei. Da hat er recht. Niemand will schwach sein, oder? Wir wollen alle glauben, daß wir stark sind. Daß körperliche Schmerzen nicht genug sind, um unseren Willen und unsere Identität auszulöschen.
Jetzt weiß ich es besser, und vielleicht hilft mir dieses Wissen noch mal. Immerhin bin ich mittlerweile besser darin geworden, Schmerzen zu ertragen (es gibt schon Gründe, warum ich hin und wieder mit rechts schreibe). Aber vom Sonnentanz bin ich noch ein gutes Stück entfernt.

Und wenn ihr findet, daß ich bemerkenswert gesammelt klinge für einen Typen, der versucht hat, sich umzubringen, dann laßt mich das kurz erklären: Ein Teil von mir ist in Hillrose gestorben. Das war der Teil, der Angst hatte, der eine Welt brauchte, die er sich erklären konnte. Der Teil, der mit all diesen übernatürlichen Phänomenen nicht klarkam. Der Teil, der Alkohol oder irgendeine andere Stütze brauchte.
In vielen primitiven Kulturen muß ein Kind erst symbolisch sterben, bevor es zum Mann wird. Genauso bin ich gestorben: Ich bin nicht mehr die Person, die ich vorher war. Ich bin aber auch keine völlig neue Person. Aber ich habe ein paar meiner Ängste und schlechten Angewohnheiten auf der anderen Seite gelassen. Wer oder was ich jetzt genau bin, muß ich auch erst noch herausfinden. Jedenfalls hat der Selbstmordversuch genau das bewirkt, was ich erreichen wollte - wenn auch nicht ganz so, wie ich das damals beabsichtigt hatte...
Und ich hab noch vom Krankenhaus aus bei der Uni angerufen und mein Studium beendet. Ich schätze, ich kann auf der Straße mehr über Sprache und Worte lernen als in einem Seminar.

Das hat jetzt nicht viel mit der Erzählung zu tun, aber es lag mir auf dem Herzen. Es ist passiert, jetzt ist es vorbei. Nur eine Station auf dem Weg.

Und wenn wir schon mal dabei sind: Brian hatte die Idee, daß wir - da wir ja jetzt besondere Fähigkeiten haben (im Prinzip die Fähigkeit, übernatürlichen Kram zu bemerken, ohne durchzudrehen) - auch eine besondere Verantwortung hätten, Leute zu helfen, die durch so etwas in Gefahr geraten. (Offenbar hat er als Kind ziemlich viele Superhelden-Comics gelesen.)
Ich kann seine Argumente trotz allem Spott nicht ganz von der Hand weisen. Andererseits haben wir keine große Ahnung, was wir eigentlich tun. Wir stolpern ziemlich blind umher.
Sylvia meinte, sie wolle diese Angelegenheit klären, und dann wieder zu ihrem normalen Leben zurückkehren. Kim will nur eine Band gründen.
Wir haben die Entscheidung über diese Sache verschoben, bis wir in L.A. waren.

Noch ein Gespräch, das wir hatten: Sylvia und/oder Brian hatten das Gefühl, daß uns jemand beeinflußt. Daß es kein Zufall ist, das unser Weg mit sovielen Fallstricken gespickt ist. Sie gingen zunächst davon aus, daß das jemand macht, der uns feindlich gesonnen ist, aber wer weiß: Vielleicht will uns nur jemand vorbereiten. Uns zeigen, was los ist. Warum, weiß ich auch nicht - könnte ja sein, daß er kein Fan von R. Brown ist und uns eine Chance geben will.

Ich habe zwischenzeitlich mal wieder bei meinem Großvater angerufen und ihm unsere ganzen Probleme geschildert. Ich wußte, daß er mir glauben würde.
Er riet mir, mich in L.A. erst einmal an Hopping Roach zu wenden, einen Dakota, der dort lebt. Vielleicht weiß er etwas über Raymond Brown, oder er kann uns anderweitig helfen.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #9 am: 2.05.2005 | 16:25 »
Kommen wir zum nächsten Kapitel (diesmal ohne Axtmörder, aber dafür mit umso mehr Toten):

Craig - The Hollow Men
Ungefähr fünf oder sechs Wochen, nachdem wir aus Chicago aufgebrochen waren, kamen wir in Denver an. Das war ungefähr die Hälfte der Strecke, die wir zurücklegen wollten, und die gesamten Rockies lagen noch vor uns.
Da Denver eine große Stadt ist, fühlten wir uns einigermaßen sicher. Bisher hatten wir nur in diesen kleinen, unheimlichen Städten entlang des Highways Probleme gehabt. In einer Mischung aus Naivität und Paranoia fürchteten wir uns mehr vor irgendwelchen inzüchtigen Hinterwäldlern als vor den Gefahren, die in einer Großstadt lauern.
Und natürlich bekamen wir Schwierigkeiten. Kim und ich wollten kochen, daher sind wir in die Mall gefahren, um Zutaten zu kaufen. Im Supermarkt waren allerdings einige Biker, die Waren rumwarfen und die Kassierer anstressten. Da wir ja keinen Ärger wollten, verließen wir den Supermarkt. Es sah ja nicht so aus, als würden die Biker allzu lange bleiben.
Vor dem Supermarkt hatten die Jungs ihre fünf Motorräder geparkt: Eine ganze, schöne, glänzende Reihe. In diesem Moment hatten Kim und ich wohl den selben Gedanken - die standen einfach so erwartend da. Mit einem kräftigen Fußtritt warfen wir die Maschinen um - nur, um die bösen Biker davon abzuhalten, einfach davonzufahren und sich so der Polizei zu entziehen, selbstverständlich. Wir sind schließlich anständige Staatsbürger. Jawoll.
Die Biker kamen raus, als die Polizeisirenen schon zu hören waren. Kim und ich machten uns aus dem Staub, aber die Jungs haben uns noch gesehen. Einer von ihnen hat mit dem Finger auf Kim gedeutet, dann haben sie ihre Bikes aufgehoben und sind davon gefahren. Zwei Sachen fielen uns auf: Zum einen nannte sich diese Gang Hollow Men (was im Zusammenhang mit dem Gedicht von Eliot einigermaßen merkwürdig erschien), zum anderen kamen die Motorräder aus Illinois. Genau wie wir.
Brian und Sylvia hatten eine weniger angenehme Begegnung mit den Hollow Men - sie waren Zeuge, wie die Biker einen Eisverkäufer und ein kleines Mädchen erschossen. Brian versuchte noch, irgendwie zu helfen, kam aber zu spät. Beide waren hinterher erstaunt, wie wenig es sie berührt hatte, die Leiche eines Kindes zu sehen, aber ich schätze, wir haben alle schon zu viele Leichen gesehen, um eine weitere noch sehr bemerkenswert zu finden. Jedenfalls waren sie ziemlich fertig.

Am nächsten Tag brachen wir wieder auf. Schon ein paar Meilen von Denver entfernt überholte uns ein Konvoi aus ungefähr 15 Motorrädern - die Hollow Men. Sie schienen in dieselbe Richtung zu fahren wie wir. Nicht gerade ein beruhigender Gedanke. Wir riefen zwar die Polizei an, aber ohne große Hoffnung, daß die in der Lage sein würde, sich um das Problem zu kümmern.
Wir beschlossen, vom Highway abzufahren und auf Nebenstraßen auszuweichen. Also fuhren wir über die 90 nach Norden, in der Hoffnung, später über Salt Lake City in die Rockies zu kommen. Erste Station war Steamboat Springs, ein kleines Wintersportkaff. Viel war nicht los, aber wir beschlossen trotzdem, uns etwas umzusehen (hauptsächlich auf der Suche nach einem Diner, in dem man etwas anderes außer Hamburgern oder Steak essen konnte. In Steamboat City Diner gab es dann tatsächlich auch etwas, daß sich “Salat” nannte - ein paar hilflose grüne Blätter, die sich in eine essigsaure Joghurtsauce verirrt hatten).
Auf dem Rückweg fielen Kim zwei Indianer auf, die ihn intensiv anstarrten. Als er sie fragte, was denn los sei, meinten sie, er sei “neu auf dem Weg”. Weitere Fragen brachten keine tiefsinnigeren Auskünfte, außer der Aussage, daß sich weder Sylvia, noch Brian, noch ich auf dem Weg befinden würden. Sie wiederholten den Satz auf Kims Bitte hin auch noch einmal in ihrer Muttersprache, was aber nicht wirklich weiterhalf. War eine Uto-Aztekische Sprache, die von den Ute in der Gegend gesprochen wird (Uncompaghre). Ich spreche die Sprache nicht wirklich, allerdings habe ich mal eine Wortliste gesehen, und ja, ich glaube, daß die Indianer das Wort für “Weg” verwendet haben.

In Steamboat Springs fand Kim auch einen Handzettel, der für einem Musikwettbewerb in dem schönen Ort Craig in zwei Tagen warb. Kim war völlig begeistert und meinte, er wolle auf jeden Fall mitmachen. Ich sollte ihm einen Text schreiben, am besten mit Bezug auf das Gedicht Hollow Men.

Am folgenden Tag fuhren wir nach Craig. Das lag ohnehin auf unserer Route. Von den Hollow Men haben wir nichts mehr gesehen, aber ein blödes Gefühl blieb.

In dieser Nacht hatte Brian übrigens einen seltsamen Traum: Er sah Kim, wie er in einer Art Schulaula Gitarre spielte. Sein Publikum waren vier Indiander, die mit reglosen Gesichtern auf vier Stühlen saßen. Ansonsten war die Aula leer. Brian wußte allerdings nicht mehr, welches Lied Kim gespielt hatte.

Craig war eine Kleinstadt mit sieben- oder achttausend Einwohnern, überwiegend weiß, nett, gepflegt und nicht übermäßig paranoid. Entsprechend fanden wir ein hübsches Motel, wo wir uns einmieteten. Kim beschloß, dort zu bleiben und zu üben. Wir anderen wollten etwas von der Stadt sehen. In dem Mythologieführer, den sich Brian und Sylvia in Denver gekauft hatten, hieß es, in Craig gebe es ein Mystery House, das innen größer sei als außen. Das mußten wir uns natürlich anschauen, auch wenn wir alle vermuteten, daß das eher in die Kategorie “Magnetische Anomalie” fallen würde. Immerhin war der Erbauer angeblich irgendwo in dem Haus verschwunden. Ich glaube, Sylvia und Brian hofften, Kontakt zu seinem Geist aufnehmen zu können.

Das Haus war ziemlich interessant: Es gab keinen einzigen rechten Winkel, Boden, Wände, die Decken, alles war irgenwie krumm und schief. Das erschwerte die Orientierung im Haus ganz ungemein - ich glaube aber nicht, daß es innen wirklich größer als außen war.
Vor allem der Keller hatte es uns angetan. Brian beschloß, ein Experiment zu machen: Er wollte ein Stück mit geschlossenen Augen herumgehen und schauen, wo ihn sein Instinkt hinführen würde. Wir hatten am Eingang einen “Ariadnefaden” (ein stinknormales Wollknäuel, nur daß es 5 Dollar gekostet hat) gekauft, damit wir uns nicht völlig verlaufen. Mit diesem Faden tappten Sylvia und ich also hinter Brian her, der wundersamerweise nicht sofort gegen eine Wand lief.
Ich war ein bißchen in Gedanken versunken, da ich eine Idee für das Lied von Kim hatte. Offenbar hätte ich mehr auf Sylvia achten sollen, denn auf einmal fand ich mich in einem alten Lagerraum wieder, in dem Geräte und Kisten aufbewahrt wurden. Von den anderen keine Spur. Aber irgendwie gefiel mir dieser Raum, keine Ahnung, warum. Jedenfalls war er sehr inspirierend - ich habe nicht nur den Liedtext gefunden, sondern auch einige andere, interessante Fragmente.
Brian lief irgendwann tatsächlich gegen eine Wand. Er hatte ebenfalls einen Raum gefunden, der aber nicht weiter bemerkenswert erschien. Brian blieb trotzdem dort, um ihn weiter zu untersuchen, während Sylvia losging, um mich wiederzufinden. Schließlich konnte Brian tatsächlich etwas ungewöhnliches feststellen - irgendwie konnte man in diesem Raum einen Wind wehen hören.
Nachdem wir uns alle wiedergefunden hatten, verließen wir das Haus erstmal. Ich brachte Kim seinen Text, auch wenn ich die Melodie, die ich im Ohr hatte, als ich ihn schrieb, nicht mehr wußte. Kim war einigermaßen zufrieden und machte sich sofort daran, den Text zu lernen.

Wir haben an dem Tag nicht mehr viel gemacht. Gegessen, geredet. Das übliche. Später sind wir dann alle schlafen gegangen. Tat mal ganz gut, einen Nachmittag nicht im Auto, auf der Flucht, in Panik oder im Krankenhaus zu verbringen. Sollten wir öfter machen.

Am nächsten Tag sind wir noch mal zu dem Haus gegangen. Ich war noch mal in diesem Raum und habe wieder vor mich hin geschrieben (aus irgendeinem Grund habe ich die ganze Zeit die rechte Hand benutzt. Fühlte sich hinterher nicht so toll an). Als ich mir die Sachen hinterher angeschaut habe, stellte ich fest, daß ich den Liedtext in verschiedenen Varianten noch einmal geschrieben hatte - und einmal einen Text in einer mir unvertrauten Sprache. Das kann aber nicht am nächsten Tag gewesen sein, ich denke, es war doch schon vorher. Die Zeit, die ich in diesem Raum verbracht habe, kommt mir sehr traumhaft vor, daher weiß ich nicht mehr so genau, was wann war. Sorry.

Ich habe mir die fremde Sprache noch mal angeschaut, und festgestellt, daß es sich um dieselbe Ute-Sprache handelt, die auch die zwei Indianer in Steamboat City gesprochen haben. Daher beschlossen Kim und ich, noch mal nach dort zu fahren, um die Indianer zu fragen, wie man den Text genau ausspricht.
Durch meine vorherigen Sprachstudien konnte ich immerhin genug Worte des Textes idenfizieren, um sagen zu können, daß es sich ebenfalls um eine Version des Lieds “Hollow Men” handelte.
In Steamboat Springs lasen uns die beiden Männer den Text vor, und Kim beschloß, das Lied in dieser Sprache vorzutragen. Da der Wettbewerb schon an diesem Abend war, wollte er den Rest der Zeit bis dahin mit Üben nutzen.

Sylvia und ich waren dann noch in dem Museum. Es ging hauptsächlich um Wirtschaftsgeschichte und war entsprechend öde, daher sind wir nicht lange geblieben. Brian war noch mal in dem Mystery House, um den Raum zu suchen, hat aber nichts gefunden.

Schließlich war es am Abend so weit: Kim packte seine Gitarre und seine Verstärker zusammen und brach zur City Hall auf. Wir gingen natürlich auch hin - schließlich mußte irgendjemand Kim ja anfeuern.
Die Konkurrenz war nicht sonderlich überzeugend. Größtenteils irgendwie nett, aber ziemlich Mainstream. Zum einen Ohr rein, zum andern Ohr raus. Kim war um Klassen besser als die anderen - das hat selbst das Publikum (Hinterwäldler, und größtenteils auch noch die Eltern der Mitbewerber) gemerkt.
Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß der Wettbewerb in einer Halle ausgetragen wurde, die aussah wie eine Schulaula, und daß inmitten des Publikums auch vier Indianer saßen. Was für ein Zufall.
Während Kim gerade die erste Strophe spielte, hörten Sylvia, Brian und ich draußen Motorräder näher kommen. Wir standen vorsorglich schon mal auf und bewaffneten uns mit Feuerlöschern.
Völlig berechtigt, natürlich: Mitten in Kims Lied ging die Tür auf und ein riesiger Biker kam rein, zusammen mit ein paar anderen Typen. Er hörte kurz zu, meinte dann, das sei nicht schlecht für einen Anfänger, aber er wäre sauer, weil Kim die Motorräder umgeworfen hätte und dafür müßte er jetzt zahlen. Dann gingen die Biker mit einem fiesen Grinsen auf Kim zu.
In dem Moment ergriff wohl der Geist von John Wayne Besitz von mir. Ich kann mir das nicht anders erklären - ich bin schon als Kind immer vor Prügeleien davongelaufen, aber diesmal hab ich die Biker angebrüllt, ich hätte ihre blöden Maschinen demoliert, und sie sollten doch kommen, wenn sie sich trauen. Und als ein paar davon tatsächlich kamen, hab ich sie mit Löschschaum eingeseift, bevor ich gerannt bin (und auch dann nicht zu weit).
In der Halle brach Chaos aus. Die Biker hatten Schußwaffen dabei, und die guten Bürger von Craig nicht (verdammt, und ich dachte, Hinterwäldler gehen nie ohne ihre Schrotflinte aus dem Haus), also versuchten die Leute, aus der Aula zu fliehen. Sylvia schnappte sich auch einen Feuerlöscher, Kim unterbrach sein Lied und prügelte mit seiner Gitarre nach ein paar Bikern, die vier Indianer standen auf und gingen auf die Typen los, und Brian schaffte es doch tatsächlich, den Riesen (das war der Chef der Hollow Men) zu provozieren. Das war ein Fehler: Der Kerl zog seine Pistole und schoß Brian über den Haufen.
Als Brian fiel, zogen sich die Biker zurück. Einige von ihnen waren im Kampf gegen die Indianer umgekommen, und einer war versehentlich von seinem Kumpel erschossen worden. Sylvia lief zu Brian, um zu sehen, was mit ihm war. Kim und ich waren rannten nach draußen. Dort waren zwar mittlerweile die Cops eingetroffen, aber da sie nur zu zweit waren, hatten sie den Bikern nicht viel entgegenzusetzen. Beide lagen am Boden, der eine schwer verletzt, der andere tot. Die überlebenden Hollow Men saßen schon auf ihren Motorrädern und fuhren johlend davon.
Ich nahm die Waffe des schwerverletzten Cops und schoß hinter den fliehenden Bikern her. Beim zweiten Schuß scherte eine der Maschinen aus, der Fahrer stürzte und überschlug sich ein paarmal. Volltreffer.
Ehrlich gesagt habe ich in diesem Moment nichts empfunden außer einer vagen Befriedigung, daß der Hurensohn nicht davongekommen war, völlig überschattet von meiner Besorgnis um Brian. Er lebte noch, aber nur gerade so.
Kurz darauf tauchten die restlichen zwei Polizisten, die in diesem Ort lebten, auf, zusammen mit der Ambulanz. Die nahmen Brian, den schwer verletzten Cop und einen der Indianer mit. Die anderen drei Indianer waren tot. Die Biker hatten sechs von ihren elf Mann verloren, plus dem einen, den ich auf der Flucht erschossen hatte. (Der Kommentar der Cops zu diesem Toten war ein lapidares “Guter Schuß für Notwehr”. Die waren auch nicht so gut auf die Biker zu sprechen).
Sylvia fuhr mit Brian ins Krankenhaus, Kim und ich machten unsere Aussagen und fuhren dann mit unserem Mietwagen hinterher. Das war das erste Mal, daß ich Kim wirklich fertig gesehen habe: Er machte sich Vorwürfe, daß er uns überhaupt in diese Situation gebracht hatte. Ich habe versucht, ihn erstmal zu beruhigen.
Im Krankenhaus erfuhren wir von Sylvia, daß Brians Zustand sehr ernst war. Sie hatten ihn in den OP gebracht, wo man um sein Leben kämpfte. Auch den anderen beiden Verletzten ging es sehr schlecht.
Der Indianer starb in dieser Nacht (der Arzt, der uns das mitteilte, hätte eine Medaille für “Mangel an Einfühlsamkeit” verdient - als er mit ernster Miene reinkam, dachten wir, wir hätten Brian verloren. Sylvia ist beinahe umgekippt). Der Cop und Brian haben es geschafft, wenn auch knapp.

Während Brian zwischen Leben und Tod schwebte, hatte er eine Art Vision. Oder, besser gesagt, er verbrachte die Zeit auf einer Zwischenstation, zusammen mit den drei toten Indianern (George, Dick und Harry). Die Zwischenstation sah genauso aus wie die Aula. Als Brian sich mit den drei Männern unterhielt, erfuhr er, daß sie auf den vierten (Sam) warteten, damit sie wiederkommen können.
Harry war vor langer Zeit (irgendwann im 19. Jhd.) Häuptling oder Ältester eines Stammes in der Gegend von Craig. Was genau passiert ist, weiß ich nicht, aber die Weißen haben damals wohl den gesamten Stamm abgeschlachtet - darunter auch die Frau von Harry, eine Sängerin. Harry und seine drei Freunde wurden verflucht (oder haben sich selbst verflucht), nicht sterben zu können, bis sie das Lieblingslied der Frau nicht noch einmal gehört haben, gesungen von einem, der heilige Lieder singen kann. Dieser Eine war in diesem Fall Kim, und das Lied war natürlich “Hollow Men”.
Als Sam endlich auftauchte, konnte Brian zurück.

Während wir auf Neuigkeiten warteten, hatte ich das Gefühl, daß Sylvia völlig am Ende war. Es war für sie immerhin schon das zweite Mal, daß sie vor einem OP saß und abwarten mußte, was der Arzt sagen würde. Sie fragte ständig, wer denn der nächste sein würde. Vielleicht hatte sie Angst, daß “aller guten Dinge drei” sein würden, und daß der nächste nicht mehr überleben würde.
Irgendwann hatte ich das Gefühl, frische Luft zu brauchen, und bin weggegangen. Das muß ungefähr zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als mir klar wurde, daß ich diesen Rocker erschossen hatte - daß er tatsächlich tot war. Trotz der Geschichte mit Bill Toge (die mir immer noch vorkommt wie ein Fieberwahn, ehrlich gesagt) ging mir das ganz schön an die Nieren - ich halte eigentlich nichts davon, Leute zu erschießen. Intellektuell gesehen zumindest nicht. Meine Instinkte scheinen anderer Meinung zu sein.
Jedenfalls lief ich eine Weile gedankenversunken herum. Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich besonders lange unterwegs war, aber ich muß einen Blackout gehabt haben - am nächsten Morgen weckte mich der Besitzer des Hauses in dem kleinen Vorratsraum im Mystery House. Ich habe keine Ahnung, wie ich da hin gekommen bin. Ich nehme an, das sollte mich beunruhigen - tut es aber nicht. Der Raum übte eine starke Faszination auf mich aus, und als ich aufstand, um zu gehen, sah ich, daß ich mein Notizbuch vollgeschrieben hatte - Fragmente, Teilsätze, Ideen. Irgendetwas dort wirkte sich direkt auf meine Kreativität aus.

Als ich ins Krankenhaus zurückkam, erfuhr ich, daß Brian durchkommen würde. Sylvia war die ganze Nacht dort gewesen. Was Kim gemacht hat, weiß ich nicht. Er war eine Zeitlang dort, und gegen Morgen war er auch wieder da.
Wir durften mit Brian sprechen. Er war schwach, aber geistig klar. Er erzählte uns von den Indianern, die wiederkommen würden, um Kims Lied zu hören (ich glaube, das hat Kim geschmeichelt). Nach dem Gespräch haben Sylvia und ich uns ein bißchen hingelegt, um Schlaf nachzuholen. Vorher habe ich noch einen neuen Gips gekriegt - der alte war voller Blut (ich habe Brian aus der Halle getragen).

Als wir dann das Krankenhaus verließen (ohne Brian), um uns noch ein bißchen in der Stadt umzuschauen, tauchte plötzlich einer der Hollow Men auf seinem Motorrad auf. Er tat nicht viel, stand nur da und sah die Straße herunter. Uns hat er glücklicherweise nicht bemerkt.

Ich bin an dem Tag noch mal bei der Polizei vorbeigegangen. Ich wollte das Gesicht des Mannes sehen, den ich erschossen hatte. Es kam mir seltsam vor, jemanden zu töten, und nicht einmal zu wissen, wie derjenige ausgesehen hatte. Die Cops fanden meine Bitte nicht allzu merkwürdig, und ich konnte mir die Leiche ansehen.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #10 am: 2.05.2005 | 16:26 »
Und ich war mit Kim im Mystery House. Wir waren in dem Raum, den Brian gefunden hatte, wo man den Wind hören kann. Kim kam auf die gloriose Idee, doch einfach mal die Wand einzuschlagen. Die Spitzhacke holte er aus dem Vorratsraum (dem Raum, in dem ich so gut schreiben konnte).
Natürlich wurde er erwischt, und wir sind prompt beide aus dem Haus geflogen. Der Besitzer war nicht amüsiert.

Sylvia und ich haben außerdem beschlossen, uns Schußwaffen zu kaufen und Schießstunden zu absolvieren. Das haben wir dann auch gemacht. Ich habe besser getroffen als Sylvia, aber nicht sonderlich sensationell. Wie es scheint, bin ich besser darin, auf Leute zu schießen statt auf Zielscheiben (was für ein erfreulicher Gedanke).

Als wir später noch mal an dem Schußwaffengeschäft vorbeikamen, sahen wir, daß ein Hollow Man seine Maschine davor geparkt hatte. Wir riefen natürlich die Cops, die den Biker tatsächlich erwischten und verhafteten. Während die den Mann wegbrachten, riss sich Kim das Bike unter den Nagel und versteckte es irgendwo in der Stadt.

Sonst haben wir diesem Tag nicht mehr viel gemacht. Sylvia hatte, als sie geschlafen hat, einen merkwürdigen Traum: Wir befanden uns in einem Burghof, Sylvia in einem mittelalterlichen Kleid, der Rest von uns in Ritterrüstungen. Wir kämpften gegen eine Horde von Barbaren, ein verzweifelter, aussichtsloser Kampf. Dennoch wurden wir in ihrem Traum nicht von den Feinden überwältigt.
Interessant, das ist schon das zweite Mal, daß diese Ritter-Metapher auftaucht. Vielleicht hat das ja eine Bedeutung. Ich warte auf dem nächsten Ritter-Traum.

In dieser Nacht hatte auch Brian mal wieder einen seiner Träume: Er sah fünfzehn frische Hollow Men auf die Stadt zufahren. Na prima, da wußten wir ja schon, womit wir es zu tun kriegen würden.

Am Tag drauf ging es Brian schon erheblich besser: Er durfte sogar schon wieder aufstehen. Trotzdem sollte er sich nicht allzusehr anstrengen.
Ich war dann mit Sylvia und Kim noch mal in der “Innenstadt” von Craig. Dort fanden wir einen Esoterik-Laden, der auch mittelalterlichen Krimskrams verkaufte. Darunter auch das Kleid, das Sylvia in ihrem Traum getragen hatte. Und Rüstungen. Sylvia kaufte sich das Kleid, aber die Rüstungen waren a) zu teuer, und b) nicht wirklich praktisch, also haben wir darauf verzichtet.

Am Nachmittag durfte Brian schon wieder aus dem Krankenhaus heraus, sollte sich aber noch schonen. Wir sind noch mal bei den Cops vorbei, die einigermaßen nervös waren - ihre Verstärkung aus Denver wurde erst in zwei Tagen erwartet.
Immerhin konnten uns die beiden erzählen, daß die Hollow Men eine größere Gang aus Chicago mit ca. 120 Mitgliedern sind, die auch schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren. Sie vermuteten, daß die überlebenden Hollow Men auf Verstärkung warten, bevor sie etwas unternehmen. Das beruhigte uns natürlich ungemein.
Wir versuchten dann noch mal, uns mit dem Gefangenen zu unterhalten, aber das führte zu keinem sinnvollen Ergebnis. Auch unser späterer Versuch, den Besitzer des Schußwaffengeschäfts als Helfer zu rekrutieren, war erfolglos: Statt uns zu unterstützen, machte er seinen Laden erst mal zu und verschwand aus der Stadt. Mutig, mutig, diese Hinterwäldler. (´Tschuldigung. War wahrscheinlich die intelligenteste Idee, von seiner Seite aus gesehen.)

Nach dem Gespräch auf der Polizeiwache kehrten wir erstmal ins Krankenhaus zurück, um dort zu essen (Krankenhauskantinenessen hat den Vorteil, daß es schon vorgeschnitten ist. Versucht mal, mit einem Arm ein Schnitzel zu schneiden). Als wir besorgt beisammen saßen und überlegten, wie hoch die Chancen wohl wären, daß die Verstärkung der Cops vor der Verstärkung der Biker eintreffen würde, kam ein Mann auf uns zu, den wir schon mal gesehen hatten. Es war der Sheriff aus dem ersten Tucson. Und der Sheriff aus dem dritten. Sylvia war allerdings die einzige, der das auffiel.
Der Typ sagte, er hieße Don Spending und sei ein Cop aus Chicago. Er wäre schon länger hinter den Hollow Men her, weil sie seinen Bruder getötet hätten (irgendwie klingt das verdächtig nach Klischee. Aber wer weiß, welche Klischees stimmen und welche nicht. Vielleicht haben sie wirklich seinen Bruder getötet). Wenn er könne, würde er uns gerne gegen die Typen helfen.
Das war sicher nicht der Zeitpunkt, einem geschenkten Cop ins Maul zu schauen, also brachen Kim, Sylvia und ich gleich wieder zur Polizeistation auf. Brian fühlte sich nicht so fit und blieb erstmal im Krankenhaus.

Auf der Polizeiwache trafen wir vier alte Bekannte: Die Indianer, die die Cops wegen öffentlicher Ruhestörung eingebuchtet hatten. Außerdem waren noch zwei andere Männer da: Hilfssheriffs für den Kampf gegen die Hollow Men, Buck Mulligan und Chester Reed. Spending gelang es, die beiden Cops zu überreden, auch die Indianer freizulassen.
Ursprünglich hatten wir den Plan, uns aus der Polizeiwache zurückzuziehen und in kleinen, mobilen Einheiten durch die Stadt zu patroullieren. Leider hatten wir dazu keine Gelegenheit: Während wir noch mit den Officers Charlie MacCrey und Jim Dalton diskutierten, überschlugen sich die Ereignisse.
Sylvia machte sich auf den Weg, um Brian zu holen. Er wollte sich schließlich auch an der Sache beteiligen. Bevor sie losfuhr, holte Kim seine Gitarre aus dem Wagen, um den Indianern ihr Lied vorsingen zu können.

Kaum war Sylvia losgefahren, ging es los: Wir hörten die Bikergang heranfahren. Ich rief Sylvia an, daß sie da wären und wir auf jeden Fall noch Verstärkung bräuchten.
Die vier Indianer nahmen sich Stühle und setzten sich. Und Kim fing an, zu spielen.
In diesem Moment flogen auch schon die ersten Kugeln. MacCrey und Mulligan saßen an einem Fenster der kleinen Polizeiwache und schoßen zurück, Reed und Dalton am anderen. Ich und Spending beschränkten uns zunächst darauf, nachzuladen, bis wir Lärm an der hinteren Tür hörten und losrannten, um die Hollow Men dort aufzuhalten.
Der gefangene Biker, der immer noch in seiner Zelle saß, lachte und gröhlte. Wir hätten keine Chance, schrie er. Wir sollten doch schon mal unser Testament machen. In diesem Moment hörte ich den abgebrochenen Aufschrei von Reed, der getroffen worden war, hinter mir.
Da hab ich auf den Typ in der Zelle geschossen. Einfach so. Peng. Dann war er still.
Niemand hatte Zeit, sich um ihn zu kümmern. Von hinten drängten weitere Biker in den Raum und schossen wild um sich. MacCrey brach zusammen. Die Indianer standen von ihren Stühlen auf und griffen jetzt in den Kampf ein. Sie wurden zwar hin und wieder von Kugeln getroffen, aber es schien sie nicht zu stören. Und Kim spielte immer noch.

Brian und Sylvia gelang es im Krankenhaus, ein paar Vietnam-Veteranen aus der psychiatrischen Abteilung zu bewaffnen. Die Jungs waren sich nicht sonderlich klar darüber, wer eigentlich der Feind war - sie sprachen davon, Charlie abzuknallen. Einer von ihnen schoß sogar auf eine asiatische Krankenschwester. Trotzdem, sonst war niemand bereit, mitzuhelfen, also schnappten sich Sylvia und Brian einen Krankenwagen, verluden die Veteranen und fuhren los.
Als sie bei der Polizeistation ankamen, wurden wir immer noch belagert. Mittlerweile war auch Dalton gefallen und ich wieder vorne, bei den Fenstern. An der Tür nach hinten kämpften die Indianer und Spending.
Die Biker vorne sahen den heranrasenden Krankenwagen und schoßen auf ihn. Einer traf Sylvia am Arm, aber sie fuhr einfach weiter - erwischte zwei der Typen mit dem Auto und überfuhr sie einfach. Dann stieß Brian hinten die Tür auf, und dort traf der Chef der Hollow Men auf die Veteranen.
Er griff sich einen der alten Männer am Kopf und zerquetschte ihm mit einer Hand den Schädel. Mit der anderen schoß er auf Sylvia, traf sie auch, diesmal an der Schulter. Ich hatte ihn im Schußfeld, drückte ab, und sein Kopf explodierte. Den zweiten Biker, der noch herumstand, hab ich auch erwischt.
Danach wurde es chaotisch: Einer der Veteranen erschoß einen anderen (aus Versehen, nehme ich an), ein paar andere erschossen zwei Biker, die mich und Kim bedrohten. Kim beendete endlich sein Lied, und die Indianer fielen tot zu Boden. Spending war plötzlich irgendwie weg.
Die Veteranen stürmten gröhlend und schießend auf das Haus zu. Kim und ich hielten es in dieser Situation für eine gute Idee, einfach zu gehen, zumal der Hintereingang jetzt frei war. Die letzten drei Biker, die dort noch die Stellung gehalten hatten, waren auf der Flucht. Kim rannte hinter ihnen her, ich versteckte mich erstmal und wartete, bis die aufgehetzten Veteranen an mir vorbeigelaufen waren.

Dann traf ich mich wieder mit Sylvia und Brian. Brian hatte in diesem Kampf nichts abbekommen, aber Sylvias Arm war böse verletzt. Eigentlich wollten wir sie ja mit dem Krankenwagen in die Klinik fahren, aber irgendein Scherzkeks hatte den Wagen gestohlen (vermutlich ein Veteran).
Ein weiterer Krankenwagen tauchte kurz darauf bei der Station auf, aber außer Sylvia gab es keine Verletzten. Die beiden Cops, Mulligan und Reed, die vier Indianer und sechszehn Biker waren tot. Von allen, die in der Station gewesen waren, hatten nur Kim, ich und dieser Spending überlebt. Keiner von uns hat auch nur einen Kratzer abbekommen (figürlich gesprochen. Ein paar Kratzer hatte ich schon, aber nur vom In-Deckung-springen).

Ich blieb draußen, während die Sanitäter sich das Massaker im Inneren der Station betrachteten. Plötzlich sah ich den Scheinwerfer eines Motorrads, das sich mir näherte. Es war schon ziemlich dunkel, ich konnte nur die Silhouette eines Mannes mit einem Gewehr in der Hand erkennen, der auf mich zufuhr. Also habe ich geschossen. Ich wußte nicht, daß es Kim war.

Glücklicherweise wurde er nicht allzu schwer getroffen - die Kugel ging in den Oberschenkel. Ich war total entsetzt, ich wollte doch keinen Freund treffen. Ich kann aber auch nicht verstehen, warum er mit erhobener Waffe auf mich zugefahren ist. Danach haben die Sanis mir die Pistole erstmal weggenommen.

Kurz darauf trafen ein paar Polizisten aus den umliegenden Dörfern ein. Ich habe ihnen erzählt, was passiert ist, und bin dann mit einer Ambulanz ins Krankenhaus gefahren, um nach Sylvia, Brian und Kim zu sehen. Brian hatte sich nach dem Kampf auch nicht sehr gut gefühlt.
Es ging allen den Umständen entsprechend gut. Kim, der genug Schmerzmittel bekommen hatte, machte sogar einen eher glücklichen Eindruck. Er hat von der Schießerei nicht viel mitbekommen.
Während Sylvia operiert wurde, hab ich Brian erzählt, daß ich den Typ in der Zelle erschossen habe. Er wollte wissen, warum, und die einzige Antwort, die mir einfiel, war: “Er hat gezetert.”
Das ist, ehrlich gesagt, auch die Wahrheit. Wenn er still gewesen wäre, wäre ich nie im Leben auf die Idee gekommen, auf ihn zu schießen. Aber in diesem Moment, in dem mein... tja, ich schätze, das einzig richtige Wort hier ist “Kamerad”... in dem mein Kamerad hinter mir starb, in dem wir um unser Leben kämpften, wollte ich keine Ablenkung. Ich wollte eigentlich nur, daß er sein verdammtes Maul hält. Und wenn man eine Waffe in der Hand hält und ohnehin schon am Schießen ist, dann ist es verdammt einfach, das Ding kurz mal in die richtige (oder falsche) Richtung zu halten und abzudrücken. Wollte ich ihn umbringen? Nicht unbedingt. Ich wollte nur, daß er seine Fresse hält. Aber in dem Moment habe ich durchaus in Kauf genommen, daß er nach dem Schuß tot ist. Das war mir egal. Er war schließlich ein Feind. Ich denke, wenn er einfach nur ein Penner gewesen wäre, der gegröhlt hätte, hätte ich auch nicht geschossen, aber das war eine “Wir-gegen-Sie”-Situation.
Ich kann stundenlang reden und nicht entschuldigen, was ich getan habe. Tut es mir leid? Nicht um den Typ, ehrlich gesagt. Habe ich Schuldgefühle? Ja. Ich kann den Unterschied schwer in Worte fassen. Ich weiß, daß es falsch war, auf einen wehrlosen Menschen zu schießen, nur weil er mich provoziert hat. Früher hätte ich so etwas nie getan. Aber früher hätte ich mich bei einer Schießerei auch unter einem Tisch und leise vor mich hin gewimmert.
Ich habe immer geglaubt, daß das Leben heilig ist. Aber meine Vorfahren unter den Dakota haben das auch geglaubt. Sie sagen, in jedem von uns steckt etwas heiliges - wakan -, in den Menschen, den Büffeln, den Bären, der Sonne, den Winden... Und trotzdem sind sie hingegangen und haben Büffel erlegt, Bären gejagt und Menschen getötet, ohne einen Widerspruch zu sehen.
Was will ich damit sagen? Keine Ahnung. Ist mir nur gerade so eingefallen.

Wo war ich eigentlich gerade? Im Krankenhaus, während Sylvia und Kim operiert wurden. Beide Eingriffe verliefen erfolgreich, und Brian und ich beschlossen, noch ein bißchen herumzulaufen. Nach Reden war uns nicht zumute, aber wir haben uns ein Six-Pack Bier gekauft und dann versucht, uns gegenseitig zu überzeugen, mehr als eine Flasche zu trinken. Erfolglos, übrigens.
Brian ist irgendwann ein bißchen eingedöst, ich nicht. Einerseits ging mir zuviel im Kopf herum, andererseits tat mir der rechte Arm mal wieder weh. Bei der Schießerei kam ich wieder mal nicht dazu, ihn zu schonen - ich mußte einen Schrank rumschieben, um Kim ein bißchen Deckung zu geben, habe mich mehrfach auf den Boden geworfen, wenn die Biker wieder mal geschossen haben, und ich brauchte den blöden Arm, um den anderen abzustützen. Und warum bin ich nicht zum Arzt gegangen? Keine Ahnung. Vielleicht wollte ich ja Schmerzen haben. Das zeigt immerhin, daß ich noch lebe.

Als Brian wieder wach war, sind wir noch ein bißchen ziellos herumgelaufen und natürlich beim Mystery House gelandet. Da es nicht abgeschlossen war, und der Eigentümer sich auch nicht blicken ließ, sind wir noch mal in den Keller. Brian wollte durch das Loch schauen, das Kim geschlagen hatte. Statt dem erhofften Skelett des Erbauers fand er hinter der Wand nur ein Stück eines alten Wegs, den vor ein paar hundert Jahren die Indianer hier in der Gegend genutzt haben mögen.

Nach dieser Exkursion (bei der wir zum Glück nicht erwischt worden sind) gingen wir zurück ins Krankenhaus, um mit Sylvia und Kim herumzusitzen. Ich habe mich bei Kim entschuldigt - ich hätte vielleicht erst rufen und dann schießen sollen (aber ehrlich, wenn er ein Hollow Man gewesen wäre, hätte er mich in dem Moment wahrscheinlich erschossen). Ich hatte den Eindruck, als wäre er nicht allzu sauer. Sylvia war ganz gut gelaunt - immerhin hat sie jetzt auch einen Arm im Gips. Partner-Look, sozusagen. Wir sind eine ganz schön lädierte Brigade: Zwei Gipsarme, ein verbundenes Bein plus Krücke, und Brians Loch in der Brust. Willkommen beim Versehrtenverein der Schlacht von Craig.

Am frühen Nachmittag kamen dann ein paar Cops bei uns vorbei, um unsere Aussagen aufzunehmen. Dabei habe ich ihnen erzählt, daß ich den Typ in der Zelle erschossen habe. Warum? Viele Gründe. Zum einen hätten sie es mit einem guten Ballistiker ohnehin rausgekriegt. Außerdem hatte ich das Gefühl, Unrecht getan zu haben. Schuldgefühle eben. Und ich war erschöpft, verstört, leicht fiebrig (meine rechte Hand war mittlerweile rot und angeschwollen) und habe nicht sonderlich klar gedacht. Sonst wäre mir aufgefallen, daß ich ein Problem habe, wenn ich ins Gefängnis kommen sollte. Würde mich doch sehr wundern, wenn die Hollow Men keine Kontakte dahin haben.

Die Cops haben mich erstmal ins nächste Gefängnis gefahren und dort in U-Haft genommen. Ich habe meinen Dad angerufen (er ist Rechtsanwalt - Wirtschaftsrecht, aber er kennt die Szene), und er hat gesagt, daß er sich auf den Weg macht.

Das hier ist ein ebenso guter Zeitpunkt wie jeder andere, um das Kapitel abzuschließen. Die weiteren Ereignisse um die Verhandlung kriegen ein eigenes Kapitel. Ich darf das, ich bin der Autor.

Noch eine Sache: Ich habe bei der Schießerei nicht nur den Typ in der Zelle umgelegt. Da war auch noch der Boss der Hollow Men, der eine Typ vorne, und zwei andere Biker, die hinten reinwollten, von denen ich sicher bin, daß ich sie erwischt habe. Fünf Leute, die ich bei der Schießerei getötet habe. Plus dem Biker auf dem Motorrad, macht sechs. Plus Bill Toge. Sieben.
Als ich ein selbstgerechter Teenager war, bin ich meinem Onkel Joey ganz schön auf die Nerven gegangen. Joey ist ein Cousin meiner Mutter, und er war in Vietnam. Seither hat er irgendwas mit seinem Bein, bezieht Veteranenrente und sitzt meistens auf einer Bank vor seinem Haus und schaut der Sonne beim Scheinen zu. Er ist ein ruhiger Typ, sagt kaum was, reagiert nur auf direkte Fragen, und auch das nur manchmal. Macht aber trotzdem einen sehr ausgeglichenen Eindruck. Als hätte er eine Balance zwischen sich und der Welt gefunden. Nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich.
Ich hab ihn jedenfalls gelöchert, wie es ist, Leute zu töten. Er hat eine Medaille von Uncle Sam gekriegt, und die kriegst du nur, wenn du viele Feinde der Demokratie umbringst. Irgendwann muß ich ihm zu sehr auf die Nerven gegangen sein, denn er hat mir tatsächlich geantwortet. Hat gesagt, wenn ich wissen will, wie es ist, soll ich es halt tun. Dann könnten wir uns weiter unterhalten.
Klar, damals war ich sauer. Ich war ja auch ein Teenager, und ich fühlte mich verarscht. Ich schätze, jetzt weiß ich, was er meint. Aber jetzt muß ich auch nicht mehr drüber reden.

Bla, bla, bla. Wen interessiert das schon? Kann mir jemand erklären, warum ich euch mit diesem ganzen persönlichen Kram zumülle? (Ja, ja, ich weiß - ich rede halt gerne)

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #11 am: 17.05.2005 | 15:29 »
So, jetzt aber zum nächsten Kapitel:

Steamboat Springs - The Lone Ranger

Es ist ein bißchen Zeit vergangen, seitdem ich das letzte Mal an diesem Ding geschrieben habe, und ich bin zu faul, um mir das letzte Kapitel noch mal durchzulesen. Kann sein, daß ich mich wiederhole. Irgendwie wollte ich hier noch einen cleveren Spruch anbringen, daß ihr ja sowieso nichts dagegen machen könnt, oder daß ihr bitte Geduld mit mir haben müßt, aber leider fällt mir keiner ein. Also ignoriert mein Gebrabbel und lest einfach, ja?

Ich hatte also diesen Biker in der Zelle erschossen. Nicht nur das, ich hatte das ganze auch noch der Polizei erzählt. (Meine Gründe dafür habe ich ja schon mal erläutert, also spare ich mir das jetzt.) Jedenfalls nahmen die Cops mich erstmal mit nach Steamboat Springs, wo auch schon ein Haftbefehl auf mich wartete. Vorher durfte ich allerdings meinen Dad anrufen und ihm erzählen, was passiert war. Er nahm es relativ gelassen auf - naja, er war in der Kanzlei, und ich nehme an, er hatte einen Klienten da. Mein Dad ist Rechtsanwalt, Spezialgebiet Wirtschaftsrecht. Er versprach, sich um einen Verteidiger für mich zu kümmern, und wollte schon am nächsten Morgen in Steamboat Springs ankommen. Sylvia war bei mir, als ich den Anruf machte, also wußte sie davon. Sie mußte allerdings noch im Krankenhaus in Craig bleiben (Kim auch, und Brian kann nicht Auto fahren, also kam niemand mit nach Steamboat Springs).

Was danach passierte, weiß ich nicht mehr so genau. Ich taumelte wie in Watte gepackt von einem Ort zum anderen, und gelegentlich sagten mir irgendwelche Leute, was ich tun sollte. Irgendwer fummelte ziemlich dilettantisch an meinem Arm herum (ich nehme an, das war der Gefängnisarzt), aber selbst das war weit weg und nicht besonders schmerzhaft.
Schließlich brachten sie mich in eine kleine Zelle mit einem Bett und einem Radio. Die nächsten paar Stunden saß ich auf der Matratze und starrte die Wand an. Hörte Kugeln durch die Luft pfeifen. Leute schrieen und fluchten. Tote Körper schlugen in Zeitlupe auf dem Boden auf und verströmten Blut in roten Fontänen.
Ich könnte jetzt stundenlang von meinen Alpträumen erzählen, aber eigentlich möchte ich das gar nicht. Sagen wir einfach, ich hatte eine wirklich scheußliche Nacht. Vielleicht hätte ich die Pillen, die der Arzt mir geben wollte, doch nehmen sollen.

Am nächsten Morgen brachen Kim und Brian auf, um meinen Dad vom Flughafen abzuholen. Nicht zusammen, natürlich. Das wäre ja zu einfach gewesen. Nein, Brian nahm den Bus, und Kim unser Auto. Sylvia mußte im Krankenhaus bleiben.
Jedenfalls trafen sie meinen Dad am Flughafen. Er hatte meinen Cousin Don mitgebracht, der Erfahrung als Strafverteidiger hat und mich vor Gericht vertreten sollte.
Kim und Brian fuhren mit den beiden erstmal zum Gefängnis, um mich zu besuchen.
Mir ging es schon etwas besser: Gegen Morgen konnte ich ein paar Stunden schlafen, und als ich aufwachte, war zumindest das Fieber verschwunden. Ich sprach mit Don und Dad, die natürlich von der ganzen Situation weniger begeistert waren. Zumal ich mich nicht sonderlich gut an die Dinge erinnern konnte, die bei meiner Vorführung vor den Haftrichter gesagt worden waren. Und mein Dad kann Schußwaffen nicht leiden. Ich durfte als Junge nie mit meinen Verwandten auf dem Reservat jagen gehen, weil ich da ja hätte schießen müssen (nicht, daß ich sonderlich scharf drauf gewesen wäre). In Chicago war ich zusammen mit meinem Dad in der Gun Control Association, die sich für schärfere Waffengesetze ausspricht. Und jetzt hatte ich nicht nur einen, sondern gleich sechs Männer getötet. (Von Bill Toge war nicht die Rede. Der hatte mit der Sache nichts zu tun.)
Nachdem Dad und Don gegangen waren, um die Sache mit der Kaution zu klären, durfte ich noch mit Brian und Kim sprechen, die mir ermunternde Zeitungsartikel gezeigt haben (“Im Zusammenhang mit einer Schießerei, bei der mehrere Polizisten getötet wurden, wurde Bernard Jackson (23) aus Chicago, Illinois, verhaftet”, plus einem wenig attraktiven Bild von mir). Danach versicherten sie mir, das würde schon alles in Ordnung kommen, und ich versicherte ihnen, daß ich soweit okay wäre und das schon durchstehen würde. Außerdem sprachen wir kurz darüber, was wir eigentlich erzählen wollten - Kims Gitarrenspiel vor den vier Indianern hätte doch sehr seltsam gewirkt, also haben wir uns geeinigt, daß er einfach während der Schießerei einen Blackout hatte.

Es dauerte mehrere Tage, bis Don und Dad die Geschichte mit der Kaution endlich hingekriegt haben - sie haben einfach eine zweite Verhandlung anberaumt, da ich zur ersten ja eindeutig nicht vernehmungsfähig war. Das hieß allerdings auch, daß ich einige Tage im Gefängnis verbringen durfte. Immerhin lernte ich da einige charmante Gesellen kennen: Jack hatte seine Freundin zusammengeschlagen, Jim irgendwas geklaut, und Raymond war bei seiner Steuererklärung etwas zu kreativ geworden. Das war immerhin besser, als in der Zelle zu sitzen, die Wand anzustieren und zu überlegen, was schlimmer war: Die dröhnende Stille in der kleinen Kammer, oder vielleicht doch das Country-Gedudel im Radio?

In der Zwischenzeit wurde Sylvia aus dem Krankenhaus entlassen, und meine drei Reisegefährten machten sich auf einen längeren Aufenthalt in Steamboat Springs gefaßt.

Schließlich kam die Kautionsverhandlung, bei der überraschenderweise auch Brians Eltern anwesend waren - hauptsächlich wohl, um ihrem Jungen ins Gewissen zu reden. Dazu komme ich später.
Der Staatsanwalt war ein junger Kerl, höchstens 25 oder 26, namens Morten Windecker. Offenbar ein karrieregeiler Typ, denn die Anklage lautete auf Mord ersten Grades, und er forderte die Todesstrafe.
Ich war erst mal wie vor den Kopf geschlagen. Ich meine, in den letzten Tagen hatte ich von allen Seiten gehört, es würde schon nicht so schlimm werden, es würde alles in Ordnung kommen, und ich hatte tatsächlich angefangen, daran zu glauben. Und jetzt stand da dieser Typ, der mich nicht mal richtig ansehen wollte, und erzählte dem Richter, ich sei eine Gefahr für die Gesellschaft und müßte zum Wohl der Allgemeinheit hingerichtet werden.
Der Richter war wohl nicht ganz dieser Meinung, jedenfalls setzte er eine Kaution für mich in Höhe von 100.000 Dollar an. Glücklicherweise konnte mein Dad für so viel Geld bürgen, und ich durfte den Gerichtssaal mit ihm und Don verlassen.
Don war der Meinung, der Staatsanwalt hätte sich gehörig verschätzt und würde mit seiner Klage nie im Leben durchkommen. Ich hätte ihm ja wirklich gern geglaubt, aber grade vorher hatte er mir erzählt, daß ich höchstens wegen Totschlags angeklagt werden würde. Und ich mußte die ganze Zeit an meinen Großonkel William denken, den sie auf dem Stuhl umgebracht haben. Er hat vier weiße Männer getötet, die seine kleine Schwester vergewaltigt und ermordet hatten. Aber damals gab es zwei Arten von Rechtssprechung: Eine für Weiße (die vier Männer waren tatsächlich vor Gericht gekommen und frei gesprochen worden), und eine für Indianer. Ich hatte Angst, sein Schicksal zu teilen - meine Mutter hat mich immerhin nach ihm benannt.

Brians Eltern haben nach der Kautionsverhandlung mit ihm gesprochen. Ich weiß nicht genau, was sie gesagt haben, aber es ging wohl darum, daß er wieder nach Hause kommen und diese ganze Reise abblasen soll. Er hat sich geweigert, und sein Vater ist ganz schön sauer geworden. Jedenfalls war´s das mit der Kreditkarte, die Brian immer benutzt hat. Um sich finanziell über Wasser zu halten, hat er sich einen Job gesucht: Aushilfskoch bei Tante Edna´s, einem kleinen Burgerschuppen. Von da ab war er ziemlich beschäftigt.

Als Brian, Sylvia und Kim das Gerichtsgebäude verließen, mußten sie die leidige Erfahrung machen, daß es auf diesem Planeten möglicherweise intelligentes Leben geben mag, aber sicherlich nicht unter den Vertretern der örtlichen Presse. Ein paar dämliche Fragen von denen, ein paar sarkastische Antworten von Brian, und am nächsten Tag war ich plötzlich ein Alien. Oder der Bruder von Michael Jackson. Oder beides, natürlich. Sylvia mutierte sogar zur Anführerin einer Ufo-Sekte. Willkommen in Amerika, dem Land der unbegrenzten Blödheit. (Sorry. Es gab auch objektive Berichte. Ich werde bei Gelegenheit mal ein paar davon einscannen und anhängen.)

Die nächste Zeit verbrachten wir ziemlich friedlich. Brian briet Burger, Sylvia gab Nachhilfeunterricht in Mathe und Keyboard (ja, beides auf einmal) und Kim schrieb Songs und übte auf seiner Gitarre. Ich fing an, den Umgang mit einem Drum-Kit zu lernen, schrieb an einer Kurzgeschichte und diesem Ding hier herum und übte mit ein paar Hanteln. Nebenher hatte ich noch einen kleinen Nervenzusammen-bruch, der aber niemanden irgendwas angeht. Außerdem mußte ich mit zwei Psychologen reden, einem vom Gericht und einem, den mein Dad bezahlt hat. Die sollten feststellen, ob ich zum Zeitpunkt der Schießerei zurechnungsfähig war oder nicht. Mit einem Reporter habe ich auch gesprochen. Nachdem das Interview veröffentlicht worden war, hat die öffentliche Meinung eine echte Kehrtwende gemacht: Plötzlich war ich der Held von Craig, der unschuldige Bürger vor bösen Bikern beschützt hatte. Über Nacht hatte ich eine Fangemeinde, was das Ganze, ehrlich gesagt, nicht gerade einfacher machte.

Von Don erfuhren wir in dieser Zeit, daß Spending wirklich Sheriff in Joliet gewesen war, und daß sein Bruder tatsächlich von den Hollow Men umgebracht wurde. Jedenfalls gab es Unterlagen darüber. Und vor 10 Jahren war Spending Sheriff in Tucson. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. Was den Kerl angeht, bleibe ich skeptisch.
Mein Onkel Harry, der bei der Polizei in der Abteilung organisiertes Verbrechen arbeitet, erzählte mir, daß es die Hollow Men seit ungefähr fünf Jahren gibt. Sie kümmern sich um Schutzgelder und ähnliches, haben auch Kontakte zur Mafia. Bisher sind sie nicht durch so extreme Auseinandersetzungen wie in Craig aufgefallen. Sie verhielten sich im Augenblick ruhig, scheinen aber irgendetwas Größeres zu planen, allerdings nicht mit dem Ziel Colorado.

Der erste Verhandlungstag war schon zwei Wochen nach der Kautionsanhörung angesetzt worden: Offenbar wollte der Staatsanwalt die ganze Sache so schnell wie möglich durchziehen.
Schon kurz vorher hatten wir immer mal wieder einzelne Biker in Steamboat Springs gesehen. Die Polizei, die immerhin verstärkt worden war, hatte allerdings keinerlei Handhabe gegen die Typen, und vom FBI war weit und breit nichts zu sehen (wahrscheinlich mußten die irgendwo unschuldige Bürger belagern und waren zu beschäftigt).

Als ich mit meinem Dad und Don am Gerichtsgebäude ankam, hatten sich schon diverse meiner “Anhänger” versammelt, um Plakate zu schwenken und jedem, der es hören wollte, zu erzählen, ich sei ein Held. Einer von denen wollte sogar ein Autogramm von mir. Ich kam mir vor wie in einer sehr merkwürdigen, absurden Komödie - auf der einen Seite will mich dieser Staatsanwalt umbringen, auf der anderen Seite rufen mir irgendwelche Frauen zu, sie wollten ein Kind von mir. Leider war das Ganze überhaupt nicht witzig. Höchstens grotesk.
Brian und Sylvia hatten sich frei genommen, um auch beim Gericht zu sein, obwohl sie nicht mit in den Saal durften, weil sie ja Zeugen waren. Kim machte es anders: Er blieb im Hotel und nahm die ganze Verhandlung, die auf Justice TV gesendet wurde, mit dem Videorecorder auf. Und die ganzen Specials drumherum auch. Er hatte später sogar eine Aufnahme von einem Sprecher der Hollow Men, der ernsthaft versicherte, sie wären nur ein Club von Motorradfans, die dem Rachefeldzug eines gefährlichen Irren zum Opfer gefallen wären. Sehr glaubwürdig.

Ich war an diesem Tag der Erste, der aussagen mußte. Nachdem ich erzählt hatte, was in Craig passiert war, nahm mich Windecker ins Kreuzverhör und fing mit albernen Fragen nach meiner indianischen Abstammung und den vier Ute an. Offenbar wollte er auf eine größere Verschwörung von Indianern hinaus, die sich zusammengetan hatten, um die Hollow Men niederzumeucheln. Gut, daß ich mein Verhalten im Gerichtssaal vorher mit Don geübt hatte, sonst wäre ich wahrscheinlich ein klitzekleines bißchen sarkastisch und/oder wütend geworden. Ich kann Rassismus nicht leiden, und die Aussagen des Staatsanwalts schrammten immer wieder nur sehr knapp daran vorbei. Immerhin meinte Don philosophisch, daß das schon mal ein guter Grund für eine Berufung wäre, wenn wir den Prozeß verlieren sollten.
Während ich dabei war, meine Aussage zu machen, bemerkte ich Sie im Publikum. Claire Soderbergh, meine Ex-Freundin, und gewisse Vergleiche mit der irren Krankenschwester aus Stephen Kings Roman sind vielleicht gar nicht so unangebracht. Nein, das war unfair. So schlimm ist sie auch wieder nicht.
Claire studiert Psychologie (kennt einer von euch einen netten, ausgeglichenen Psychologen?) und modelt nebenher für irgendeine Agentur. Kim konnte erst gar nicht verstehen, warum ich sie nicht mehr wollte - schließlich sieht sie wirklich super aus. Aber sie hat ein paar Probleme damit, die Worte “es ist vorbei” zu verstehen. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, daß ich mich von ihr getrennt habe. Schon in Chicago hat sie mich regelrecht verfolgt. Das war auch der ursprüngliche Grund, warum ich nach Daytona wollte - um einfach ein bißchen Abstand zu ihr zu kriegen.
Jedenfalls tauchte sie in diesem Gerichtssaal auf. Ich nehme an, sie hat durch Presse oder Fernsehen von meinen Schwierigkeiten gehört und war sofort losgedackelt, um mich zu “unterstützen”. Wäre sie mal besser in Chicago geblieben.
Als der Staatsanwalt mir ein paar besonders unangenehme Fragen stellte, stand sie auf und fing an, ihn zu beschimpfen. “Mein Freund hat so etwas nie getan”, rief sie tapfer aus, “Lassen Sie ihn sofort in Ruhe!” Und dann kam sie richtig in Fahrt und erzählte ihm, was ich doch für ein friedliebender Mensch bin und daß sie mich ja sooo gut kennt, bla, bla, bla. Sie redet noch mehr als ich.
Der Richter war von ihrem Auftritt natürlich nicht so angetan und ließ sie aus dem Gerichtssaal entfernen. Dort traf sie prompt auf Sylvia, die auch noch versuchte, sie zu trösten (sie kannte Claire ja nicht).
Nachdem Richter Miller die Verhandlung für diesen Tag aufgehoben hatte, ging ich mit Dad und Don nach draußen, wo Claire auf mich gewartet hatte. Sie fiel mir prompt um den Hals, erzählte mir, wie sehr sie mich vermißt hat, und so weiter. Ich versuchte, ihr klar zu machen, daß ich mich von ihr getrennt habe, aber irgendwie kam ich nicht richtig zu ihr durch. Schließlich gelang es mir, sie an Don abzugeben, der ihr den richtigen Umgang mit Presse und anderen offiziellen Stellen erklären sollte (sehr zu Dons Begeisterung).

Zusammen mit Brian und Sylvia ging ich dann zu Kim. Der zeigte uns ein paar Interviews, die Claire wohl nach dem Gespräch mit Don gegeben hatte. Vor laufender Kamera fing sie an, den Staatsanwalt (“Er wurde nicht gestillt”) und den Richter (“Er hat Probleme mit Autoritäten”) zu analysieren. Dankeschön, Claire, ich bin sicher, das hat mir total geholfen.
Während der darauffolgenden Lästereien fiel mir plötzlich auf, daß Claire, die sich ja öffentlich als meine Freundin geoutet hatte, auch in Gefahr sein könnte. Immerhin konnten die Hollow Men nicht wissen, daß wir nicht mehr zusammen waren. Also rief ich Don an und bat ihn, nach ihr zu sehen und sie zu warnen. Don war nicht sehr begeistert - er war sie doch grade erst losgeworden -, ging dann aber los. Und rief kurz darauf zurück: Claire war von zwei Rocker-Typen aus ihrem Hotel mitgenommen worden.

Ich geriet erst mal in Panik. Ich meine, ich liebe Claire nicht, aber mir vorzustellen, was die Hollow Men mit ihr machen würden... sie ist eine so hübsche Frau. Ich wollte sofort losrennen, um ihr zu helfen, hatte aber nicht die geringste Idee, wohin eigentlich. Brian hielt es für wahrscheinlich, daß sie sie nach Craig bringen würden, um sie dort zu ermorden und in die Zelle zu legen, in der ihr Kumpel gestorben war. Er und Sylvia machten sich sofort auf den Weg dorthin. Ich wollte auch mit, aber die beiden überzeugten mich, daß ich nur im Weg wäre, und daß sie vielleicht mit den Hollow Men verhandeln könnten.
Nachdem die beiden weg waren, überlegten Kim und ich, daß sie ja vielleicht auch in einer der vielen Skihütten um Steamboat Springs herum gefangengehalten werden könnte. Wir beschlossen, auf Don zu warten, der bei uns vorbeikommen wollte, bevor wir etwas unternehmen würden.
Kim nahm das sehr wörtlich: Kaum tauchte Don auf, verschwand Kim, so schnell, daß er sogar sein Handy vergaß. Er mietete sich einen Wagen, den Don und ich noch wegfahren sahen, und begann, die Skihütten abzuklappern.
Nachdem auf einmal alle weg waren, hielt mich auch nichts mehr im Motel. Don wollte erst mit mir kommen, aber ich konnte ihn überzeugen, lieber der Polizei auf die Nerven zu fallen - im Wald hätte er mir ohnehin nicht helfen können. Also mietete ich mir ein Pferd (warum auch immer, ich schätze, ich dachte, mit einem Pferd wäre ich leiser und beweglicher) und brach zur nächstbesten Skihütte auf.


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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #12 am: 17.05.2005 | 15:30 »
Der Rest der Geschichte ist ein bißchen lückenhaft, weil ich teilweise einfach nicht genau weiß, was die anderen gemacht haben. Andere Sachen habe ich mitgekriegt, die schreibe ich natürlich auf, aber ein paar Kommentare wären diesmal echt erwünscht.
Aber bevor ich mit dem dramatischen Teil anfange, muß ich kurz noch mal zurückspringen, weil mir grade noch etwas wichtiges eingefallen ist (sorry. Irgendwann werde ich das mit der chronologischen Erzählung schon noch hinkriegen).
Am Abend vor der Verhandlung sind wir zusammen ins Autokino gegangen, in den Film “The Gathering”. Schon ganz am Anfang gab es eine Szene, in der ein junger Mann in ein Loch fiel und von einem Kreuz aufgespießt wurde. Dabei verging mir und Kim jegliche Lust, den Film weiter anzuschauen, und wir sind ein bißchen in der Gegend herumgelaufen. Brian und Sylvia sind dageblieben und haben sich das Teil bis zum Ende angeschaut. Dabei sind ihnen ein paar merkwürdige Sachen aufgefallen: Die Kirchenwand aus Tucson kam darin vor, die mit unseren Bildern drauf. In dem Film wurde auch erklärt, was mit den Personen auf dem Bild war - das waren Schaulustige, die sich die Kreuzigung von Jesus Christus angesehen hatten. Dafür wurden sie dann verflucht, in alle Ewigkeit als Geister herumzuwandern und immer wieder Zeuge von gewaltsamen Toden zu werden. Die Heldin des Films geriet irgendwie mit ihnen aneinander und starb zum Schluß, um sie zu besiegen. So etwas in der Richtung zumindest, ich habe Brian und Sylvia da nur mit einem Ohr zugehört. Die beiden waren etwas beunruhigt, weil es zwischen den Sachen, die uns passiert sind, und dem Film ein paar Parallelen gibt. Irgendwie stört mich das nur sehr wenig. Wer weiß, vielleicht hat unser “Freund” aus L.A. den Film auch mal gesehen. Oder vorher mit dem Drehbuchautor geredet. Ach ja, da fällt mir ein, der Schurke im Film war ein geistig Behinderter, der sauer war, weil er aus der Schule geflogen ist. Jedenfalls hatten wir hier noch die Parallele mit der verpatzten Prüfung. Ich glaube, ich habe mich in dem Moment ausgeklinkt, als Sylvia erzählte, der Mörder wäre irgendwie behindert gewesen - ich kann so etwas nicht ab. Als ob geistig Behinderte nicht schon genug Probleme hätten, auch ohne daß irgendwelche blöden Hollywood-Idioten die Ängste vor ihnen noch schüren müssen.

So, jetzt aber zurück zur Entführung. Da ich nicht wußte, wo Kim war, und ihn auch nicht anrufen konnte, ritt ich einfach zur ersten besten Skihütte. Und tatsächlich: Davor waren zwei Motorräder mit Kennzeichen aus Illinois geparkt. Ich rief erst einmal Don an und sagte ihm Bescheid. Dann schlich ich mich näher an die Hütte heran. Trotz meiner Unfähigkeit (ich konnte noch nie besonders gut schleichen) bemerkte mich niemand, und durch eines der Fenster konnte ich hören, wie zwei Männer darüber sprachen, daß die ganze Aktion ein bißchen ungeplant passiert war, weil die Gelegenheit so günstig gewesen sei. Das hätte harmlos sein könnte, aber das Gefühl hatte ich nicht, also schickte ich Don eine SMS mit meinem Standort. Und wo ich das Handy schon mal draußen hatte, kam ich doch tatsächlich auf die Idee, den Klingelton abzustellen.
Leider ungefähr zwei Sekunden zu spät: Als ich mich noch durch die Menüs klickte, fing das Ding natürlich an zu klingeln. Das war Brian, der eigentlich nur Bescheid sagen wollte, daß in Craig alles in Ordnung war und sie Claire nicht gefunden hatten. Ich drückte ihn erstmal weg und rannte los. Die Typen in der Hütte hatten das Gefiepe meines Handys natürlich auch gehört und kamen raus, um nachzusehen, was los sei. Sie sahen ziemlich Biker-mäßig aus und waren mit Schrotflinten bewaffnet. Ich versteckte mich erstmal in einem Gebüsch (in der Hoffnung, daß sie Stadtjungs wären, die das Fiepen eines Handys nicht von einem Vogel unterscheiden können). In der Eile hatte ich aber vergessen, den Klingelton tatsächlich auszustellen, und das verdammte Ding klingelte erneut. Also verabschiedete ich mich von dem netten Gebüsch und rannte zu meinem Pferd. Glücklicherweise verfolgten mich die beiden Biker nicht allzu enthusiastisch, sondern beschränkten sich darauf, ein paar Mal hinter mir her zu schießen.
Weil ich in dieser Hütte (Morgentau hieß sie, glaube ich, die Dinger hatten alle so romantische Namen) Claire nicht gesehen hatte, und außerdem Don ja Bescheid wußte und hoffentlich die Polizei losschicken würde, machte ich mich auf den Weg zur nächsten Hütte (Rosenduft? Rosenhauch? Irgendwas mit Rosen).

Als ich dort ankam, sah ich außer drei Motorrädern auch Kims Wagen auf dem Vorplatz stehen. Idyllischerweise stand hinter der Hütte ein Biker und hackte Holz. Ich dachte mir, daß er mich zwischen den Schlägen kaum würde hören können, also schlich ich näher. Durch das Fenster sah ich zwei weitere Hollow Men, die sich darüber unterhielten, daß “einer von den Idioten ihnen direkt in die Hände gelaufen war”. Ich nahm an, daß es sich um Kim handelte.
Da ich nicht sicher war, ob ich es mit drei Bikern auf einmal aufnehmen konnte - naja, eigentlich war ich verdammt sicher, daß ich auch schon mit einem Schwierigkeiten kriegen würde -, wollte ich wieder wegschleichen und Don und die Polizei verständigen. Aber auf dem Rückweg sah mich der Holzhacker und rief seine Kumpels, die mich dann durch den Wald jagten. Ich schaffte es bis zu meinem Pferd, aber das blöde Vieh scheute, als es Schüsse hinter sich hörte, und ich fiel prompt runter (soviel zum Thema Lone Ranger). Und dann hatten sie mich. Noch ein Idiot, der ihnen direkt in die Hände gelaufen war.

Sie zogen mir erst mal eine über den Schädel, und als ich wieder zu mir kam, lag ich - an Händen und Beinen gefesselt - neben Kim und Claire auf einem Bett. Die beiden waren ebenfalls verschnürt. Da außer uns niemand in dem Raum war, stand Kim auf und hüpfte zu dem großen Spiegel hinüber, der an einer Wand hing. Es gelang ihm, das Teil abzuhängen und auf dem Boden zu zerschmettern.
Der Lärm, den der zerbrechende Spiegel machte, rief allerdings einige der Hollow Men herbei. Die waren nicht eben begeistert von der Aktion. Einer von ihnen schlug Kim nieder, ein anderer löste meine und Claires Beinfesseln und band uns aneinander. Der letzte beschränkte sich darauf, uns mit seiner Waffe zu bedrohen. Hätte er mal besser aufgepasst - noch während Kim zu Boden ging, gelang es ihm, eine der Spiegelscherben zu greifen und in seiner Hand zu verbergen.
Die drei Typen brachten uns zu Kims Mietwagen. Ich und Claire mußten uns auf den Rücksitz setzen, Kim kam in den Kofferraum. Einer von ihnen, ein Kerl mit Haaren bis zur Hüfte, setzte sich auf den Fahrersitz, die anderen beiden blieben bei der Hütte.
Unterwegs gelang es Kim, seine Fesseln mit der Spiegelscherbe durchzuschneiden. Danach versuchte er, durch den Spalt im Sitz auch mich und Claire zu befreien, aber genau in diesem Moment muß der Langhaarige in den Rückspiegel geschaut und Kims Hand bemerkt haben. Er hielt an, stieg aus und ging zum Kofferraum. Ich habe versucht, ihn irgendwie abzulenken, aber mein Gerede interessierte ihn erstmal herzlich wenig. Er stellte fest, daß Kim seine Fesseln gelöst hatte, verschnürte ihn erneut und schlug ihn dann nochmal nieder.
Als er zurückkam, fing ich an, ihn zu beschimpfen. Ich war nervös und hatte panische Angst um Kim, und ich mußte dem ganzen Luft machen, auch wenn das natürlich keine sonderlich brilliante Idee war. Nachdem er Claire mit seiner Knarre bedroht hatte, war ich auch wieder still.

Wir fuhren weiter, und da bemerkte ich, welchen Fehler unser Freund begangen hatte. Er hatte Kim zwar wieder verschnürt, aber er hatte sich wohl keine Gedanken darüber gemacht, wie so ein schlanker Kerl die Fesseln überhaupt losgeworden war. Als ich ziellos hinter mir herumtastete, auf der Suche nach irgendetwas, daß uns die Flucht ermöglichen könnte, griffen meine Finger plötzlich in die Spiegelscherbe.
In Romanen oder Filmen ist es immer ganz einfach, sich Fesseln mit beliebigen spitzen und/oder scharfen Gegenständen durchzuschneiden. Leider erwies es sich, daß die Autoren noch nie versucht hatten, das Ganze mit einer scharfkantigen Scherbe in einem fahrenden Auto zu probieren. Ich schnitt mehr in mein Handgelenk und meine Finger als in die Stricke, mit denen ich gefesselt war. Reines Glück, daß ich mir nicht versehentlich die Pulsadern durchgeschnitten habe.
Bei einem besonders tiefen Schnitt muß ich wohl das Gesicht verzogen haben, jedenfalls bemerkte unser langhaariger Freund, daß irgendetwas im Gange war. Ich konnte ihm allerdings weis machen, daß es nur mein rechter Arm sei. (Die Hollow Men hatten die Schiene freundlicherweise abgemacht, damit sie mich besser fesseln konnten.)
Schließlich gelang es mir, mich zu befreien. Ich packte die Scherbe fester, beugte mich vor und hielt sie dem Langhaarigen an den Hals. Er versuchte erst gar nicht, ein Held zu sein, sondern hielt den Wagen an und ließ sich brav von mir entwaffnen. Ich gab Claire die Scherbe und sagte ihr, sie solle sich losschneiden, während ich den Biker mit seiner eigenen Waffe bedrohte. Sie zickte ein bißchen herum, warum ich das nicht machen könnte (na klar, ich hätte den Biker ja auch sich selber überlassen können. Der hätte uns schon nichts getan. Wollte ja nur spielen oder so. Manchmal raubt sie mir den letzten Nerv, und das war eine von diesen Gelegenheiten).
Danach holte sie Kim aus dem Kofferraum, und wir fesselten den Langhaarigen und sperrten ihn dort ein. Armer Kerl, das war keine gute Idee, zumindest für ihn nicht. Aber dazu später mehr.

Während Claire, Kim und ich mit unserer Flucht beschäftigt waren, kamen Sylvia und Brian aus Craig zurück. Vor meinem verfehlten Schleichversuch hatte ich Don angerufen und ihm erzählt, vor welcher Hütte Kims Wagen geparkt war, daher konnte er den beiden unseren letzten bekannten Standort mitteilen. Telefonisch erreichbar waren wir nicht, da ich diesmal zumindest den Klingelton ausgestellt hatte.
Als Brian und Sylvia bei der Rosen-Dings-Hütte ankamen, war niemand mehr dort, aber auf dem Boden des Schlafzimmers fanden sie Blutspuren und die Scherben des Spiegels (ich nehme an, daß sich Kim auch geschnitten hat und daß das Blut von ihm stammte). Sie gerieten ein bißchen in Panik, und als sie draußen Motorengeräusche hörten, rannten sie sofort zu ihrem Wagen.
Es waren zwei Biker, die bei der Hütte auftauchten. Sylvia trat das Gaspedal durch und fuhr sie beide über den Haufen, dann hielt sie an - während sie noch auf dem Bein eines Typen stand. Brian sprang wild brüllend aus dem Wagen und rannte auf den anderen zu, der nicht ganz wußte, was los war, sich umdrehte und erst einmal floh. Brian machte sich sofort an die Verfolgung. Ganz klar gedacht haben kann er nicht, denn der Hollow Man hatte ein Gewehr in der Hand, und er selber war nur mit einem Wagenheber bewaffnet. Aber er hatte Glück: Als dem Biker irgendwann auffiel, wie die Situation tatsächlich aussah, und sich umdrehte, um auf Brian zu schießen, verfehlte er ihn um eine Handbreit. Er war stehen geblieben, um zu schießen, und Brian kam nah genug an ihn heran, um ihm den Wagenheber quer übers Gesicht zu dreschen. Der Hollow Man ging zu Boden und blieb erstmal liegen.

Mittlerweile war auch die Polizei, von Don alarmiert, eingetroffen - zwei ganze Polizisten (immerhin). Einer von ihnen übernahm den von Brian eingefangenen Biker, konnte aber auch nichts näheres über unseren Aufenthaltsort herausfinden. Schließlich versuchten sie mit irgendeiner archaischen Anlage, unsere Handys zu verfolgen.

Claire hatte sich in der Zwischenzeit hinter das Steuer des Wagens geklemmt, Kim saß neben ihr, und ich war hinten, um auf den Biker im Kofferraum aufzupassen. Wir wollten zur Polizei fahren und ihnen unseren Gefangenen übergeben. Da ich mir nicht vorstellen konnte, daß die Behörden es gut finden würden, wenn ich schon wieder mit einer Waffe durch die Gegend fuhr, bat ich Kim, das Teil ins Handschuhfach zu packen.
Nur wenige Minuten später hörten wir die Motorräder hinter uns. Claire geriet in Panik, trat das Gaspedal durch und jagte den Wagen in Richtung Tal. Leider geriet sie bei einer Kurve ins Schleudern und krachte frontal gegen die Leitplanke. Das war der erste Autounfall des Tages. Keine Angst, es kommen noch mehr.
Kim und Claire vorne hatten das Bewußtsein verloren, mir ging es relativ gut. Durch Claires wilde Fahrweise waren die Biker immer noch ein gutes Stück hinter uns, also sprang ich aus dem Wagen, ging nach vorne, schob Claire auf Kim drauf und setzte mich selber hinters Steuer. Wir hatten Glück: Die Karre fuhr noch, und bevor die Biker bei uns ankamen, war ich schon wieder auf der Straße und raste auf das Tal zu.
Schade, daß ich auch nicht besser Auto fahren kann als Claire: In einer Kurve übersteuerte ich, und weil meine blutigen Finger am Lenkrad festklebten, gelang es mir auch nicht, rechtzeitig wieder auf die Straße zu kommen (ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewußt, wie klebrig Blut sein kann; aber es ist ein toller Ersatz, wenn man mal keinen Klebstoff dabei hat). Wir krachten mit der linken Seite voll gegen einen Baum, ich schlug mit dem Kopf gegen das Lenkrad, und diesmal gingen auch bei mir die Lichter aus.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich das Gesicht eines Bikers über mir. Naja, Gesicht ist vielleicht das falsche Wort: Hauptsächlich sah ich lange, wirre Haare und einen buschigen Bart, aus denen so etwas wie eine Nase ragte. Zwei kleine Äuglein, von den Augenbrauen fast verdeckt, blinzelten mich erstaunt an. Im ersten Moment dachte ich, es sei ein Bär, aber die riechen im Allgemeinen nicht nach Bier.
Ich dachte, jetzt hätten sie uns wieder, griff hastig nach meinem Handy und drückte wild einige der Knöpfe. Schließlich meldete sich Brian, aber bevor ich ihm sagen konnte, wo wir waren (wenn ich es denn gewußt hätte), nahm mir das Bartgestrüpp mein Telefon weg und unterbrach die Verbindung. Ich fing unklugerweise an, ihn zu beschimpfen, und er schlug mir mit einer behaarten Hand ins Gesicht. Da wurde es erstmal wieder dunkel.

Brian, der ein schlauer Bursche ist, wählte das Handy sofort wieder an, und es klingelte tatsächlich - beim Knöpfchendrücken hatte ich den Rufton wohl wieder eingestellt. Verwirrt nahm der Hollow Man den Anruf an, und Brian war geistesgegenwärtig genug, ihm zu erzählen, er wäre von der Bankberatung in Islington und würde gerne Mr. Wade sprechen. Der Biker gab das Handy daraufhin Kim, der gerade wieder zu Bewußtsein gekommen war. Ich weiß nicht, warum er das tat - wahrscheinlich war er geistig ziemlich unterbelichtet. Irgendwann hatte er aber genug von dem Gespräch, nahm Kim das Telefon aus der Hand und warf es mit großem Schwung weg.
Inzwischen war ich wieder bei zu mir gekommen. Ich hatte rasende Kopfschmerzen und war nicht ganz klar, aber ich dachte, es wäre gut, wenn ich die Waffe wieder hätte. Also griff ich rüber zum Handschuhfach, öffnete es und nahm die Waffe heraus - alles ganz ruhig, ohne Hektik oder schnelle Bewegungen. Das muß den Biker getäuscht haben, denn er machte keinerlei Anstalten, mich aufzuhalten.

Kaum hielt ich die Waffe in der Hand, verschwand der traumähnliche Schleier und ich war wieder klar. Ich richtete die Pistole auf Bartgestrüpp und drängte ihn zurück, damit ich aussteigen konnte. Erst da fiel mir auf, daß er nicht allein unterwegs war: Hinter ihm stand noch ein zweiter Biker-Typ mit sehr hellblonden, dünnen Haaren. Er hatte auch eine Waffe, die er sofort auf mich richtete. Im Schach nennt man so eine Situation Patt. Ich wollte nicht, daß er mich erschießt, er wollte nicht, daß ich seinen Kumpel erschieße, also standen wir beide da und versuchten, einen Kompromiß zu finden, was sich aber als schwierig erwies.
Immerhin war auch Claire wieder bei Bewußtsein, und sie und Kim kletterten aus dem Wagen. Ich sagte zu den beiden, sie sollten verschwinden, ich hätte die Situation schon unter Kontrolle, sie sollten nur sehen, daß sie wegkämen, und gab Kim sein Handy, das ich ja noch bei mir trug. Erstaunlicherweise taten die beiden, was ich sagte, und da Blondie den Lauf seiner Waffe nicht von mir wegbewegen wollte, schafften sie es, außer Sichtweite zu kommen.
In diesem Moment dachte ich wirklich, ich sei erledigt. Ich war allein mit diesen beiden Typen, die mich umbringen wollten, und ich dachte, das war´s dann. Hier komme ich niemals lebendig wieder raus. Wenigstens sind Claire und Kim davongekommen.

Ich hatte meine Rechnung allerdings ohne Claire gemacht. Nachdem sie ein paar Meter gerannt ist, ist ihr aufgefallen, daß ich ja nicht dabei war, und sie ist prompt wieder umgekehrt, um mir zu helfen. Kim, der das für keine gute Idee hielt, und der wußte, daß sie nur als Geisel gegen mich verwendet werden würde, versuchte, sie aufzuhalten, allerdings nur mit beschränktem Erfolg. Immerhin konnte ich deutlich hören, wie die beiden sich weiter unten am Hang stritten.
Das war allerdings absolut nicht Teil des Plans, der mir ganz vage vor meinem inneren Auge vorschwebte. Die beiden konnte ich da gar nicht brauchen. Also schlug ich den beiden Typen vor, daß sie mich zu ihrem Anführer bringen sollten. Ich stieg hinter Bartgestrüpp aufs Motorrad und behielt meine Pistole an seinem Kopf, während Blondie auf die zweite Maschine stieg und hinter uns herfuhr - seine Waffe war die ganze Zeit auf meinen Rücken gerichtet.
Wir waren also schon ein gutes Stück entfernt, als Kim und Claire wieder beim Auto ankamen. Claire beschloß natürlich, hinter uns herzufahren, und wie durch ein Wunder fuhr der Wagen immer noch! (Wenn ich die Automarke noch wüßte, würde ich sie sofort weiterempfehlen, aber leider habe ich nicht drauf geachtet.)

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #13 am: 17.05.2005 | 15:31 »
Wie schon gesagt, ich hatte eine Art Plan im Kopf, als wir losfuhren, und an diesem Tag muß irgendein guter Geist seine Hand über mich gehalten haben, denn schon nach kurzer Zeit sah ich genau das, was ich brauchte: Einen einigermaßen sanften Abhang ohne viel Unterholz. Wir fuhren ziemlich langsam, und als wir neben dem Abhang waren, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sprang vom Motorrad. Ich kam über die Leitplanke, der Schuß der Blonden fegte über mich hinweg, und dann kugelte ich den Hang hinunter.
Bei einem großen Stein kam ich zu einem Halt. Das war auch gut so, denn der Abhang wurde dahinter bedeutend steiler - wenn ich da hinunter gefallen wäre, hätte ich meine Knochen einzeln einsammeln können. So hatte ich nur überall blaue Flecken. Was mein rechter Arm zu der Sache sagte, will ich lieber nicht berichten. Begeistert war er jedenfalls nicht. Aber ich hatte meine Waffe noch, und der große Stein schien eine gute Deckung zu sein. Außerdem konnten mich die beiden oben erstmal nicht sehen. Ich dachte, im Wald hätte ich gute Chancen, ihnen auch ohne Pferd zu entkommen.

Kim und Claire waren mittlerweile wieder mit voller Geschwindigkeit unterwegs, und gerade, als die beiden Typen von ihren Motorrädern steigen wollten, kamen sie um die Ecke geschossen. Kim (oder Claire, ich weiß nicht, wer gerade fuhr) versuchte, Bartgestrüpp und Blondie umzufahren, aber die beiden konnten ausweichen und fingen nun ihrerseits an, auf den Wagen zu schießen. Glücklicherweise hielt Kim nicht an, sondern fuhr einfach weiter, bis er außerhalb der Reichweite der beiden war. Dann fiel ihm ein, daß er ja versuchen könnte, Hilfe herbeizurufen. Also rief er Brian an, der natürlich erleichert war, wieder von uns zu hören. Leider wußte Kim auch nicht so ganz, wo er sich befand. Erst nachdem Claire mit ihrem Handy ein Photo von der Umgebung gemacht und verschickt hatte, erkannte einer der Polizisten die Straße. Brian und Sylvia brachen sofort mit den zwei Cops auf, um mir zu helfen. Kim hatte ihnen erzählt, die Biker würden mich umbringen.

Das haben sie auch versucht. Nachdem der Wagen weg war, kamen die beiden Hollow Men aus ihrer Deckung heraus und fingen an, mich von oben zu beschießen. Ich wußte, daß ich mich nicht ewig hinter einem Stein verkriechen konnte, und rannte unten am Hang von Baum zu Baum. Die beiden folgten mir oben an der Straße und gaben hin und wieder einen Schuß auf mich ab. Einer traf, aber es war nur ein Streifschuß an meinem linken Bein. Trotzdem wurde ich langsamer und überlegte, ob ich nicht doch versuchen sollte, die Schlucht hinunter zu klettern.

Claire und Kim konnten das Warten in der Zwischenzeit nicht ertragen und fuhren wieder los, um mir zu helfen. Als Claire die beiden Biker ein Stück unterhalb der Straße sah, lenkte sie den Wagen in den Wald hinein und fuhr in voller Schußfahrt auf die beiden zu. Es gelang ihr, einen zu streifen, bevor sie den Wagen wieder - und diesmal zum endgültig letzten Mal - gegen einen Baum fuhr. Der andere Biker - Bartgestrüpp - konnte dem Auto zwar ausweichen, verlor dabei aber das Gleichgewicht und stürzte den Hang hinunter, der hier nicht mehr ganz so sanft war. Ich sah ihn, wie er beinahe in die Schlucht stürzte, sich aber im letzten Moment an einem Stück vorstehenden Fels festklammern konnte. Ich ging zu der Stelle, an der er hing. Er schien Angst vor mir zu haben, aber er sagte kein Wort. Ich nahm meine Waffe in die rechte Hand und half ihm mit der linken hoch. Danach schlug ich ihn nieder, nicht besonders kräftig, aber ich schätze, er hatte erstmal genug von diesem Tag.

Als ich zu dem kaputten Auto kam, kam Kim gerade wieder zu sich, Claire war noch ohnmächtig. Ich zog sie aus dem Wagen - sie war gefahren, jetzt weiß ich es wieder, sie saß auf dem Fahrersitz. Sie war noch am Leben und schien nicht schwerwiegend verletzt zu sein, genausowenig wie Kim, der nach ihr aus dem Wagen kletterte.
Wir konnten uns nicht länger auszuruhen, denn oben am Hang hörten wir schon wieder Motorräder heranfahren. Zeit, zu verschwinden. Claire war noch nicht wieder bei Bewußtsein, also mußte ich sie tragen. Es gelang uns, abzuhauen, bevor die neu angekommenen Hollow Men uns bemerkten. Offenbar gab es unter ihnen niemanden, der Spuren lesen konnte, sonst hätten sie uns wieder gefunden und eingefangen - sonderlich schnell waren wir nämlich nicht.

In der Zwischenzeit waren Brian, Sylvia und die beiden Polizisten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf dem Weg zu uns. An der Stelle, an der ich den Wagen gegen den Baum gesetzt hatte, hielten sie kurz an, um sich umzusehen. Das war auch gut so, sonst hätten sie die zehn Motorräder, die ihnen entgegenkamen, nicht gehört. So beschlossen sie, daß sie es zu viert nicht mit zehn Bikern aufnehmen können, und fuhren ein Stück zurück, um sich auf einem Hohlweg vor den Hollow Men zu verstecken. Brian versuchte, Kim anzurufen, aber bei dem letzten Autounfall war dessen Handy kaputtgegangen, und er war nicht mehr erreichbar.
Sylvia und Brian vermuteten daraufhin das Schlimmste, und als sie endlich an dem Hang ankamen und den kaputten Wagen fanden, dachten sie, wir wären alle tot. Die Polizisten waren derselben Meinung, und sie verbrachten den Rest des Tages damit, nach unseren Leichen zu suchen.

Erst am Abend kamen Kim, Claire und ich aus dem Wald heraus und fanden eine Telefonzelle. Claire war wieder bei Bewußtsein und mußte selber laufen - nachdem das Adrenalin bei mir nachgelassen hatte, konnte ich mich selber kaum auf den Beinen halten, geschweige denn irgendjemanden tragen. Wir sahen ziemlich kaputt aus, als wir aus dem Wald kamen. Kim war weiß wie ein Laken und zitterte, Claire heulte leise vor sich hin, und ich sah dauernd kleine schwarze Sternchen vor meinen Augen herumtanzen.
Wir riefen erst einen Krankenwagen, dann telefonierten wir mit Brian und Don und versicherten ihnen, daß wir am Leben und nicht allzu schwer verletzt waren. Wir trafen uns dann später im Krankenhaus, wo wir unsere Geschichten austauschten. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Wenn nicht, dann nehmt´s mir bitte nicht übel, aber ich hatte an diesem Abend überall kleine Löcher.
Die Polizei hat uns auch noch vernommen. Das war der Moment, wo mir der Kerl im Kofferraum wieder eingefallen ist. Leider zu spät: Die Polizei hatte ihn schon gefunden. Er war tot. Noch einer also. Er hatte mir erzählt, daß die Hollow Men für jeden von ihnen, den ich umgebracht habe, einen meiner Freunde oder Verwandten töten würden. Oh, und mich natürlich auch. Trotzdem tat mir der Kerl irgendwie leid - gefesselt in einem Kofferraum herumgeschleudert zu werden, bis einem der Schädel oder das Genick bricht, kann keine schöne Art zu sterben sein.

Don und mein Dad, die auch zum Krankenhaus gekommen waren, wollten die Verhandlung ein paar Tage aufschieben, weil Kim so fertig war, aber letzten Endes haben wir uns dann entschieden, das Ganze lieber hinter uns zu bringen. Also wurde nur der Beginn der nächsten Sitzung vom frühen Morgen auf den nächsten Nachmittag verschoben.

Kim und ich hatten daher den ganzen Morgen Zeit, Blödsinn zu veranstalten. Brian und Sylvia wollten vor der Verhandlung noch auf den Schießstand, und Kim und ich beschlossen, uns auf die Suche nach dem Mietpferd zu machen, das nicht von alleine zurückgekommen war. Unterhalb der Rosen-Hütte fanden wir es dann auch: Sylvia hatte es am Tag vorher an einen Baum gebunden (aber leider vergessen, Bescheid zu sagen), warum auch immer. Glücklicherweise hat es kein Bär gefressen. Jedenfalls übergab ich Kim die Schlüssel für das Auto (Dons Mietwagen, den wir uns kurzerhand ausgeliehen hatten), und schwang mich selbst auf das Pferd, das auch ganz friedlich wirkte.
Ohne größere Probleme kamen wir wieder nach Steamboat Springs zurück, aber kurz vor dem Hotel übersah Kim ein Vorfahrtsschild und fuhr mit Dons schönem Auto in einen brandneuen Porsche hinein. Dann wurde es ein bißchen absurd: Don tauchte auf, um die zeternde Tussi, der der Porsche gehörte, zu beruhigen, ich mußte mich halb auf der Straße in den Anzug schwingen, und das Pferd konnte ich vor Verhandlungsbeginn auch nicht zum Mietstall bringen. Also mußte es eben mit.

Die Zeitungen hatten über die Ereignisse des Vortages natürlich mit Genuss berichtet. Ich hatte jetzt einen neuen Spitznamen: Lone Ranger Jackson. Na klar, Jungs. Als wäre ich allein da wieder rausgekommen (streng genommen wäre ich allein auch gar nicht reingeraten, aber lassen wir das). Entsprechend hatte sich eine noch größere Menge an “Fans” angesammelt, die mich und mein Pferd bestaunen wollten.
Ich konnte den Gaul schließlich einem Cop in die Hand drücken, der nicht sonderlich begeistert darüber wirkte, und wäre fast noch wirklich zu spät gekommen.
An diesem Tag durften Brian, Kim und Sylvia aussagen. Sie haben es alle geschafft, sich sinnvoll zu äußern und  weder zu verplappern noch in allzu scharfen Sarkasmus zu verfallen. Ich hatte den Eindruck, daß der Staatsanwalt mit dem Prozeßverlauf nicht allzu zufrieden war.

Nach der Verhandlung passierte ein kleines Wunder: Claire kapierte irgendwie, daß ich sie wirklich nicht in meiner Nähe haben wollte, und rauschte beleidigt nach Chicago ab. Ich hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht sehr nett zu ihr war, aber hauptsächlich war ich erleichtert.

Den Abend verbrachten wir zu viert in Kims Zimmer und dichteten ein bißchen an Alanis Morissettes Lied “Ironic” herum. Schließlich war es ja ironisch, daß ein Dutzend Hollow Men nicht mal auf drei Gefangene aufpassen konnte. Und daß einer von ihnen vor Brian Reißaus genommen hat, obwohl er eine Schußwaffe hatte und Brian nicht, ist auch eher peinlich.
Außerdem gab es noch ein paar amüsante Specials über mich im Fernsehen. Ich weiß nicht warum, aber an diesem Abend war ich in Hochstimmung. Wahrscheinlich war es nur die Erschöpfung. Man kann nicht immer Angst haben.
Beim Bierholen fielen Kim und ich dann über eine Horde meiner “Fans”. Ein Kid war besonders nervig - vor allem fand ich seinen Gesichtsausdruck, als ich ihm sagte, er solle gehen und seine Hausaufgaben machen, ziemlich beunruhigend. Ich hoffe, ich konnte dem Kleinen klarmachen, daß es nicht in Ordnung ist, Leute einfach zu erschießen, auch keine Hollow Men.
Außerdem wollten diese Irren alle Autogramme von mir. Ich hab mich natürlich geweigert, aber Kim, unser kleiner Rockstar, hat ein paar verteilt. Und das, obwohl er vorher so sehr auf Anonymität gepocht hat.

Der nächste Verhandlungstag brachte keine sensationellen neuen Ergebnisse. Der Staatsanwalt schien auf jemanden zu warten und wurde immer nervöser. Schließlich beantragte er eine Verschiebung der Plädoyers, die schon am nächsten Tag gehalten werden sollten. Der Richter weigerte sich - immerhin war es Windecker gewesen, der auf einen schnellen Prozeßverlauf gedrängt hatte.
Im Hotel konnten wir dann Kims erstes Live-Video bewundern: Er hatte sich auf den Balkon gestellt und der Presse und ein paar Fans unsere “Ironic”-Variante vorgespielt.
Der Abend verging sehr ruhig. Ich war ziemlich nervös und unruhig. Am liebsten wäre ich nach draußen gegangen und ein bißchen herumgelaufen, aber ich sah ja ein, daß das keine sonderlich gute Idee war. Trotzdem fühlte ich mich in dem Hotelzimmer eingesperrt.

Irgendwie verging auch diese Nacht, und der nächste Verhandlungstermin war schon früh am Morgen angesetzt. Brian, Sylvia und Kim kamen mit mir zum Gerichtsgebäude, durften aber natürlich nicht mit hinein. Sie wollten bis zur Urteilsverkündung da bleiben (falls sie nicht vorher zur Arbeit hätten gehen müssen, natürlich).
Das Plädoyer des Staatsanwalt lief darauf hinaus, daß ich schon in Chicago eine Fehde mit den Hollow Men gehabt und Joseph Napier kaltblütig und mit Vorsatz in seiner Zelle abgeknallt hätte. Überzeugende Argumente dafür hatte er nicht.
Dann war Don dran. Naja, besonders brilliant fand ich seine Ausführungen darüber, daß das alles ein Unfall gewesen sei, ja nicht, aber immerhin dachte er daran, den Geschworen einzuimpfen, daß sie jenseits aller vernünftigen Zweifel von meinen mörderischen Absichten überzeugt sein müßten, wenn sie mich schuldig sprechen wollten.
Ich weiß nicht, was jetzt am ehesten gewirkt hat. Die Geschworenen brauchten relativ lange - eine knappe Stunde -, um zu ihren Urteil zu kommen: Nicht schuldig. Ich mußte mich erstmal hinsetzen. An die nächsten paar Minuten kann ich mich nur vage erinnern - Umarmungen, Glückwünsche. Kim, Sylvia und Brian waren auf einmal da und strahlten mich an. Es war vorbei.

Wir verließen das Gerichtsgebäude durch den Hinterausgang. Kein Grund, jetzt noch einen Angriff der Hollow Men zu riskieren.
Wir hatten nicht vor, noch länger in Steamboat Springs zu bleiben. Noch am gleichen Tag brachen wir wieder auf in Richtung Westen. Brian, Sylvia und Kim hatten es auf einmal furchtbar eilig, also fuhren wir wieder auf den Highway und waren die ganze Nacht hindurch unterwegs. Ich habe nicht den Eindruck, daß das so eine gute Idee ist. Seitdem wir beschlossen haben, den Ute Sleeping Mountain nicht oder später zu besuchen, habe ich ein blödes Gefühl im Magen. Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht schneller zu unserem Ziel, aber wenn wir den falschen Weg nehmen, hilft uns das gar nichts. Die anderen haben Angst, daß die Hollow Men uns finden, wenn wir zu langsam unterwegs sind, aber ich verstehe nicht, warum. Die Biker sind auf ihren Motorrädern viel schneller unterwegs als wir, und früher oder später werden wir wieder mit ihnen aneinander geraten. Wer weiß, welche Faktoren das beschleunigen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, das wir bei unserer Pilgerreise gerade einen Schrein ausgelassen haben. Und was heißt das? Ich weiß es nicht. Aber wenn ich darüber nachdenke, kommt mir jedesmal eine Ausdruck aus einem Buch in den Sinn, das ich irgendwann mal gelesen habe: “Catastrophe, my friend.”

Entschuldigung. Ich neige dazu, dramatisch zu werden. Aber das komische Gefühl ist real.
Seit Steamboat Springs folgen uns irgendwelche Leute, die sehr geschniegelt aussehen, in einem unauffälligen Auto. Wahrscheinlich hat das FBI endlich seinen Hintern hochgekriegt. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie beruhigt mich das kein bißchen.

Mir ist noch etwas merkwürdiges aufgefallen. Ich weiß gar nicht, wie ich es hatte übersehen können, aber tatsächlich brauchte es eine Frage meines Vaters, um es mir bewußt zu machen: Ich habe lange Haare. Das mag nicht sonderlich verwunderlich erscheinen, aber als wir vor sechs oder sieben Wochen aus Chicago aufgebrochen sind, waren sie noch kurz (ich war in der Woche vorher noch beim Friseur). Bevor wir in das Krankenhaus in Tucson eingeliefert worden sind, waren sie immer noch kurz - gut, ein bißchen wirr für meine Verhältnisse, aber eben kurz. Danach waren sie etwa schulterlang, und mittlerweile reichen sie mir bis über die Schultern. Ich habe keine Ahnung, wie die so lang geworden sind.

Kurz nachdem mein Vater und Don angekommen waren, rief mich mein Großvater an. Er sagte mir, ich sollte die Haare nicht abschneiden. Woher er wußte, daß sie lang waren? Keine Ahnung. Mein Großvater weiß Sachen. Das ist jetzt kein Aberglaube, das ist einfach so. Jedenfalls war ich etwas überrumpelt und habe ihm versprochen, sie dran zu lassen.
Mein Vater und Don waren natürlich nicht so begeistert. Steamboat Springs ist ein Hinterwäldler-Kaff, wo Männer mit langen Haaren sicher nicht so gerne gesehen werden. Sie hatten Angst, daß die Geschworenen Anstoß daran nehmen könnten. Außerdem wollten sie die Jury auch nicht gerade mit der Nase darauf stoßen, daß ich kein reinrassiger Weißer bin. Ich sehe zwar eigentlich nicht sehr indianisch aus, aber mit den langen Haaren fällt es schon auf. Vielleicht wollte mein Großvater ja deswegen, daß ich sie dranlasse. Vielleicht will ich sie ja deswegen dranlassen.

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #14 am: 6.01.2006 | 20:26 »
Hallo... das hat ja lange gedauert, aber ich hatte vergessen, wo ich genau war in der Geschichte... jetzt geht´s mal weiter:

So, da bin ich wieder. Nicht etwa in Los Angeles, aber das hat ja auch niemand erwartet, oder? Statt dessen waren wir in:

Salina - La Familia

Wir sind also von Steamboat Springs aus losgefahren, und schon in der ersten Nacht  (Kim fuhr, und alle anderen schliefen) verreckte uns das Auto. Der Keilriemen war gerissen und hatte noch ein paar andere Teile im Getriebe beschädigt. Danach folgte das übliche Spiel: Sylvia rief bei AAA an, ein freundlicher Mitarbeiter kam, sah und schüttelte den Kopf. Mit dem Versprechen, er würde für die Reparatur nur ein bis zwei Tage brauchen, schleppte er uns dann in die nächste Kleinstadt ab. Das war Salina.
Wir mieteten uns - mal wieder - im örtlichen Motel ein und machten uns am nächsten Tag daran, den Ort zu erkunden. Es gab ein kleines Heimatkundemuseum, in dem wir ein paar Dinge über die Geschichte von Salina erfuhren: Gegründet wurde es Mitte des 19.Jhd. (von den "ersten Siedlern in dieser Gegend" - die Ute, die da vorher gelebt hatten, zählten wahrscheinlich nicht), später aber im Zuge von Black Hawk´s War wieder verlassen. Nachdem die Ute endgültig besiegt und auf Reservate gebracht worden waren, kamen die Siedler langsam zurück. In den Bergen um die Stadt herum gibt es Salz- und Kohlevorkommen, und in den 40ern wurde das gesamte Tal überschwemmt. Nicht sehr interessant. Nur eine Sache: Auf einem Foto von ein paar alten Ute-Kriegern fiel mir eine Halskette mit einem großen Tigerauge auf, die einer der Männer trug. Ich bin mir sicher, daß ich dieses Schmuckstück schon mal irgendwo gesehen habe, aber ich kann mich nicht erinnern, wo und wann das war. Vielleicht auf einem größeren Powwow?
Zunächst erschien mir die Kette nicht sonderlich wichtig. Viel interessanter waren unsere Geldprobleme - so langsam gehen uns die Reserven aus. Klar, Sylvia und Brian haben in Steamboat Springs gearbeitet, und ich habe eine meiner Kurzgeschichten verkauft ((!), aber die ständigen Motels und Mahlzeiten in irgendwelchen Restaurants fressen das Geld rasend schnell auf. Und unsere Möglichkeiten, nebenher an Kohle zu kommen, sind reichlich beschränkt.
Na gut, das konnten wir in dem Moment nicht ändern - Sylvia und Brian konnten für einen oder zwei Tage keinen Job finden (Kim hat es, wie üblich, gar nicht erst versucht). Also beschäftigten wir uns so gut wir konnten: Brian und Sylvia gingen in die Bibliothek, Kim hing rum und spielte auf seiner Gitarre, und ich wanderte auf der Suche nach Inspiration und ein bißchen Ruhe in die Wälder um Salina.
In der Bücherei fand Sylvia interessanterweise ein Buch, auf dessen Titelbild die Kette abgebildet ist, die mir schon im Museum aufgefallen war. Als sie damit zurück zum Motel lief, fiel ihr auf, daß sie von einem Indiander verfolgt wurde.

Apropos verfolgt: Die beiden Jungs vom FBI tauchten natürlich auch in Salina auf. Mieteten sich sogar im selben Motel ein. Sylvia hat ja überlegt, sie zum Grillen einzuladen, aber ich hielt das für keine gute Idee. Wenn die beiden sich von uns verarscht fühlen, können sie uns jede Menge Ärger machen, und das hat uns ja dann grade noch gefehlt. Wenn die beiden Typen überhaupt vom FBI waren...

Am nächsten Tag war der Wagen noch nicht fertig ("Ich warte noch auf ein Ersatzteil, aber es muß morgen oder übermorgen kommen...", wie üblich). Dafür sah Sylvia neben dem FBI-Auto vier Harleys mit Illinois-Kennzeichen stehen. Und da waren sie wieder, unsere freundlichen Biker aus der Nachbarschaft. Man könnte ja fast meinen, daß sie uns verfolgen.
Es gab eine kurze Panik, hauptsächlich von Dr. Sylvia verbreitet, aber eigentlich war niemand überrascht. Weg konnten wir ja ohnehin nicht, solange das Auto noch in der Werkstatt war. Als Kim zur Bibliothek wollte, bin ich trotzdem mal lieber mitgekommen - man kann ja nie wissen. Tatsächlich kamen wir nicht bis zur Bücherei. Diesmal waren die Hollow Men allerdings nicht schuld, sondern eher die Reporter.

Unterwegs sprach mich ein Indianer an (Sylvias Verfolger, übrigens) - er hatte diesen dämlichen "Lone Ranger Jackson"-Artikel in der Zeitung gelesen und wollte mich jetzt um Hilfe bitten. Offenbar hat er uns mit dem A-Team verwechselt - naja, der Witz ist auch schon älter. Sylvia ist Hannibal (wir müssen ihr nur noch angewöhnen, Zigarren zu rauchen und "Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert" zu sagen), Brian ist Face (naja, er ist blond), Kim ist Murdock (kein Kommentar () und ich muß dann wohl B.A. sein. Vielleicht sollte ich mir ein paar Goldketten kaufen.

Entschuldigung, aber ich kam mir tatsächlich ziemlich seltsam vor. "Hilf mir, du bist doch der Lone Ranger." Ich dachte echt, der verwechselt mich jetzt mit einem Superhelden oder so.
Jedenfalls wollte er auf offener Straße nicht sagen, worum es eigentlich ging. Wir verabredeten, uns später bei seinem Haus zu treffen - ich wollte Sylvia und Brian gern dabeihaben (hätte ja eine Falle sein können).

Zu viert kamen wir dann bei William (so heißt der Indianer) an. Er erzählte uns, daß seiner Familie vor ungefähr zehn Jahren eine heilige Halskette gestohlen worden sei, die früher einmal Red Eagle, einem Kriegshäuptling der Ute, gehört hatte. Niemand war sonderlich überrascht, daß es sich um die Kette mit dem Tigerauge handelte.
Jedenfalls befand sich die Kette im Augenblick im Besitz eines reichen Weißen, der in der Nähe von Salina lebte. William und sein Bruder Edgar hatten schon versucht, mit diesem Charles Adkinson zu sprechen, allerdings erfolglos. Edgar wurde sogar von Adkinsons Bodyguards zusammengeschlagen.
Ich war mir erst nicht ganz sicher, was William eigentlich von mir wollte. Dachte er vielleicht, daß ich mir nur meine Superheldenuniform anziehen muß, um da reinzufliegen und ihm seine heilige Kette wiederzuholen? Glücklicherweise wollte er eigentlich nur, daß ich Adkinson noch einmal um die Rückgabe der Kette bitte (sonst hätte ich ihn auch enttäuschen müssen). Warum er glaubte, daß ich da Erfolg haben könnte, war mir nicht ganz klar, aber ich versprach ihm, es zu versuchen.

Ganz ungefährlich schien die Sache nicht zu sein: Adkinson hatte sein Geld angeblich durch Verwicklungen ins organisierte Verbrechen verdient. Außerdem hatte William schon öfter Harleys vor seinem Anwesen gesehen. Möglicherweise hatte der Typ also Kontakte zu den Hollow Men. Aber ich dachte mir, er würde schon nichts versuchen, solange wir ganz offen, vor Zeugen, bei ihm auftauchen. Ja, ich bin ein naives Schäfchen, ich weiß. Tut mir leid, ich kenn mich mit der Mafia eben nicht aus.

Bevor wir uns auf den Weg zu Adkinson machten, warnten wir William noch - wenn es wieder Probleme mit den Hollow Men geben würde, wäre auch seine Familie in Gefahr. Er beschloß, seine Frau und seine zwei kleinen Kinder erstmal zu seinem Bruder auf die Ranch außerhalb der Stadt zu schicken.
Aber kaum waren die drei aus dem Haus, hörten wir Motorräder heranfahren. Wie angestochen rannten wir auf die Straße, wo vier Hollow Men gerade auf Williams Frau und die zwei Kinder zufuhren. Sylvia schrie: "Hierher, ihr Schweine!", und die Rocker fuhren an den drei Indianern vorbei, auf uns zu.
Wir hatten echtes Glück: Die Jungs waren nicht wegen uns in Salina. Die erkannten uns nicht mal. Naja, Zeitung zu lesen ist vielleicht nicht gerade ein typisches Biker-Hobby. Nachdem wir uns gegenseitig angestresst hatten, zogen wir uns zurück, die setzten nicht nach, und alles war (erstmal) in Ordnung.

Am späten Nachmittag brachen wir auf, um Mr. Adkinson zu besuchen. William - der ein funktionierendes Auto hatte - fuhr uns hin.
An der Tür nahm uns ein gorillaförmiger Angestellter in Empfang. Nachdem ich meinen Namen genannt hatte, ließ er uns tatsächlich in die Villa rein. Klar, das machte mich mißtrauisch, aber nicht übermäßig.
Wir durften eine Weile auf Adkinson warten. Als er schließlich reinkam, wartete eine große Überraschung auf uns: Der Typ, der da reinkam, war kein anderer als Brians Onkel Charly. Alias Charles Farrington, alias Charles Adkinson.
Brian war ziemlich erstaunt, Onkel Charly auch. Die beiden begrüßten sich erstmal eine Weile, bevor Brian uns dann auch vorstellte. Mir war die ganze Sache ziemlich suspekt, aber Brian schien sein ganzes Mißtrauen auf einen Schlag vergessen zu haben. Sein Onkel konnte schließlich kein Mafiosi sein - der kam doch immer an Sylvester zum Feiern.
Adkinson (oder Farrington) hieß Sylvia, Kim und mich ebenfalls willkommen. Als wir ihn nach der Kette fragte, erklärte er sich tatsächlich bereit, sie den Utes wieder zurückzugeben. Allerdings wollte er nicht, daß ich gehe, um sie zu William zu bringen. Wohlgemerkt, das bezog sich nur auf mich - er hatte nichts dagegen, Sylvia und Kim mit ihr weg zu lassen. Die beiden sind dann auch los, und ich hoffte in dem Moment wirklich, sie würden nicht zurückkommen. Farringtons Bereitschaft, mich gegen meinen Willen festzuhalten, verhieß nichts gutes.
Nicht, daß Brian irgendetwas davon merkte. Nein, das war nur sein lieber alter Onkel, der eben eine sehr altmodische Vorstellung von Gastfreundschaft hatte. Der würde mir doch nichts tun.
Also verbrachten wir die nächste Stunde damit, Farringtons Privatsammlung von indianischen Kultgegenständen anzusehen. Es waren einige wirklich schöne Stücke dabei, die ganz sicher nicht in die Hände eines einzelnen Mannes gehören, sondern eigentlich in den Besitz des Stammes, dem sie heilig sind. Farrington sah das natürlich anders: Nachher machen die Indianer die schönen Sachen noch kaputt oder so. Da sind sie bei ihm schon besser aufgehoben.
Schließlich kamen Sylvia und Kim zum Abendessen wieder (warum auch immer). Es war eine ziemlich steife Angelegenheit - ich war nicht gerade sehr höflich zu "Onkel Charly", und er versuchte die ganze Zeit, die Farce aufrechtzuerhalten. Seine junge Frau war auch dabei, vielleicht hat er wegen ihr so getan, als wären wir nur ein paar Gäste, die vollkommen freiwillig an seinem Tisch säßen.

Nach dem Abendessen sind Sylvia und Kim gegangen. Ich war erleichtert: Ich dachte schon, er würde sie auch da behalten. Als Brian den Raum ebenfalls verließ, um mit seinen Eltern zu telefonieren, ließ Farrington die Maske fallen. Er sagte mir direkt, daß sein Neffe morgen von seinen Eltern abgeholt werden würde. Sylvia und Kim könnten ihren Weg nach LA weiter fortsetzen. Mit mir wäre das eine andere Geschichte - er hätte da ein paar Freunde, die dringend mit mir reden wollten, und er hätte ihnen versprochen, ein "Treffen" zu arrangieren. Bis dahin würde Brian natürlich schon Hunderte von Meilen von Salina entfernt sein und nie erfahren, was aus mir geworden wäre.
Das war immerhin deutlich. Für einen wilden Moment dachte ich, wenn ich ohnehin schon so gut wie tot wäre, könnte ich auch versuchen, ihn mitzunehmen. Er muß das wohl auf meinem Gesicht gesehen haben, denn plötzlich hatte er einen kleinen Revolver in der Hand.
In diesem Augenblick kam Brian wieder ins Zimmer. Sein Onkel hatte wohl keine Lust mehr, ihn anzulügen, und bestätigte meine Anschuldigungen Wort für Wort. Danach ließ er uns von seiner Leibwache zu unseren Quartieren zu bringen. Immerhin gestattete er uns, unsere letzte Nacht zusammen zu verbringen (das mag jetzt zweideutig klingen, ist aber nicht so gemeint. Wer einen schmutzigen Gedanken findet, darf ihn behalten).
Nachdem die Konfrontation mit Farrington vorbei war, bin ich erstmal ein bißchen zusammengeklappt. Ich nahm nicht an, daß uns eine Flucht gelingen könnte, und ich versuchte, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß ich in ein paar Tagen sterben würde, und wahrscheinlich nicht gerade kurz und schmerzlos. Brian dagegen war in heller Aufregung: Sein Onkel war ein Mafiosi, sein Vater wußte augenscheinlich darüber Bescheid, und sie arbeiteten mit den Hollow Men zusammen! Er war der Meinung, daß wir natürlich irgendwie entkommen würden. Dafür sprach immerhin, daß er seine Tasche noch hatte, in der sich diverse Chemikalien befanden. Hatte ich schon erwähnt, daß Brian ein kleiner Pyromane ist?
Jedenfalls redete er solange auf mich ein, bis ich wieder ein bißchen Mut schöpfte. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich wie ein braves Schaf zur Schlachtbank getrottet.

Wir machten uns daran, unser Zimmer zu erkunden. Es gab ein Bad, das wir überschwemmen konnten, ein Doppelbett (ich frag mich, was Onkel Charly sich dabei gedacht hat), das wir anzünden konnten, und einen praktischen Balkon, von dem wir springen konnten. Naja, ganz so praktisch war er nicht - immerhin drei Meter über dem Boden. Ich bin zwar schwindelfrei, aber so richtig niedrig sah das nicht aus.
Jedenfalls beschlossen wir, eine Ablenkung zu inszenieren: Ich hatte immer noch ein Magazin Patronen in meiner Hosentasche (die Pistole selber lag sicher in unserem Auto), die Brian in die Luft jagen wollte. Dazu überreichte uns Onkel Charly doch tatsächlich freundlicherweise noch eine Flasche Whisky. Danach wollten wir über den Balkon springen und davonlaufen, möglichst Richtung Stall (ja, der nette Onkel hatte einige richtig gute Pferde. Und da heißt es immer, Verbrechen zahlt sich nicht aus).
Also legten wir eine Zündschnur, machten ein bißchen Feuer und dann sprang ich als erster. Leider kam ich nicht wirklich gut auf: Mein rechter Knöchel gab nach, ich knickte um und knallte heftig auf den Boden. Das war der Moment, wo der Kerl, der unter dem Balkon Wache gehalten hatte, mit einer Pistole auf mich zielte und mir sagte, ich sollte bloß keinen Scheiß machen. Tat ich nicht, ich war noch viel zu beschäftigt damit, herauszufinden, was ich mir diesmal alles gebrochen hatte (nichts).
Brian sah das natürlich von oben und warf einen kleinen Hocker nach dem Typen. Er traf zwar nicht richtig, aber der Kerl war abgelenkt und schaute nach oben. Das war der Moment, als ich dachte, ich könnte ihm doch meine Schiene an den Kopf donnern. Leider beschloß Brian im selben Augenblick, von oben auf die Wache drauf zu springen.
Die Katastrophe war vorprogrammiert: Anstatt auf den Wächter zu treffen, fiel Brian auf meinen Arm - das Knacksen kannte ich irgendwie schon - und rammte seinen Kopf gegen meine Schiene. Immerhin verwirrte das den Typen mit der Pistole. Klar, wer rechnet schon damit, daß sich seine Gegner selbst verstümmeln?
Brian und ich waren mal wieder voll auf Adrenalin, und irgendwie gelang es uns, den Typen auszuschalten, ohne uns selbst weiter zu verletzen. Dummerweise konnte er vorher noch "Alarm" rufen, und schon kamen von allen Seiten weitere Wächter auf uns zugelaufen.

Wir rannten los, Richtung Stall, und schafften es irgendwie, vor den anderen da zu sein. Naja, wir hatten auch mit der Explosion im Herrenhaus gerechnet. Ich schätze, das hat die Jungs ein bißchen abgelenkt. Im Stall ließ ich die Pferde aus den Boxen, und Brian zündete das Heu an. Dann ließen wir die Pferde raus und rannten im Schatten der panischen Herde weg vom Haus. Fragt mich jetzt nicht, wie wir es geschafft haben, nicht zertrampelt zu werden. Manchmal haben wir mehr Glück als Verstand.
Es gelang uns jedenfalls, in ein kleines Wäldchen zu flüchten, das sich aber immer noch auf dem Grundstück befand. Und ja, das gesamte Grundstück war umzäunt. Offenbar hat der gute Onkel Charly mehr Feinde, als wirklich gesund ist - jedenfalls fällt mir kein anderer Grund ein, warum er einen Zaun mit Betonfundament und Stacheldraht um sein gesamtes, riesiges Grundstück ziehen sollte. Wenigstens stand das Ding nicht unter Strom.
Wir wären aber wohl trotzdem nicht drüber gekommen. Brian hatte eine Gehirnerschütterung und trottete mir mit glasigen Augen hinterher. Mein Knöchel pochte im Takt mit meinem Arm herum, und ich glaube nicht, daß ich noch auf einen Stuhl hätte klettern können, geschweige denn über irgendwelchen Stacheldraht. Aber da kam uns etwas? jemand? zu Hilfe: In dem Zaun fanden wir ein kreisrundes Loch mit ungefähr zwei Fuß Durchmesser. Groß genug, um durchklettern zu können. Wer das Loch gemacht hatte? Warum es ausgerechnet kreisrund war? Warum überhaupt irgendjemand ein Loch in diesen Zaun schneiden sollte? Keine Ahnung. Wissen wir nicht.
Wollten wir aber in dem Moment auch gar nicht so dringend wissen. Wir wollten nur weg, und das Loch war praktisch. Hinter Charlys Grundstück begann sofort die Wildnis, und wir liefen erstmal einfach drauflos. Ich glaube, wir versuchten, immer bergauf zu gehen. Tatsächlich sind wir orientierungslos herumgestolpert. Nach einiger Zeit hörten wir Hunde hinter uns. Brian murmelte Pfadfindertips: "Wir müssen durch einen Bach..." - als hätte ich irgendwo einen versteckt. Es gibt natürlich tolle Kräuter, die den Geruch verdecken, und vielleicht kann ich sie unter optimalen Bedingungen auch finden. Aber nicht nachts im Wald, verletzt, mit einem Kumpel, dem ständig die Augen zufallen. Also humpelten wir einfach weiter.
Nach einiger Zeit hörten wir nicht nur Hundegebell, sondern auch noch Wolfgeheul. Das motivierte Brian, eine improvisierte Fackel anzuzünden (na klar, wenn es um Feuer oder Explosionen geht, ist er leicht zu motivieren). Und irgendwann fielen wir tatsächlich über den "Wolf": Das war William Forrester, der nach uns gesucht hatte.

In der Zwischenzeit waren Sylvia und Kim zu ihm gegangen und hatten ihm alles erzählt. Leider wußte er auch nicht, was man tun könnte - von einem direkten Angriff hat er abgeraten, nehme ich an. Schade, ich schätze, ein frontaler Angriff von ein paar wilden Ute-Kriegern hätte Brian irgendwie gefallen.
Kim ist so sehr in Panik geraten, daß er sogar seinen Vater angerufen hat. Der dachte, sein Kleiner ist irgendwo in Korea, um da zu studieren und Verwandte zu besuchen. Entsprechend begeistert war er, als er jetzt erfuhr, daß der liebe Junge irgendwo in Utah hängt und sich mit der Mafia angelegt hat. Allerdings hat er nicht viel Zirkus gemacht, sondern aufgelegt und sich ins nächste Flugzeug geschwungen, was Kims Panik nur gesteigert hat. Schließlich wollte er seinen Papi eigentlich nicht treffen.
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #15 am: 6.01.2006 | 20:26 »
Warum William eigentlich im Wald herumgekrochen ist und uns gesucht hat, weiß ich bis heute nicht. Oder was das Wolfgeheul sollte. Vielleicht hat er ja die Hunde gehört.
Auf jeden Fall hat er Brian und mich in sein Auto gepackt und erstmal zu einer Jagdhütte gefahren, wo auch Sylvia und Kim untergekommen waren. Dann hat er einen Arzt organisiert, der sich um unsere Verletzungen kümmern sollte.
Der Arzt (ich glaube, wir haben seinen Namen nie erfahren) stellte fest, daß Brian eine schwere Gehirnerschütterung hat und definitiv ins Krankenhaus muß, damit man nachprüfen kann, ob der Schädelknochen irgendwie beschädigt ist. Ich hatte nur einen gebrochenen Arm (Überraschung!), einen verstauchten Knöchel und eine geprellte Hüfte. Früher, als ich noch in Chicago gelebt habe, hätte ich ja gedacht, daß das üble Verletzungen sind, und mich für die nächsten drei Wochen ins Bett gelegt, aber mittlerweile ist das fast schon alltäglich.
William hat also zunächst mal den Arzt und Brian ins Krankenhaus gefahren, wo man ihn untersucht hat. Kein Schaden am Knochen, aber eben eine schwere Gehirnerschütterung, die mindestens zwei Wochen strenge Bettruhe erfordert. Ansonsten kann es wohl passieren, daß der Patient plötzlich tot umfällt oder so.
Nachdem Brian im Krankenhaus untergekommen war, kam der Arzt zurück und schubste meine Knochen wieder dahin, wo sie hingehören. Er meinte, dafür müsse er den Arm ja nicht röntgen. Um meinen Fuß oder mein Bein hat sich nicht weiter gekümmert, er meinte nur, ich sollte es halt schonen. Haha. Witziger Kerl.

Während Brian und ich unser kleines Abenteuer mit Onkel Charly hatten, haben sich Sylvia und Kim Gedanken gemacht, wie es jetzt weitergehen soll. Die Hollow Men sind eine Sache, aber die Mafia und Kims Vater eine andere. Die beiden sind also auf die Idee gekommen, daß wir von jetzt an auf Autos und ausgebaute Straßen verzichten sollten. Statt dessen schlugen sie vor, uns ein paar Pferde zu besorgen und querfeldein zu reiten. Williams Bruder Edgar, der eine Ranch betreibt, war sogar bereit, uns sechs Pferde zu leihen (vier Reit- und zwei Packpferde).
Ich fand die Idee Klasse. Ich war ohnehin nie der Meinung, wir müßten so schnell wie möglich nach LA kommen. Und ich mag Pferde. Pferde sind toll. Nicht, daß ich ein besonders guter Reiter wäre (siehe das letzte Kapitel), aber es macht mir Spaß. Und die Vorstellung, durch das größtenteils unbesiedelte Land von Utah und Arizona zu reiten, gefiel mir einfach.

Also war es beschlossene Sache - wir würden unseren Weg zu Pferd fortsetzen. Allerdings hatten wir da ein Problem: Brian. Den hatte der Arzt im Krankenhaus gelassen und uns auch gesagt, daß er frühestens in zwei oder drei Wochen wieder reisefähig sei. Wir würden ihn zurücklassen müssen.
Das war ein Schlag, nicht nur für mich, denke ich. Soviel ich auch über Brian lästern und jammern mag, er gehört zu uns. Ihn einfach zurückzulassen - ich hatte das Gefühl, als würden wir ihn im Stich lassen. Wir haben ihn im Krankenhaus besucht, um mit ihm zu sprechen (ich hatte die Hoffnung, daß er sich vielleicht wie durch ein Wunder erholt hätte. Das hat ja in Craig auch geklappt). Er war blaß wie Kreide und sah nicht aus, als sollte er allein auf die Toilette gehen, geschweige denn, mit uns nach Arizona reiten. Das Wunder blieb aus.
Brian erzählte uns, daß er schon Besuch bekommen hätte: Sein Onkel Charly war zusammen mit Kims Vater bei ihm aufgetaucht. Mr. Parker fragte ihn nach seinem Sohn, aber Brian tat so, als ginge es ihm furchtbar schlecht, und gab ihm keine Antwort. Schließlich ging Parker wieder, in Begleitung von Charles Farrington.
Später sollten Brians Eltern ankommen. Sie hatten schon angekündigt, ihn in die Schweiz zu schicken, auf ein "Internat" (was er damit auch immer meint. Wahrscheinlich eine Uni mit strengen Campus-Regeln oder so). Wir erzählten Brian von unseren Plänen. Es war klar, daß er gerne mitgekommen wäre, aber sich einfach nicht in der Lage dazu fühlte. Also verabschiedeten wir uns, mit vagen Plänen für ein Wiedersehen, die nicht besonders realistisch waren. Ich fühlte mich ziemlich blöde, als wir endlich gingen, und ich schätze, ich war nicht der einzige.

Danach fuhren wir noch mal zu unserem Motel, um unsere Sachen abzuholen (von den FBI-Agenten keine Spur), und gingen einkaufen. Für einen langen Trip durch die Wildnis braucht man einiges an Ausrüstung, und keiner von uns hat wirklich Ahnung von so was. Ja, ich war als Junge mit meinen Verwandten ein paar Mal jagen, und mein Großvater hat mir irgendwann mal haufenweise lustige Kräuter gezeigt, aber das meiste davon habe ich schon lange wieder vergessen. Außerdem ist ein kurzer Jagdausflug nicht mit der Reise zu vergleichen, die wir da vorhatten.
Wir beschlossen, zunächst die Ranch meiner Tante Rose in Arizona anzusteuern. Sie liegt ein wenig südlich von Bagdad, in der Nähe des Santa Maria River. Dort würden wir uns ein wenig ausruhen können, bevor wir weiter nach Californien reiten. Mal schauen, wie oft wir uns verirren.

Nachdem wir mit unseren Einkäufen fertig waren, nahmen Sylvia und Kim noch eine kurze Reitstunde (nein, sie konnten beide nicht reiten). Ich versuchte, mich auszuruhen, schaffte es nicht und ließ mir von einem von Edgars Cowboys erzählen, was ich über die Pferde wissen mußte.
Mein Pferd ist eine niedliche kleine Appaloosa-Stute mit dem schönen Namen Moses (ich weiß nicht, warum sie so heißt. Vielleicht hab ich den Namen auch falsch verstanden, aber sie reagiert darauf). Ich fang jetzt nicht an, von ihr zu schwärmen, sonst hör ich nicht wieder auf, und das wollen wir ja alle nicht, oder?

Wir ließen uns am ersten Tag Zeit. Sylvia und Kim mußten sich erstmal ans Reiten gewöhnen, und viel konnte ich ihnen auch nicht helfen - ich mußte mich daran abfinden, daß mir nicht nur der Arm, sondern auch das Bein weh tat. Und es ist nicht wirklich ein Spaß, mit einer geprellten Hüfte zu reiten. Also machten wir schon ziemlich früh Halt, stellten unser Zelt auf und zündeten ein Lagerfeuer an. Und kurz nach dem Essen tauchten zwei weitere Reiter bei unserem Lager auf: William und Brian.

Brians Gespräch mit seinen Eltern verlief wohl mal wieder in den üblichen Bahnen: Brian sagt, was er will oder nicht will, seine Eltern ignorieren ihn und sagen ihm, was er tun soll, und zum Schluß setzt Brian seinen Kopf irgendwie durch. Das war in dem Fall nicht ganz einfach: Sein Vater wollte ihn schon am nächsten Tag in ein Flugzeug in die Schweiz setzen, Gehirnerschütterung hin, Gehirner-schütterung her.
Naja, wenn seine Gesundheit aber ohnehin aufs Spiel gesetzt würde, dann konnte uns Brian auch genauso gut hinterherreiten. Er klaute sich irgendwo einen Hut, um seine frische Wunde zu überdecken, und machte sich auf den Weg. Ganz allein natürlich, ohne irgendeine Idee, wie es weitergehen sollte. Nur in die Schweiz wollte er nicht, und er hatte die Adresse von der Ranch meiner Tante.
Glücklicherweise las ihn William unterwegs auf (sonst wäre er wohl getrampt) und brachte ihn zu Edgars Ranch. Dort schwangen sich die beiden auf die Pferde (muß ich erwähnen, daß Brian nicht reiten kann?) und machten sich auf den Weg.

Und da war er also, unser Brian, blaß und erschöpft und absolut nicht gesund, aber er war wieder dabei. Scheint, als würden wir ihn nicht so schnell los. (
Ich war heillos erleichtert und froh, ihn wiederzusehen. Irgendwie ist es ohne ihn nicht das gleiche. Unser ruhiges Abendessen verwandelte sich in eine Siegesfeier.

Am nächsten Morgen fiel mir auch ein, wo ich die heilige Tigeraugenkette schon einmal gesehen hatte: Das muß vor ungefähr 15 Jahren gewesen sein, bei irgendeinem Powwow, aber ich weiß nicht mehr, wo. Ich denke, Pine Ridge, weil da immer die großen Treffen sind, aber ich kann mich auch irren. Das war damals zu der Zeit, wo ich nicht mit Fremden geredet habe, also war ich acht oder jünger.

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #16 am: 6.01.2006 | 20:28 »
Hat jetzt irgendjemand gedacht, wir hätten einen ruhigen Trip und kämen ein paar Wochen später verdreckt, aber glücklich bei meiner Tante an? Nein? Gut. Es ging nämlich schon am übernächsten Tag weiter... (ich weiß nicht, für wen ich diese Einleitungen schreibe. Literarischer Impuls oder so. Wer schreibt schon ein Tagebuch, wenn er nicht insgeheim hofft, daß es eines Tages mal ein anderer lesen wird?)

Die Geisterstadt - Überfall

Die erste Nacht unserer Reise verlief vollkommen friedlich, wenn man davon absieht, daß wir Nachtwachen halten mußten. Sylvia hat dabei die ganze Zeit an ihrem Handgenerator herumgekurbelt und damit ein scheußliches, surrendes Geräusch erzeugt, wie eine Mücke, die an deinem Ohr herumfliegt.

Am nächsten Tag ging es weiter, und gegen Nachmittag kamen wir in die Ruine einer alten Westernstadt. Brian war völlig begeistert - er wollte schon immer mal in eine Geisterstadt. Er hoffte wohl, interessante Geister zu treffen, mit denen er über seine Nahtodeserfahrung plaudern konnte.
Die Stadt (oder besser, das Dorf - so groß war es nämlich
nicht) war vollkommen ausgestorben. Sylvia, Brian und Kim machten sich an die Erkundung, während ich mich um die Pferde gekümmert habe. Im Saloon fanden sie tatsächlich eine Flasche verschlossenen Whisky von achtzehnhunderthau-mich-auf-den-Kopf (irgendwas in den Sechzigern, glaube ich). Die gab es dann zum Abendessen. Hat nicht sonderlich toll geschmeckt, war aber seeehr hochprozentig.

Nach dem Essen wollte Brian noch ein wenig herumstöbern. Sylvia hielt das für keine gute Idee, angesichts seiner Gehirnerschütterung, aber ich habe ihr gesagt, er wäre erwachsen und wüßte schon, was er tut. Daraufhin beschloß Sylvia, sich ordentlich zu betrinken. (Ich verstand erst nicht, warum. Mittlerweile schon.)
Kurz nachdem Brian uns verlassen hatte, hörten wir ein lautes Krachen aus dem Haus, in das er hineingegangen war. Ich lief mit Kim los, Sylvia torkelte hinterher. Im Haus war der Boden teilweise eingebrochen, aber Brian war nichts passiert. Er wollte aber auch nicht aus dem Keller herauskommen, sondern nur noch zehn Minuten spielen auf Entdeckungstour gehen. Durch den Einsturz war nämlich ein alter Gang freigelegt worden, den er sich unbedingt anschauen mußte. Kim, der ihn eigentlich zurückholen sollte, ließ sich von seinem Enthusiasmus anstecken und ging mit. Natürlich, ohne größer Bescheid zu geben. Ich stand also oben und machte mir Sorgen, während die beiden unten einige alte Indianergräber fanden und näher anschauten. Dabei sahen sie, daß einer der Toten - ein Kriegshäuptling, wie es schien - die heilige Kette, die wir aus Salina kannten, um den Hals trug. Immerhin waren die beiden schlau genug, das Ding da zu lassen, wo es hingehört.
Nach etwa einer halben Stunde tauchten die beiden Forscher wieder auf und berichteten strahlend von ihrer Entdeckung. Wir beschlossen, Edgar oder William bei der nächsten Gelegenheit von der Kette und dem ausgestorbenen Dorf zu erzählen.

Wir wollten die Nacht in einem der stabileren Häuser verbringen. Wieder wurden Wachen aufgestellt, und kurz vor Mitternacht, als Kim dran war, passierte tatsächlich etwas. Er hörte leisen Gesang von außerhalb des Dorfes. Als er losschlich, um nachzusehen, was denn los war, sah er einen heiligen Mann und zwei Krieger, die einen Tanz um ein Feuer aufführten. Da ich die nächste Wache hatte, weckte er mich auf und zeigte mir die Zeremonie. Ich kannte den Tanz nicht, aber angesichts der Tatsache, daß die beiden Krieger ihre Bögen, Lanzen und Tomahawks enthusiastisch durch die Luft schwenkten, vermutete ich, daß es sich um einen Kriegtanz handeln könnte. Kim lief los, um den anderen beiden Bescheid zu sagen. Ich blieb zurück, um die drei Indianer weiter zu beobachten.
Schließlich war der heilige Mann mit seinem Gesang fertig. Er sah sich mit schmalen Augen um, bis er mich im Schatten des Hauses entdeckte. Mit einer Hand deutete er in meine Richtung, und die beiden Krieger stürmten mit erhobenen Tomahawks auf mich zu. Nervös trat ich aus den Schatten heraus und hob meine leeren Hände, um zu zeigen, daß ich unbewaffnet war. Das hielt die Krieger aber nicht auf: Mit einem mächtigen Schlag rammte mir einer von ihnen sein Tomahawk in die Brust.
Der Schmerz war echt. Ich wurde ein Stück zurück-geschleudert, fiel hin und rang mühsam nach jedem schmerzerfüllten Atemzug. Einen Augenblick fühlte es sich an, als wäre meine Lunge mit Flüssigkeit erfüllt, und ich mußte husten. Das verstärkte den Schmerz fast ins Unerträgliche, und mir wurde einen Moment lang schwarz vor den Augen.
Ich muß aufgeschrieen haben, als der Krieger mich traf, jedenfalls kamen Sylvia, Kim und Brian besorgt angerannt. Sie stellten schnell fest, daß ich nicht wirklich eine Wunde davongetragen hatte, jedenfalls war davon nichts zu sehen. Aber die Stelle an meiner Brust fühlte sich heiß und verkrampft an. Der Schmerz ließ nur langsam nach.
Gerade als mir die anderen wieder auf die Beine geholfen hatten, hörten wir auf der anderen Seite des Gebäudes die Pferde panisch wiehern. Wir liefen los, um nachzusehen, was los war.

Ohne große Überraschung sahen wir, daß das Leben in die Geisterstadt zurückgekehrt war. Altmodisch gekleidete Leute liefen umher, grüßten einander oder gingen ihrer Arbeit nach. Unsere Pferde waren solche Dinge weniger gewohnt (oder vielleicht waren sie einfach nur intelligenter als wir) und brachen aus. Kim rannte hinter ihnen her, um sie wieder einzufangen, und verschwand erst mal im Wald.
Ich beschloß, ihm zu folgen und ihn zurückzuholen, während sich Sylvia und Brian im Dorf umschauen wollten.
Glücklicherweise hatte Kim schnell eingesehen, daß es keinen Sinn macht, panischen Pferden im stockdunklen Wald hinterherzulaufen, und war umkehrt. Gemeinsam gingen wir zurück zur Stadt.

Sylvia und Brian versuchten, Kontakt zu den Geistern zu bekommen. Sylvia stellte fest, daß die Leute sie wohl nicht sehen konnten, und sie sogar in der Lage war, durch sie hindurchzugehen. Das war allerdings keine schöne Erfahrung, denn an der Stelle, an der sich der Geist befand, wurde es plötzlich eiskalt. Brian allerdings wurde von den Leuten bemerkt. Als er versuchte, einer Frau einen guten Tag zu wünschen, erwiderte sie seinen Gruß zögernd. Offenbar konnte sie ihn aber sehen.
Kurz nachdem Kim und ich wieder in der Stadt angekommen waren, kam Bewegung in die Geister: Männer bewaffneten sich, Frauen und Kinder rannten in die Häuser. Da flogen auch schon die ersten Pfeile aus dem Wald auf die weißen Siedler, gefolgt von einer großen Anzahl indianischer Krieger, die über die Einwohner der Stadt herfielen.
Brian reagierte vollkommen instinktiv: Er schnappte sich zwei kleine Mädchen und versuchte, in die Wälder zu entkommen. Zwei Krieger bemerkten ihn und verfolgten die drei. Sylvia, die hinterher rannte, sahen sie nicht.
Auch Kim rannte los und versuchte, eine Frau irgendwie zu retten, aber er konnte sie nicht mal anfassen. Statt dessen wurde sie vom Schlag eines Tomahawks getroffen und bracht blutüberströmt zusammen. Kims einziger Kommentar dazu war "Cool!".
Das fand ich nun nicht. Ich ließ ihn stehen - sollte er sich doch das "coole" Gemetzel anschauen, wenn er Spaß dran hatte - und folgte Sylvia und Brian. Da gab es mittlerweile heftige Probleme: Die Indianer, die Brian sehen konnten, hatten ihn erwischt und mit ihren Tomahawks nach ihm geschlagen. Allerdings konnten sie ihn zwar treffen, aber nicht wirklich verwunden: Wie bei mir vorher schmerzten die Phantomtreffer zwar, aber es waren keine Verletzungen zu sehen. Trotzdem taumelte Brian und war kalkweiß im Gesicht. Das hier war sicher nicht die Ruhe, die er dringend brauchte.
Sylvia und ich stellten fest, daß wir die Indianer behindern konnten, wenn wir uns genau in ihre Körper hineinstellten. Allerdings wurde es dort rasch sehr, sehr kalt, und unsere Gliedmaßen froren förmlich ein. Also konnten wir das nicht allzu lange machen. Wir spielten eine Weile Haschmich mit den Indianern, die Brian immer noch verfolgten. Irgendwie gelang es ihm, eine Schußwaffe zu ziehen und auf einen der Indianer abzufeuern. Das hatte allerdings denselben Effekt auf sie wie die Schläge der Tomahawks auf Brian: Schmerz ja, echte Verletzung nein. Immerhin hielten sie daraufhin Abstand von ihm.
Schließlich wurde er von einer anderen Gruppe erwischt und erhielt einen Schlag quer über die Kehle. Danach konnte er nicht wieder aufstehen, aber glücklicherweise tat sich im Dorf etwas, das die Indianer ablenkte. Ihr Anführer - der heilige Mann, den ich schon gesehen hatte - rief alle bei dem Haus, unter dem sich die Gräber befanden, zusammen. Dort brachten einige Krieger einen Weißen zu ihm, der die heilige Kette bei sich trug. Der Anführer spaltete ihm den Schädel und nahm den Kultgegenstand wieder an sich. Dann sah er sich noch einmal um, bevor er und seine Krieger das Dorf verließen. Ich bin sicher, daß er uns sehen konnte, aber er hat nichts weiter getan.

Sylvia und ich brachten Brian zurück zu unserem Haus, damit er sich ausruhen konnte. Auch Kim tauchte wieder auf: Er war bei den Gräbern gewesen und Zeuge geworden, wie die Indianer den Weißen, der die Kette gestohlen hatte, einfingen.
Wir waren alle ziemlich müde und fertig. Kim, Sylvia und Brian legten sich schlafen, ich blieb wach (hatte ja Nachtwache). Irgendwann früh am nächsten Morgen kamen die Pferde zurück. Schließlich wußten sie, daß es hier im Dorf Wasser gab.

Als alle wieder wach waren, sprachen wir noch einmal über die Ereignisse in der letzten Nacht. Kim war immer noch völlig begeistert, fand alles "cool" und wollte unbedingt dableiben, um Photos zu machen. Offenbar dachte er, das ganze wäre ein Videospiel oder so etwas. Daß bei dem Gemetzel Menschen gestorben waren, ließ ihn völlig kalt. Wir beschlossen, sofort aufzubrechen und nicht zu versuchen, den Eingang zu den Gräbern zu verschütten (ich weiß nicht, wie man so etwas fachmännisch macht, und die anderen wissen es auch nicht. Also sollten wir es lieber nicht versuchen - die Chancen sind groß, daß wir entweder den Friedhof oder uns selber mit zuschütten). Danach ging ich raus - ich konnte Kims "Hach, war das lustig"-Geschwätz nicht mehr ertragen.

Jetzt stehe ich hier draußen bei den Pferden und krakele das letzte Kapitel in mein Notizbuch. Kann bestimmt keiner lesen.
Nebenher versuche ich mir keine Sorgen zu machen, weil mein rechter Fuß so stark geschwollen ist, daß er in keinen Schuh mehr paßt. Oder weil er mittlerweile mehr violett als rot ist - das ist sicher nur ein Bluterguß. Allerdings kann ich nur hoffen, daß wir in der nächsten Zeit nicht mehr großartig laufen müssen. Als ich heute morgen aufgestanden bin, konnte ich gar nicht mehr auftreten, und bis zu meinem Pferd bin ich nur gekommen, weil ich so wütend auf Kim war. Aber der Arzt hat gesagt, er ist nur verstaucht. Ich muß ihn nur ein bißchen schonen, dann kommt er schon wieder in Ordnung. Hoffe ich.
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #17 am: 6.01.2006 | 20:29 »
Ich lebe noch, und mein Fuß ist auch noch dran. Nur, falls sich jemand Sorgen gemacht hat. Nach unserem Aufbruch ging es dann gleich weiter:

Die Hütte - eine Art Pause

Irgendwann gegen Mittag ist Sylvia aufgefallen, daß es meinem Fuß nicht so gut ging. Daraufhin haben wir beschlossen, bei der nächsten Gelegenheit eine Pause einzulegen. Brian erzählte etwas davon, eine Hütte oder so zu finden - zunächst hielt ich das für absurd (wir waren mitten in der Wildnis von Utah), aber er behielt prompt recht: Auf einer Wiese, in der Nähe eines kleinen Baches, fanden wir eine Hütte. Besser gesagt, ein ausgewachsenes Blockhaus mit zwei Stockwerken und einem Stall für sechs Pferde.
Die Hütte wurde von einem alten Mann (James) und seiner Frau (Anne) bewohnt. Es gab dort keine Elektrizität, kein Telefon, nichts, was darauf hingewiesen hätte, daß wir uns im 21. Jahrhundert und nicht ein- bis zweihundert Jahre früher befinden. Erinnerte mich irgendwie an das Haus meines Großvaters, das allerdings kleiner und nicht so gut in Schuß ist.

Die beiden älteren Leutchen waren ganz erfreut, uns zu sehen. Seit zwei Jahren hätten sie keine Gäste gehabt. Sie waren sehr hilfsbereit, und als sie merkten, daß es Brian und mir nicht gerade gut ging, luden sie uns ein, doch ein paar Tage bei ihnen zu bleiben und uns zu erholen. Kann auch sein, daß Sylvia sie gefragt hat, ob wir dürfen. Das Ergebnis war dasselbe: Wir stellten unsere Pferde in den Stall und richteten uns in den Gästezimmern ein.
James und Anne waren Selbstversorger: Er ging auf die Jagd und stellte Fallen, sie sammelte im Wald Beeren, Pilze, Wurzeln und andere essbare Sachen. Brian wollte erstmal nicht glauben, daß man so wirklich leben kann. Ich habe versucht, ihm zu erklären, daß früher ganze Völker auf diesem Kontinent genau so gelebt haben, aber ich denke, ganz überzeugt war er nicht. (Ich ja auch nicht. Die Jäger- und Sammler-Völker waren größtenteils nomadisch oder halbnomadisch.)

Der erste Abend verlief ruhig und friedlich: Wir aßen, und dann ging es früh ins Bett. Am nächsten Morgen bot Sylvia an, daß sie und Kim dem Ehepaar bei ihren täglichen Aufgaben helfen könnten. Die beiden waren erfreut, denn es gab tatsächlich etwas, das die beiden für sie tun konnten: Über den Bach in der Nähe des Hauses führte eine Brücke, die leider beim letzten Unwetter beschädigt worden war. Die sollten Sylvia und Kim nun reparieren.
Der Bach war nicht sonderlich breit, vielleicht zehn oder fünfzehn Fuß, und auch nicht tief, aber er hatte eine reißende Strömung und einen sehr unregelmäßigen, steinigen Grund. Daher war die Brücke die einzige Möglichkeit, den Bach wirklich sicher zu überqueren. Es handelte sich um eine einfache Holzbrücke aus stabilen Planken, die aber teilweise aus der Verankerung gerissen und stark beschädigt waren. Sylvia und Kim verbrachten den Tag damit, neue Bretter einzusetzen und festzunageln. Brian blieb im Bett und schlief die meiste Zeit. Ich schonte meinen Fuß (und meinen Arm, und mein Bein...) und schrieb größtenteils. Kurze Zeit war ich draußen, um die Pferde zu versorgen und aus dem Stall zu lassen, aber auch da bin ich nicht viel herumgelaufen.

Gegen Abend zog ein Gewitter auf, und als Sylvia, Kim, James und Anne zurückkamen, war der Himmel schon schwarz und wolkenverhangen. Noch vor dem Abendessen ging es richtig los: Blitze, Donner, heftiger Regen und Windböen. Ich bin zum Stall gelaufen, um die Pferde zu beruhigen, die sehr unruhig und nervös waren. Sylvia kam später mit dem Abendessen rüber, um mir Gesellschaft zu leisten (Brian hatte sich Sorgen gemacht, weil ich allein bei den Pferden bleiben wollte).
Das Gewitter war ganz schön unheimlich, vor allem, als einige Zweige gegen den Stall schlugen, sodaß es klang, als würde jemand gegen die Wand hämmern. Das Geräusch machte Sylvia und mich nervös, und ich öffnete die Stalltür, um nach draußen zu schauen. Es war verdammt dunkel, aber wir konnten durch die Regenschleier eine Gestalt erkennen, die von Haus weg in Richtung Wald lief. Ein Blitz erhellte die Person kurz, und wir erkannten Brian. Sylvia lief los, um herauszufinden, was mit ihm los war, konnte ihn aber im Wald nicht finden. Ich dachte, ich hätte gesehen, wo er verschwunden war, und hinkte ebenfalls in Richtung Bäume (soviel zum Thema "Fuß schonen" für diese Nacht).
Unterwegs trafen wir Kim, der gerade aus dem Haus kam. Zu dritt machten wir uns auf die Suche nach Brian, der hinter irgendeinem Baum saß und wahrscheinlich eingeschlafen war. Als wir in seiner Nähe stehenblieben, um zu beraten, wachte er jedenfalls auf und erschreckte uns erst mal alle fast zu Tode. Dann behauptete er, er hätte irgendwo eine Frau um Hilfe rufen gehört, konnte aber nicht sagen, wer und von wo. Sylvia, Kim und ich hatten jedenfalls nichts davon bemerkt.
Im strömenden Regen kehrten wir dann alle klatschnass zum Haus (bzw. zum Stall) zurück und legten uns schlafen. Mitten in der Nacht schreckte Sylvia jedoch auf: Sie hatte ein seltsames Gefühl, und als sie aus dem Fenster schaute, sah sie eine Gestalt, die in Richtung der Brücke lief. Als sie bei Brian anklopfte, stellte sie fest, daß er nicht da war.
Sylvia weckte Kim und mich, wir zogen Regenjacken an und machten uns auf den Weg, um Brian wieder in sein Bett zu bringen. Wir fanden ihn an der Brücke, wo er eifrig damit beschäftigt war, die neu befestigten Planken wieder herauszureißen und die ganze Holzstruktur zu demolieren. Gerade als wir ankamen, verlor er den Halt auf dem glitschigen Holz und stürzte in den angeschwollenen, eiskalten Bach. Mit vereinten Kräften konnten wir ihn wieder herausziehen und zum Haus zurückbringen.

Dort steckten wir seine Füße erstmal in ein heißes Fußbad und wickelten ihn in eine trockene Decke. Er kam kurz zu sich und erzählte uns in heller Panik, Hope läge dort draußen, sei unter einem Baum eingeklemmt und wir müßten ihr helfen. Er hätte es nicht geschafft, den Baum wegzubewegen, die Äste wären immer wieder gebrochen. Offenbar glaubte er wirklich, daß die gute Hope dort draußen ins Lebensgefahr schwebte. Ich konnte ihn erst beruhigen, als ich behauptete, wir hätten sie in ein Krankenhaus gebracht.
Nachdem Brian das Bewußtsein wieder verloren hatte, schleppten Kim, Sylvia und ich ihn mit vereinten Kräften in sein Bett. Kim beschloß, den Rest der Nacht lieber in Brians Zimmer zu verbringen und aufzupassen, daß er nicht noch einmal zur Brücke oder sonstwohin laufen würde. Ich verbrachte noch ein paar spaßige Minuten damit, Aststückchen aus meinem Fuß zu graben (wir erinnern uns: Wegen des angeschwollenen Knöchels konnte ich keinen Schuh anziehen), dann ging ich auch in mein Bett. Das Gewitter hatte mittlerweile nachgelassen, und die Pferde waren ruhig, also mußte ich nicht im Stall schlafen.
Am nächsten Morgen war mein Knöchel natürlich weiterhin geschwollen. Ein Tag Ruhe hatte die Nacht Herumgerenne nicht wirklich ausgeglichen. Brian ging es auch nicht sonderlich gut: Er hatte sich - zusätzlich zu seiner Gehirnerschütterung - auch noch eine leichte Erkältung eingefangen.

Wir beide mußten also mal wieder im Haus bleiben. Sylvia und Kim brachen auf, um die Brücke zu reparieren, und wurden erst mal nicht mehr gesehen. Aber das war ja auch verständlich: Schließlich wollten sie das Ding nicht nur wieder instand setzen, sondern es auch noch so sicher machen, daß es nicht mehr so schnell kaputtgehen konnte. Also vernagelten sie kreuz und quer Planken und Bretter (ästhetisch betrachtet sieht das sehr hübsch aus, ist aber nicht gerade praktisch, wenn man die Brücke überqueren will). Danach übernahmen Kims künstlerische Instinkte die Kontrolle, und sie bauten mit einigen Holzstreben und viel, viel Seil die Golden Gate Brigde nach. Fragt mich nicht, wie sie das geschafft haben, aber ich muß zugeben, daß das Ergebnis irgendwie cool aussieht. Und es paßt auf eine ganz merkwürdige Art und Weise sogar in die Wildnis. Schade, daß wir das nicht fotografieren konnten.
Ich habe mich eine Weile mit Brian über die Ereignisse in der letzten Nacht unterhalten. Er meinte, es könnte sein, daß die Brücke irgendetwas gefangen hält, und daß dieses Etwas Hilfe bräuchte. Da sieht man mal, wie weit es mit mir schon gekommen sind: Statt ihn auszulachen, habe ich ernsthaft darüber nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß er recht haben könnte. Allerdings war ich nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, dem Ding unter der Brücke zu helfen. Das Land sah ja nicht krank oder unnatürlich aus, im Gegenteil.

Oh, und Brian hatte in der Nacht vorher einen seltsamen Traum: Er sah die beiden FBI-Agenten (die, die uns von Steamboat Springs nach Salina gefolgt sind) Hope auf einem schmalen Pfad verfolgen. Ich weiß nicht genau, was da noch passiert ist, aber sie haben ihm gesagt, sie würden ihn "morgen abend" treffen.

Eigentlich wollte ich mir an diesem Morgen diese fantastische Brücke, um die es ging, noch einmal ansehen, aber da hat mein Knöchel nicht mitgemacht. Ist einfach unter mir weggeknickt. Blödes Teil. Reicht es nicht, wenn mein Arm im Streik ist? Jedenfalls blieb ich dann doch da.
Am frühen Nachmittag kamen Sylvia und Kim zurück, völlig begeistert von ihrem Machwerk. Brian erzählte ihnen von seiner These, daß die Brücke etwas gefangen halten würde, aber weder Sylvia noch Kim hatten große Lust, sie wieder einzureißen. Außerdem denke ich, daß sie auch nicht der Meinung waren, daß wir irgendwas helfen müßten, das Brian fast umgebracht hatte. 
Kim suchte nach einer Kamera, um die neue Brücke zu fotografieren, stellte dabei fest, daß er sein Foto-Handy irgendwo in Salina weggeworfen hatte, und trottete dann mit einem Zeichenblock wieder zurück zum Bach. Da saß er dann und versuchte, die neue 'London Brigde' zu zeichnen. Aber irgendwie wollte es nicht recht gelingen, und so riß er Blatt um Blatt mit mißlungenen Zeichnungen von seinem Block, knüllte sie zusammen und warf sie in den Bach. (Offenbar konnte er früher mal zeichnen, aber keine Musik machen. Jetzt ist es umgekehrt.)
Später ging Sylvia los, um Kim zum Abendessen zu holen. Als sie sah, daß er dabei war, Papierfetzen in den Bach zu werfen, war sie nicht sehr begeistert und hat ihn erstmal angeblafft, was er sich dabei denkt. Das war nicht ganz das, was Kim gerade brauchte, und er war erstmal verärgert und beleidigt. Während des Abendessens war er sehr schweigsam und in sich gekehrt. Danach verließ er die Hütte wieder, weil er noch einen Abendspaziergang machen wollte.

Sylvia und ich machten uns natürlich Sorgen um ihn, aber es gab eigentlich keinen Grund, ihn zu bitten, nicht zu gehen. Also öffneten wir das Fenster (wir waren mal wieder dazu übergegangen, zu zweit in einem Zimmer zu schlafen), um im Notfall zu hören, wenn jemand um Hilfe schreit. Das war eine gute Idee: Ungefähr eine halbe Stunde, nachdem Kim aufgebrochen war, hörten wir einen lauten Ruf, der nur von ihm stammen konnte. Ich rannte sofort los (dank dem Adrenalin habe ich meinen blöden Knöchel erst mal gar nicht gespürt, das kam dann später), Sylvia lief über den Gang und sagte Brian Bescheid. Der hatte den ganzen Tag geschlafen und war wieder einigermaßen fit, mußte sich allerdings erst anziehen.
Kim war bei seinem Spaziergang bei der Brücke gewesen, als plötzlich ein Bär auftauchte. Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist, aber bei der Flucht geriet Kim in den Bach und wurde irgendwie über einen kleinen Wasserfall gespült. Nach einigen spaßigen Spielchen mit dem gereizten Bär, ein paar netten Bäumen (auf die Sylvia und ich geklettert sind), der lustigen Brücke (auf der Brian hingefallen ist und fast von dem Bär angeknabbert worden wäre) und der Schrotflinte (deren Knall den Bären dann endlich vertrieben hat) fanden wir Kim am Fuß eines Abhangs mit einem gebrochenen Bein. Willkommen im Veteranenverein des A-Teams, Kim.

Brian und Sylvia rannten zurück zum Haus, um eine Bahre oder so etwas zu holen, und zusammen haben wir es irgendwie geschafft, Kim zurück zu tragen. Da keiner von uns so richtig viel Ahnung hat, wie man einen gebrochenen Knochen wieder einrenkt (ich weiß nur, daß mein Arm im Krankenhaus immer geröntgt worden ist, aber ich nehme an, das war nur, weil die Ärzte da Weicheier sind), haben wir Anne geweckt und sie gebeten, sich Kims Bein mal anzusehen.
Der Knochen war nur angebrochen (zwei Wochen Ruhe statt sechs, immerhin). Anne hat eine Schiene dran gebunden, einen Verband mit ein paar Kräutern drumgewickelt und Kim ins Bett gescheucht. Da er außer ein paar Schmerzmitteln auch noch einen großen Schluck Alkohol intus hatte, war er damit erst mal außer Gefecht gesetzt.

Ganz im Gegensatz zu Brian, der jetzt natürlich wach war und die Gelegenheit ausnutzen wollte, um auf der Veranda herumzusitzen und auf die FBI-Agenten aus seinem Traum zu warten. Sylvia und ich leisteten ihm Gesellschaft (wir hatten Angst, daß er sich wieder daran macht, die Brücke zu demolieren), aber es ist nichts passiert. Kurz nach eins gingen wir schließlich alle ins Bett.

Am nächsten Tag haben wir nicht viel gemacht. Ich habe versucht, meinen Knöchel zu schonen (obwohl ich nicht davon ausging, daß es viel nützen würde), Kim konnte mit seinem Bein ohnehin nichts unternehmen, und Brian war auch nicht so ganz fit. Sylvia hat Anne im Haushalt geholfen und sich um die Pferde gekümmert. Ansonsten haben wir ein bißchen miteinander geredet, Sylvia mit Brian (ich weiß nicht, worüber) und ich mit Kim.

Ach, jetzt weiß ich wieder, was wir noch gemacht haben: Wir haben mit Anne über die Brücke geredet. Sie hat uns erzählt, daß sie mit ihrem Mann schon seit ungefähr 30 Jahren in der Gegend lebt. Die Brücke war schon da, bevor sie kamen.
Ein alter Indianer erzählte ihnen, daß es eine Legende um den Bach herum gäbe: Der Bach ist die Lebensader des Landes und wurde früher von den Indianern in dieser Gegend verzweifelt gegen die Siedler verteidigt. Ein Krieger soll sogar sein Leben geopfert haben, um die Weißen von dem Wasser fernzuhalten.
Der alte Mann hatte schon lange vor Anne und James in dieser Gegend gelebt, also schätze ich, er hätte die Brücke zerstören können, wenn er das gewollt hätte. Da er das aber offensichtlich nicht getan hat, müssen wir sie auch nicht unbedingt einreißen.
Anne behauptete, der Alte sei ein Navajo gewesen. Da wäre er aber ziemlich weit nördlich von seinem Stamm gewesen. Andererseits wußte sie es auch nicht mit Sicherheit - vielleicht hat sie die Stämme einfach nur durcheinandergebracht.

Beim Abendessen hörten wir draußen Hufgetrappel. Als ich aus dem Fenster sah, erkannte ich unsere Freunde vom FBI, den älteren Blonden und den jüngeren Schwarzhaarigen. Alle beide ganz in Schwarz, mit langen Trenchcoats und Sonnenbrillen. Naja, vielleicht sind sie doch keine FBI-Agenten. Oder sie haben viel zu viele Filme gesehen.
Vor der Hütte stiegen sie ab und klopften an die Tür. Ich machte auf und wollte erstmal wissen, was denn los wäre. Hätte ja sein können, daß sie Ärger machen wollten, und da mußten wir den alten James nicht vorschicken. Aber die beiden blieben ganz höflich, stellten sich mit den Namen "Smith" und "Jones" vor und fragten, ob sie nicht die Nacht über bleiben könnten. Zögernd willigte James ein (ich glaube, so ganz geheuer waren ihm die beiden Typen nicht), und sie stellten ihre Pferde zu unseren in den Stall.
Beim Abendessen machten wir so etwas ähnliches wie Small Talk, nur viel angespannter. Die beiden behaupteten, sie kämen aus Denver und wollten nach Tucson, Arizona. Sie benahmen sich, als hätten sie uns noch nie gesehen, obwohl Brian in Salina mit ihnen wegen der Hollow Men gesprochen hatte. Im Gespräch erfuhren wir, daß sie die Geisterstadt gesehen, aber angeblich nie betreten hatten.

Irgendwie waren mir die beiden Typen unheimlich: An ihnen war etwas falsch. Sie bewegten sich so seltsam präzise, sprachen wie Figuren in einer Fernsehserie und blickten auf eine Art umher, die unecht wirkte. Selbst wenn sie Gefühle zeigten (eher selten), wirkte es gestellt. Künstlich. Ich weiß nicht genau, wie ich es besser beschreiben soll, oder was genau mich an den beiden gestört hat. Irgendwas hat ihnen gefehlt, vielleicht ist es das. Aber ich könnte nicht sagen, was es war. 
Nach dem Abendessen gingen dann alle auf ihre Zimmer. Smith und Jones quartierten sich - genau wie wir - zu zweit in einem Raum ein. Auch James und Anne zogen sich zurück.

Es verging nicht viel Zeit, bevor wir die Trommeln im Wald hörten. Wir kannten den Takt schon aus der Geisterstadt: Es waren die Trommeln der alten Ute-Indianer, die zum Angriff riefen. Brian (oder Kim?) vermutete sofort, daß Smith und Jones die Kette aus der Geisterstadt gestohlen hatten, und die Ute kamen, um sie wiederzuholen. Sylvia und Kim rannten nach unten, aus dem Haus, ich hinkte hinterher. Brian wollte die beiden Typen wecken und nach der Kette fragen.
Aber als er an der Tür klopfte, reagierte niemand. Da er von draußen schon das Kriegsgeheul der Ute hören konnte, schnappte er sich die Axt (was hatte die eigentlich in deinem Zimmer zu suchen, Brian?) und begann, die Tür einzuschlagen. Smith und Jones schienen den Krach nicht zu hören, aber James und Anne wachten auf. Verständlicherweise waren sie von Brians Versuch, ihr Haus zu demolieren, wenig begeistert. Das war allerdings der Moment, in dem die ersten Pfeile der Ute schon in die Seite des Hauses einschlugen, und James aufging, daß er von Indianern angegriffen wurde.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #18 am: 6.01.2006 | 20:30 »
Sylvia und Kim waren draußen und liefen den Indianern entgegen (ich weiß nicht mehr warum, aber ich bin sicher, es gab einen guten Grund dafür). Ich wollte eigentlich hinterher, konnte aber nicht sehr schnell hinken. Als ich oben die Axtschläge hörte, beschloß ich, lieber umzukehren und nach Brian zu sehen. Irgendwie dachte ich mir schon, daß James und Anne nicht so erfreut reagieren würden.
Aber als ich oben ankam, waren die ersten Indianer schon auf Schußreichweite heran, und James kam mir auf der Treppe entgegen. Sein Gesicht war wutverzerrt, und er murmelte etwas von "verdammten Rothäuten", denen er es schon zeigen werde. Ich achtete nicht weiter auf ihn.
Oben hatte Brian die Tür schon fast eingeschlagen und konnte sie mit einem kräftigen Tritt öffnen. Die beiden Typen lagen voll bekleidet auf ihren Betten und schienen zu schlafen. Während Brian anfing, ihre Satteltaschen zu durchwühlen, sah ich mir Smith näher an. Er atmete und hatte auch einen Pulsschlag, wachte aber nicht auf. Erst als ich ihm eine leichte Ohrfeige versetzte, griff er blitzschnell nach meinem Arm und hielt ihn eisern fest.
Ich hatte eine kurze Diskussion mit ihm darüber, was eigentlich los ist und wem die Kette rechtmäßig gehört. Die Zeit nutzte Brian aus, fand das Schmuckstück in der Satteltasche und lief nach unten.

Als ich merkte, daß er nicht mehr da war, verließ ich das Zimmer auch (Smith hatte meinen Arm zwischenzeitlich wieder losgelassen). Ich machte noch einen kurzen Abstecher zu meinem Zeug, um das Uncompaghre-Wörterbuch zu holen, dann rannte ich auch nach unten.
Kim und Sylvia hatten sich ins Gras fallen lassen, als die Indianer anfingen, mit Pfeilen zu schießen. Im Gegensatz zu den Indianern in der Geisterstadt schienen die hier durchaus real zu sein - zumindest real genug, um uns zu verletzen.
James tauchte am Fenster auf und fing seinerseits an, mit seinem alten Gewehr auf die Angreifer zu schießen. Kim schrie, er solle aufhören, wir wüßten, was die Ute wollten, aber James hörte nicht auf ihn. Mitten im Pfeilhagel sprang Kim auf und lief gebückt auf die Hütte zu, um den alten Mann aufzuhalten. Dabei erwischte ihn ein Pfeil am rechten Ohr, aber das hielt ihn nicht auf. Er kam an das Fenster und griff nach James´ Gewehr.
Die beiden rangen miteinander um die Waffe, als Brian unten ankam. Er versuchte zuerst, James mit Worten zu beruhigen, aber der alte Mann blieb stur und versuchte, auf Kim anzulegen. Brian zog seine eigene Waffe und brüllte, er sei vom CPD und James solle sein Gewehr sofort fallen lassen, sonst müsse er von der Schußwaffe Gebrauch machen. James zögerte noch einen Moment, dann ließ er die Waffe tatsächlich fallen.

Als ich die Treppe herunterkam, hatte Brian gerade ein weißes Tuch gepackt, um damit zu signalisieren, daß wir verhandeln wollen. Er gab mir die Kette, da ich als einziger ein paar Worte Uncompaghre spreche, und wedelte mit seiner weißen Fahne aus der Tür. Plötzlich griff eine Hand nach der improvisierten Flagge und riß sie Brian weg. Im nächsten Moment stand ein hünenhafter Krieger in der Tür und hielt ihm seine Tomahawk an die Kehle. Ich sagte ihm, wir wären keine Feinde, wir hätten die Kette, wir wollten keinen Kampf. Dabei hielt ich ihm das Schmuckstück hin. Er nahm es an sich, ohne Brian loszulassen, und verließ die Hütte mit der Kette und seiner Geisel. Ich folgte ihm - Brian konnte ihn nicht verstehen, und ich wollte ihn nicht allein lassen.
Als der Krieger merkte, daß ich hinter ihm war, sagte er, ich solle zurück bleiben, also hielt ich mehr Abstand. Im Wald trafen die drei überlebenden Ute wieder zusammen. Einer von ihnen hielt Brian einen Vortrag, von dem ich nur ein paar Worte verstehen konnte, "unser Eigentum", "Verräter" und natürlich "Kette". (Ich nehme an, er ging irgendwie davon aus, daß jemand, der auf seinem Land herumlief, auch seine Sprache verstehen sollte. Was Brian aber leider nicht tat).
Dann griff er sich ein Büschel von Brians Nackenhaaren und schnitt sie und die Haut darunter mit seiner Axt ab. Dann sagte er leise etwas, was Brian nicht verstand. Ich war zunächst zu weit weg, aber als ich Brians schmerzhaftes Aufkeuchen hörte, ging ich näher. Der Krieger wiederholte das Wort, und diesmal verstand ich es: "Lauf."

Ich rief Brian die Übersetzung zu, und gemeinsam machten wir uns aus dem Staub. Die Indianer folgten uns nicht. Brian rannte wie ein Besessener, er hatte offenbar gedacht, die Ute wollten ihm den Schädel einschlagen wie dem Dieb in der Geisterstadt. Erst als er aus dem Wald heraus auf die Lichtung kam, auf der die Hütte von James und Anne stand, hielt er an und brach zusammen. Sylvia, die den ganzen Angriff über in Deckung im hohen Gras gelegen hatte, rannte zu ihm hin, um sich um ihn zu kümmern.

Smith und Jones hatten die Hütte mittlerweile ebenfalls verlassen. Gerade als ich auch aus dem Wald kam (ich konnte nicht so schnell rennen wie Brian, nicht mit meinem blöden Knöchel), sah ich, wie sie auf die Pferde stiegen und losritten. Ich dachte, sie wollten die Ute suchen, um ihnen die Kette wieder abzunehmen, also kehrte ich um und lief wieder in den Wald. Genug Worte für eine Warnung an die drei Krieger würde ich schon zusammenkriegen.
Natürlich waren sie nicht mehr da, wo ich sie zuletzt gesehen hatte, aber davon ließ ich mich nicht aufhalten. Es war nicht sonderlich schwierig, die Pferde der beiden Typen zu finden. Leider (oder glücklicherweise) waren Smith und Jones nicht mehr bei ihnen, sondern hatten sie im Wald angebunden. Nachdem ich die beiden Tiere verscheucht hatte, machte ich mich auf die Suche nach ihren Besitzern. Und natürlich kam es, wie es kommen mußte: Ich verlief mich im dunklen Wald. Manchmal sollte ich wirklich daran denken, daß ich ein Stadtjunge bin und kein wildniserfahrener Dakota.

Bei der Hütte versorgte mittlerweile Anne Kims blutendes Ohr und Brians aufgeschnittenen Nacken. Das war gar nicht so einfach: Als Brian merkte, daß ich nicht hinter ihm aus dem Wald gekommen war, wollte er sofort losrennen und mich suchen. Es brauchte Sylvias und James` ganze Überredungskunst, ihn davon abzuhalten. Er beschränkte sich dann darauf, vor der Hütte einmal in die Luft zu schießen und in unregelmäßigen Abständen meinen Namen zu brüllen, bis er heiser war. James versprach ihm schließlich, sich sofort bei Sonnenaufgang auf die Suche nach mir zu machen. Brian sah ein, daß er Schlaf brauchen würde, und legte sich drei Stunden hin. Danach war er allerdings noch lange nicht fit, und es gelang James, ihn zu überzeugen, daß er bei der Suche nur im Weg sein würde. Dann brach der alte Mann allein auf.

Ich hatte mich solange auf einem Baumstumpf niedergelassen. Ich wußte ungefähr, in welche Richtung ich von der Hütte aus gelaufen war. Bei Sonnenaufgang am nächsten Tag wollte ich mich orientieren und auf die Suche nach dem Bach machen. Das war ein ziemlich guter Plan, und er hätte wahrscheinlich auch geklappt, wenn nicht mitten in der Nacht irgendetwas fürchterlich geknarzt hätte und ich nicht in Panik geraten und blindlings losgerannt wäre. Hmm, das wollte ich eigentlich nicht erzählen, aber jetzt ist es wohl zu spät. Durchstreichen mag ich´s nicht.
Am nächsten Morgen hatte ich natürlich keine Ahnung mehr, wo ich war, aber ich dachte mir, daß der Bach wahrscheinlich im Tal fließen würde, also stolperte ich bergab. Ich kann nicht ganz falsch gewesen sein, denn unterwegs traf ich James, der nach mir suchte. Eine Weile lang gingen wir gemeinsam zurück, bis ich nicht mehr laufen konnte. Ging einfach nicht mehr, der Knöchel hatte einfach die Schnauze voll. Ich bin so lange gelaufen, wie es ging, und dann bin ich sang- und klanglos umgekippt. Der alte Mann hat mich zurück zur Hütte getragen. Peinlich.

Danach war erstmal Schluß mit Exkursionen. Brians Kopf maulte wieder, mein Knöchel sah aus wie eine rot-violette Melone und Kims Bein hatte das Herumgerenne letzte Nacht auch nicht sehr gut getan. Sylvia war nichts passiert. Naja, die ist ja auch vernünftig. Und nicht der Lone Ranger. (Wo kam das denn her? Ich schätze, ich würde mich gern auch für vernünftig halten. Leider sind mein Knöchel und mein Arm ganz anderer Ansicht, und es ist schwer, die zu ignorieren. Und wenn ich schon nicht vernünftig bin, will ich lieber ein harter Mann sein als ein Kindskopf. ()

Ach so, als James mich zurückbrachte, schlief Sylvia noch. Brian sorgte dann dafür, daß der Alte mich zu ihr ins Bett legte, unter dieselbe Decke. Sie hat nichts davon gemerkt.
Ich weiß nicht, was das sollte, lieber Brian. Es war Sylvia und mir irgendwie peinlich, als wir aufgewacht sind. Ja, wir haben schon öfter im selben Bett geschlafen, aber jeder unter seiner eigenen Decke. Keiner von uns beiden verspürt den Wunsch, mit dem jeweils anderen herumzukuscheln. War das klar und verständlich ausgedrückt?

Während Brian, Kim und ich herumlagen und nicht viel tun konnten, untersuchte Sylvia die Satteltaschen von Smith und Jones. Sie hat eine vollständige Liste, aber der ungefähre Inhalt war:
- Kleidung
- drei Paar Sonnenbrillen
- zwei Kännchen Öl
- 5 CD-Roms mit hunderten von pdf-Dateien
- Kaffeebonbons
- zwei runde, silbrige Broschen mit einem roten Edelstein und einer Zierkerbe.
- ein Paar Handschellen (ohne Schlüssel)
- Pferdestriegel und anderes Pflegezeug für Pferde

Die Broschen beschäftigten uns natürlich. Sie sahen metallisch aus, waren auch angemessen schwer, bestanden aber aus Plastik (das hat Kim festgestellt, als er darauf herumgelutscht hat. Ich weiß nicht, warum Kim auf der Brosche lutschen wollte. Claire hätte sicher eine interessante Erklärung dafür... ). Wir vermuten, daß sich etwas im Inneren befindet, haben sie aber bisher nicht aufgemacht, weil Brian und Sylvia der Meinung waren, es könnte Sprengstoff drin sein.
Merkwürdigerweise hatten die beiden Typen keine Hygieneartikel dabei. Keine Zahnbürste, kein Shampoo, kein Rasierzeug. Und die sahen nicht gerade unrasiert aus.
Da wir die CD-Roms sehr spannend fanden, mußten wir den Akku von Sylvias Laptop aufladen. Ja, mit diesem blöden, surrenden, kleinen Kurbel-dir-einen-Ast-ab-Handgenerator. Drei Tage haben wir gebraucht, bis der Akku halbwegs voll war. Dabei konnten wir uns wenigstens ein bißchen ausruhen.

Sylvia hat während dieser Zeit Anne beim Sammeln von Pilzen und Beeren geholfen. Wir durften ja nicht aufstehen, also beschränkte sich unser Zeitvertreib auf Kurbeln. Okay, ich bin ehrlich, Brian und Kim haben den Hauptanteil der Arbeit gemacht. Mit links zu kurbeln ist irgendwie ungeschickt.
Smith und Jones tauchten nicht wieder auf. Entweder haben die Indianer sie erwischt, oder sie sind auf die falsche Zeitschiene geraten. (Foreshadowing strikes again!)

Schließlich war es soweit: Wir konnten die CD-Roms öffnen. Auf jeder davon waren viele pdf-Dateien, jede einzelne mit einem Passwort gesichert. Sylvia, Kim und Brian mutierten kurz zu einem Hackerclub und erzählten sich gegenseitig, wie sie ein solches Passwort innerhalb von nur wenigen Wochen knacken könnten, wenn sie nur Anschluß ans Internet hätten. Ich schätze, daraus wird in der nächsten Zeit nichts. Sind wahrscheinlich sowieso nur Backup-Programme für die FBI-Androiden.
Sylvia lud die Dateien auf ihr Laptop runter und packte die CDs wieder in die Satteltaschen. Die wollten wir mitnehmen und beim nächsten Polizeirevier abgeben. Schließlich könnte es immer noch sein, daß Smith und Jones zum FBI gehören.

Am nächsten Tag verabschiedeten wir uns von James und Anne. Es ging uns allen besser, mein Fuß passte wieder in einen Schuh, und wir wollten endlich weiter. So freundlich die beiden Alten zu uns waren, irgendetwas war seltsam an ihnen, auch wenn ich nicht sagen kann, was. Ich mochte James nicht, weil er ein paar rassistische Bemerkungen gemacht hat, aber das war es nicht (denke ich).

Da fällt mir ein: Während der drei Tage fiel mir ein, wo ich die Tigeraugenkette schon einmal gesehen hatte. Es war bei einem großen Lakota-Powwow auf Pine Ridge. Da hieß es, die Kette wäre den Lakota heilig und würde ihrem Stamm gehören. Ich weiß nicht, wer sie damals trug, aber vielleicht fällt es mir ja noch ein. Oder ich frage meinen Großvater. Wenn sie unserem Stamm heilig ist, dann weiß er auch etwas darüber.
Brian, Sylvia und Kim waren nicht so erstaunt wie ich. Sie vermuteten, daß es vielleicht mehrere Ketten geben könnte, die als Geschenke oder Bündniszeichen zwischen den Stämmen gedient hätten. Oder die Kette sei das Beutestück eines Lakota gewesen. Das kann immerhin sein, aber irgendwie glaube ich das nicht. Heiligen Schmuck zieht man nicht in den Krieg an, es sei denn, es ist Kriegsschmuck. Aber so sah die Kette nun wieder nicht aus. Ich hoffe, mir fällt noch ein, wer sie getragen hat, dann weiß ich vielleicht mehr.
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #19 am: 9.01.2006 | 23:36 »
Und dann passierte das, worauf wir alle schon unterbewußt gewartet hatten: Wir gerieten in die Vergangenheit. Allerdings nicht so, wie wir dachten...

Die Brücke - Norden und Süden

Wir ritten einige Tage völlig friedfertig durch die bewaldeten Berge von Utah. Wenn es nicht ständig irgendwelche Vögel gegeben hätte, die meinten, es wäre doch toll, morgens um halb Fünf einen Mordsradau zu machen, wäre es das Paradies gewesen. Naja, so viel zur "Ruhe der Natur".
Der nächste Ort, an dem wir anhalten wollten, war Antimony, immer noch in Utah. Dort hofften wir, ein paar Vorräte einzukaufen, und vielleicht ein Telefon zu finden, damit wir mal wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen können. Leider wurde daraus nichts. Hey, wir hatten sechs Tage Ruhe, allmählich wurde es ja auch Zeit für ein bißchen Action, oder?
Am Ufer des Otter Creek fanden wir eine Leiche. Nein, das ist falsch. Als wir Timothy fanden, war er noch keine Leiche. Nur kurz davor. Er kroch schwer verletzt durchs Gras, als wir bei ihm ankamen, und starb kurz darauf in Sylvias Armen. Kein großes Rätsel, woran: Er hatte zwei Einschußlöcher in der Brust.
Das Merkwürdige an Timothy war seine Kleidung: Er trug eine blaue Nordstaatenuniform aus der Zeit des Bürgerkriegs. Zuerst vermuteten wir ja, er könne ein Reenactor sein, aber keiner von uns dachte wirklich, daß sein Tod auf eine Fehde zwischen Bürgerkriegsfanatikern zurückging. Seine Uniform sah eigentlich auch sehr originalgetreu aus. Er hatte einen Einberufungsbefehl bei sich, der ihn an den Junction Creek zur 7. Infanterieeinheit bestellte, um dort die Brücke zu halten. Natürlich war das auch die Brücke, die wir hätten überqueren müssen, um nach Antimony zu kommen.
Wir beschlossen, den guten Mann am Ufer liegenzulassen und die Polizei zu verständigen. Seinen Befehl nahm Brian mit.

Nach Antimony hatten wir von Otter Creek aus noch zwei oder drei Stunden zu reiten, also wollte Sylvia traben üben. Brian und Kim waren noch zu angeschlagen, um schneller als Schritt zu reiten, und so blieben sie ein Stück zurück. Außerdem ist es ohnehin einfacher, nur einer Person zu zeigen, wie man sich auf einem Pferd bewegt.
Sylvia und ich waren gerade mitten auf dem Weg, als vor uns eine Mörsergranate (oder wie die Dinger heißen) explodierte. Sylvia flog vom Pferd, ich konnte mich oben halten, aber natürlich ging Moses durch. Und plötzlich explodierten überall um uns herum Geschosse. Brian und Kim, die nicht allzu weit hinter uns waren, gerieten auch ins Kreuzfeuer - Brian stürzte, Kim konnte sich halten.
Nach einigem Hin und Her wurden unsere Pferde von ein paar Soldaten in Nordstaatenuniform eingefangen (außer denen, die Kim zurückbrachte).

Die Jungs waren ein bißchen seltsam drauf: Sie dachten, wir wären ihre Verstärkung. Sie dachten auch, wir hätten ebenfalls Nordstaatleruniformen an, und außerdem hielten sie Sylvia für einen Mann. Kims seltsame Fragen und unsere Proteste übergingen sie einfach. Sagten, wir müßten auf den Major warten, und brachten uns erstmal hinter ihren Stellungen unter.
Brian hatte diesen militärischen Tonfall richtig gut drauf. (Ich weiß nicht, warum. Ich schätze, er hat ein paar Computerspiele in der Richtung gespielt. Ich bin kein so großer Fan von Kriegs- oder Strategiespielen.) Wir haben als erstes festgestellt, daß "Ist das hier real?" die falsche Frage ist - "Ist das real genug, um uns umzubringen?" war viel besser. Und die Antwort auf diese Frage war leider eindeutig "Ja", die Mörserdingersplitter hatten mir und Sylvia einige blutige Kratzer gerissen. Also beschlossen wir, die Situation als real zu behandeln und möglichst schnell zu sehen, daß wir hier wegkamen.

Nachdem das Donnern der Geschütze nachgelassen hatte, tauchte ein alter Haudegen bei uns auf, Major Carlisle. Er gab uns erstmal was zu trinken und erklärte uns dann, daß es unsere Aufgabe sei, die verdammte blöde Brücke einzunehmen. Warum? Befehl vom Oberkommando. An anderen Details war er nicht sehr interessiert.
Wir durften dann erstmal gehen und kriegten ein Zelt zugewiesen. Unterwegs stellten wir fest, daß die Soldaten der Meinung waren, es sei der 5. August 1863 (also mitten im Bürgerkrieg; wenn ich auch bisher nie gehört habe, daß da in Utah gekämpft wurde - das war zu dem Zeitpunkt noch nicht mal ein Bundesstaat). Wir kamen auch am Lazarettzelt vorbei, wo einem jungen Mann gerade das Bein abgesägt wurde.

In unserer Unterkunft überlegten wir uns lange und ausführlich, was wir jetzt tun könnten. Es war klar, daß wir am nächsten Morgen nicht auf der Brücke kämpfen wollten. Also mußten wir mehr über die Situation an sich erfahren.
Kyle, ein junger Soldat, erzählte uns, daß die Kämpfe an der Brücke "schon seit Ewigkeiten" andauerten. Die Nordstaatler waren nicht sehr motiviert, was ihren Auftrag an sich anging, aber von ihrer Sache waren sie vollkommen überzeugt. Friedensverhandlungen fielen also flach.
Unsere Pferde wurden von einem einzelnen Stallknecht bewacht, und es gab ein gut gefülltes Munitionsdepot. Brian und ich durften das Lager sogar verlassen, um Timothys Leiche zu holen. Dabei sahen wir, daß auch auf der Nordseite Wachen aufgestellt waren, allerdings nicht sehr viele.
In der Hoffnung, vielleicht noch einige andere Leute aus unserer Zeit zu finden, ging Kim durchs Lager und spielte moderne Lieder auf seiner Gitarre. Im Lazarettzelt wurde er fündig: Zwei schwer verletzte junge Männer summten sein Lied mit, aber beide waren nicht wirklich ansprechbar (dem einen fehlte ein Arm, dem anderen ein Bein).

Es wurde immer später, und wir wußten immer noch nicht, was eigentlich los war. Irgendetwas stimmte hier nicht, und das hatte nichts damit zu tun, daß der Bürgerkrieg schon seit über 140 Jahren vorbei war oder nie hier in der Gegend ausgekämpft wurde. Die Leute waren einerseits so kampfmüde, aber andererseits so blind gehorsam...
Ich hatte eigentlich vor, eine Ablenkung zu inszenieren und abzuhauen, aber Brian wollte nicht. Er dachte, daß es eine andere Lösung geben müßte, und er hatte auch recht (wir sind ein bißchen aneinander geraten, weil er nicht sagen konnte, was wir genau machen sollten, und ich einfach nur irgendwas tun wollte, was er aber für viel zu gefährlich hielt).

Irgendwann fiel uns auf, daß wir den blinden Gehorsam der Leute vielleicht irgendwie ausnutzen könnten. Sie mußten die Brücke erobern, das sagte der Befehl, aber wenn die Brücke nicht mehr da wäre? Sie konnten das Ding nicht in die Luft sprengen, sie hatten keinen Befehl dazu, aber wir? Uns war doch der blöde Befehl egal.
Also brachten wir den Major dazu, uns einen Wisch auszustellen, der besagte, daß wir Munition und Dynamit zur vordersten Frontlinie bringen sollten. Er wußte ganz genau, was wir vorhatten, aber er unterschrieb trotzdem. Mit einem Grinsen.
Wir schleppten das ganze Zeug mit einem Karren auf die Brücke und überliessen den Rest Brian. Der baute sich mittlerweile aus Timothys Taschenuhr, Sylvias Laptopakku, dem kaputten Kurbelgenerator (der hatte nach der Drei-Tage-Kurbeln-Aktion den Geist aufgegeben) und noch ein paar anderen Kleinigkeiten einen Zeitzünder zusammen. Manchmal hat er echte MacGyver-Qualitäten.

Jedenfalls zündeten wir sieben Kisten mit Dynamit-Stangen mitten auf der Brücke. Das war die erste Explosion bei dieser ganzen Geschichte, die wirklich filmreif aussah, und sie zerriß das hölzerne Gerüst beinahe vollständig. Hinterher standen am Ufer des Flusses nur noch ein paar schwelende Brückenköpfe.
Die Nordstaatler waren völlig begeistert. Der Major rief die ganze Zeit: "Es ist kaputt, das blöde Ding ist endlich kaputt", und die anderen Soldaten fielen sich lachend in die Arme. Brian klaute sich einen Feldstecher, konnte aber nicht sehen, wie die Südstaatler auf der anderen Seite reagierten. Jedenfalls fingen sie nicht an, mit ihren Mörsern zu feuern.
Trotz der Euphorie wollten wir so schnell wie möglich weg. Wir stiegen auf unsere Pferde und die beiden FBI-Tiere, griffen uns unsere Vorräte und alles, was uns der Quartiermeister gegeben hatte (inklusive der schicken blauen Uniformen), und ritten in den Sonnenaufgang davon.

Gegen Mittag kamen wir noch einmal zurück. Das Lager der Nordstaatler war noch da, aber vollkommen verlassen. Auch auf der anderen Seite war niemand mehr zu sehen. Und die blöde Brücke war tatsächlich kaputt.
Da wir den Fluß jetzt nicht mehr überqueren konnten, beschlossen wir, nach Westen zu reiten, auf die Stadt Kingston zu. Mal schauen, ob wir immer noch im Jahr 1863 sind, wenn wir da ankommen. Und ob die Leute in uns immer noch vier nette junge Männer anglo-amerikanischer Herkunft sehen....
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #20 am: 9.01.2006 | 23:37 »
Das hier schreibe ich direkt nach dem Kampf gegen die Hollow Men in New Fortune. Es geht mir gerade nicht sehr gut.

New Fortune - Die Schlacht

Wir haben den Weg nach Kingston problemlos gefunden. Die Stadt war nicht da. Nur unberührte Wildnis. Wir sind weitergeritten, bis wir eine Furt im Sevier gefunden haben. Auf der anderen Seite haben wir gelagert. Beim Holzsammeln hat Brian ein Blechschild gefunden. Es stand  "Willkommen in Western City" drauf. Hier ist der Wilde Westen noch lebendig. Das Schild sah ziemlich neu aus. Western City war ursprünglich eine kleine Goldgräberstadt namens New Fortune. Wurde aber im 19.Jhd. verlassen. Stand im Reiseführer.
In der Nacht hat Kim ein paar Typen auf Pferden belauscht. Morgen würde irgendwas in Western City passieren. Die Kerle sahen abgerissen aus. Hatten einen Schriftzug auf ihre Jacken aufgenäht. HM.
Am nächsten Tag fanden wir eine kleine Siedlung in einem Seitental. Es war nicht Western City. Es war New Fortune. Behaupteten die Leute. Bis auf ihre kräftigen weißen Zähne sahen sie authentisch aus.

Ich kann jetzt nicht weiterschreiben. Ich bin völlig erledigt, muß erstmal schlafen. Wenn ich kann. Später mehr.

Da bin ich wieder. Tut mir leid, als ich versucht habe, die Sachen da oben aufzuschreiben, ging´s mir nicht gerade gut. Ich hatte mir noch nicht einmal das Blut aus dem Gesicht gewaschen... jetzt weiß ich, daß ich in diesem Zustand lieber nichts schreiben sollte. Ich hoffe, es wird besser.

Wo war ich stehengeblieben? Bei unserer Ankunft in New Fortune. Tja, schon beim ersten Gespräch erfuhren wir, daß wir immer noch in der Vergangenheit waren - in diesem Fall, am 7. August 1842. Immerhin schienen die Goldwäscher uns nicht als Soldaten oder so etwas zu sehen.
New Fortune war keine sehr große Stadt: Es gab einen General Store, einen Saloon, ein Sheriff´s Office, ein größeres, stabil aussehendes Gebäude, das wir für die Bank hielten, und eine Art Kirche oder Kapelle. Sylvia wollte zuerst zur Kapelle, und da wir keine Ahnung hatten, wie oder als was die Leute hier uns sehen, sind wir alle mitgegangen.

In der Kirche lernten wir dann Pater Peter Jackson kennen (das hat mich einen Moment irritiert - ich habe einen Cousin namens Peter. Glücklicherweise sind die beiden sich kein bißchen ähnlich). Er war sehr freundlich und erzählte uns, daß die nächste Stadt Flagstaff sei. Wir würden wohl vier oder fünf Wochen brauchen, um da hin zu kommen. Das ist natürlich einigermaßen merkwürdig, weil es Flagstaff 1842 noch gar nicht gab. Die Stadt wurde erst 1876 gegründet, von dem Schafhirten Thomas Forsyth McMillan (sagt zumindestens mein Reiseführer). Immerhin stimmt die Reisezeit.
Nach dem Besuch in der Kirche sind wir zum General Store gegangen. Da mußten wir dann erfahren, daß unser Geld leider vollkommen wertlos ist. Brian hat der guten Frau erzählt, wir hätten einem betrügerischen Rancher bei einem Viehtrieb von Texas geholfen und wären dafür mit diesem Geld bezahlt worden. Sie hatte nicht viel Mitgefühl mit uns, meinte aber, sie wäre auch bereit, Waren zu tauschen.

Wir haben uns erstmal zur Beratung zurückgezogen. Immerhin hatten wir ja einiges an Tauschmaterial: Die Armeegewehre, die wir von der Junction-Creek-Brücke mitgenommen hatten, ein bißchen moderner Schnickschnack wie Feuerzeuge oder so, und Smith und Jones, die beiden FBI(?)-Pferde. Leider hatten wir aber keine Ahnung, welchen Wert unsere Waren besitzen, also haben wir noch einmal den Pfarrer besucht und ihm unser Leid geklagt. Er hat uns erstmal zum Essen eingeladen (Bohnen & Hartwurst) und dann geraten, unser Zeug bei Michael Thornton, dem reichsten Mann des Ortes, zu verkaufen. Er wohnte in dem großen Haus, das wir für eine Bank gehalten haben.
Durch ein paar Bemerkungen, die im General Store gefallen sind, wußten wir, daß uns die Einwohner von New Fortune mit unseren echten Gesichtern sehen. Also sind Brian und Sylvia Zeug verkaufen gegangen, und Kim und ich haben beschlossen, uns ein bißchen in der Gegend umzuschauen.

Ich weiß nicht genau, was Brian und Sylvia alles getrieben haben. Sie waren wohl bei Thornton und haben ihm Smith und das Feuerzeug verkauft. Und Sylvias Burgfräulein-Kleid, das sie in Salina (?) gekauft hatte, gegen ein unauffälligeres Westernkleid eingetauscht.

Kim und ich waren zunächst beim Sheriff und haben ihn nach den schwarzgekleideten Typen gefragt, aber er war sehr abweisend und erklärte uns nur, er wolle keinen Ärger in der Stadt haben. Irgendwie schien er unserer Versicherung, daß wir nicht vorhätten, welchen zu machen, nicht zu glauben. Wahrscheinlich, weil wir beide nicht weiß sind. Blöder Rassist.
Wir haben uns dann verkrümelt und auf einem Hügel außerhalb der Stadt niedergelassen. Kim hat Gitarre gespielt, ich habe Kräuter gesucht (nicht, daß ich viel davon verstehen würde. Aber ich dachte mir, es könnte ja nichts schaden, wenn ich versuche, ein paar von den Dingen, die mir mein Großvater beigebracht hat, wieder aufzufrischen), und nebenher haben wir die Straße im Auge behalten.
Irgendwann tauchte dann eine Horde Kinder auf. Kim hat sie erstmal verscheucht, weil sie ihm blöde Fragen gestellt haben. Aber ein Junge ist zurückgeblieben und ich habe mich ein bißchen mit ihm unterhalten. Er hieß Billy, konnte nicht lesen und schreiben und mochte die schwarzgekleideten Typen nicht, weil sie ihn und die anderen Kinder immer von der Straße verjagen und auch ansonsten wohl ziemlich unangenehme Zeitgenossen sind. Billy nahm an, daß sie für Mr. Thornton arbeiteten (das stellte sich später als falsch heraus). Wir haben uns ein bißchen über New Fortune unterhalten, bis seine Mutter auftauchte und ihn nach Hause scheuchte. Kurz darauf sahen Kim und ich, wie sich vier von den Typen in Schwarz der Stadt näherten. Wir befürchteten wieder mal das Schlimmste, also haben wir uns auf den Rückweg gemacht.

In New Fortune trafen wir Sylvia wieder, die gerade bei den Pferden stand (oder war das Brian? Nein, ich denke, es war Sylvia). Die Typen in Schwarz waren bei Thornton gewesen - ich erfuhr später von Sylvia und Brian, daß sie ihn irgendwie bedroht hatten. Sie standen auf der Straße rum und wollten auf ihre Pferde steigen, als sie uns bemerkten. Sylvia und Kim taten so, als wären sie schwer mit ihren Pferden beschäftigt, aber ich hatte keine Lust, gleich vor den Typen zu kuschen, also blieb ich erstmal stehen.
Es kam, wie es kommen mußte: Die vier HM´s kamen auf mich zu, wir haben uns gegenseitig ein bißchen beleidigt, und es kam zu einer Schlägerei zwischen mir, Kim und ihnen. Sylvia hat sich klugerweise zurückgehalten, Brian hat ihre Pferde losgebunden, um sie abzulenken (schade, daß sie das nicht gemerkt haben). Schließlich griff der Sheriff ein, scheuchte die HM´s aus der Stadt und schleifte mich und Kim in eine Zelle, in der wir über Nacht bleiben sollten.

Hinterher haben mir alle gesagt, daß es nicht gerade besonders intelligent war, mich mit den vier Typen anzulegen. Da haben sie wohl recht, und mir war das ja auch durchaus klar, als ich meinen Mund aufgemacht habe, um die Beleidigungen der Typen zu entgegnen. Warum bin ich also nicht einfach still geblieben?
Antwort: Ich kann Rassisten nicht leiden. Das ist ein rotes Tuch bei mir. In Nebraska und South Dakota habe ich öfters ansehen müssen, wie die weißen Leute meine Verwandten behandeln, wenn wir zusammen in die Stadt gefahren sind, und da kann ich meine Klappe einfach nicht halten. Geht nicht. Ging noch nie, und das hier war auch nicht das erste Mal, daß ich Ärger deswegen bekommen habe (keine Schlägereien, bisher. Dafür war ich immer zu feige - hatte Angst, daß mir jemand weh tun könnte. Hah.) Ist wie ein Knopf, auf den man bei mir drückt, und dann fange ich an, Stress zu machen. Sowohl Brian als auch Kim haben mir gesagt, ich wäre wie Marty McFly aus "Zurück in die Zukunft" (völlig unabhängig voneinander, übrigens). Da könnten sie recht haben.
Ich sehe ja ein, daß das kein sehr brilliantes Manöver war, schon gar nicht '1842', wo die Typen mich auch einfach über den Haufen hätten schießen können. Ich werde versuchen, mein Temperament im Zaum zu halten, aber ich kann nichts versprechen.
Ach ja, nur zur Information: Das ganze funktioniert nicht nur bei Rassisten, sondern auch, wenn jemand behinderte Leute schlecht behandelt. Noch ein rotes Tuch.
Oh Mann, wie bin ich eigentlich auf die Idee gekommen, ich sei ein friedfertiger Mensch? Ich weiß nur, daß ich das bis zu Beginn unserer Reise fest geglaubt habe.

Weiter mit New Fortune. Kim und ich saßen also in der Zelle. Brian und Sylvia haben zwar versucht, uns irgendwie rauszuholen, aber der Sheriff hat auf stur geschaltet. So hatten sie wenigstens Zeit, Vorräte für die nächsten paar Wochen einzukaufen. Ich nehme an, daß sie bei Vater Peter übernachtet haben, genau weiß ich es nicht.
In unserer Zelle haben Kim und ich noch lange über alles mögliche geredet. Irgendwann spät am Abend tauchte dann Billy auf. Er erzählte uns, wie schlimm und übel diese Hollow Men (jaja, die HM´s sind Hollow Men. Was auch sonst?) wären und daß sie seine Mutter und andere Leute drangsaliert hätten. Könnten wir nicht irgendwas tun?

Da war es wieder, das 'Lone Ranger'-Problem. Wie kommen die Leute nur darauf, daß ich/wir ihnen gegen alle möglichen Schurken helfen können? Erst Edgar in Salina, jetzt Billy hier.
Naja, Kim und ich versprachen ihm, zu sehen, was wir tun könnten. Danach haben wir beraten. Uns war schnell klar, daß wir die Hollow Men nicht einfach alle umbringen wollten, also haben wir nach einer Alternative gesucht. Und auch eine gefunden: Kim war es mit seiner Musik schon einmal gelungen, etwas zu ändern. Warum sollte das also nicht noch einmal klappen? Wir würden einfach zusammen ein Lied schreiben, daß den Hollow Men vor Augen führen sollte, was für ein Leben sie führen. Dann sollten sie sich entscheiden: Einfach so weiterzumachen wie bisher oder einen besseren Weg zu finden.
Ich weiß nicht warum, aber in dieser Nacht in der Zelle hat das tatsächlich einen Sinn ergeben. Wir hatten beide das euphorische Gefühl, einen Plan zu haben, der funktionieren könnte. Schlafmangel und zuviele Bohnen, schätze ich. Immerhin ist ein wirklich schönes Lied dabei herausgekommen, auch wenn ich nicht glaube, daß Kim es noch sehr häufig spielen wird.

Am nächsten Morgen ließ uns der Sheriff also aus unserer Zelle. Sylvia und Brian standen schon mit den Pferden bereit und wollten sofort aufbrechen. So weit alles kein Problem, aber gerade, als wir hinter dem Haus aufsteigen wollten, hörten wir lautes Hufgetrappel.
Da kamen sie wieder, die Hollow Men. In diesem Fall waren es acht, alle bis an die Zähne bewaffnet und auf Ärger aus. Vom Sheriff war auf einmal nichts zu sehen. Wahrscheinlich hätten wir sogar abhauen können - wir haben die Typen bemerkt, bevor sie uns gesehen haben. Aber Kim und ich hatten ja einen Plan, und den wollten wir jetzt auch durchführen. Brian war einverstanden, und nach kurzem Zögern hat sich auch Sylvia bereit erklärt, mitzumachen.
Ich habe jetzt keine Lust, die ganze Schießerei in allen Einzelheiten aufzuführen. Nur so viel: Das Lied hat nicht sehr gut funktioniert. Ach was, es hat überhaupt nicht funktioniert. Es kam zu einem heftigen Schußwechsel - keine Toten, aber ich habe ihren Anführer angeschossen, und mich hat´s am Arm erwischt. Ja, am rechten. Wo auch sonst.
Sylvia hatte sich kurz von uns getrennt, um den Hollow Men in den Rücken zu fallen und war dabei erwischt worden. Sie haben ihr mit einigen unschönen Dingen gedroht, sie ist deswegen total durchgedreht und mit Zähnen und Klauen auf die Kerle losgegangen. Der Anführer hat sie mit der Pistole ins Gesicht geschlagen und sie ist zu Boden gegangen. Ich dachte schon, sie wäre tot.

Bevor die Typen uns vollständig niedermachen konnten, ist Vater Peter mit seinem Gewehr aufgetaucht und hat zwei der Hollow Men erschossen. Daraufhin beschlossen sie, erstmal mit der Schießerei aufzuhören.
Als sie gingen, hat der Anführer mich erkannt. Er wußte, wie ich heiße, und er hat mir angedroht, wir würden uns 'wiedersehen'. Ich kniete gerade neben Sylvia, die nicht tot war, aber ziemlich schlimm zugerichtet aussah. Also habe ich auf ihn geschossen. Und verfehlt. Statt dessen traf die Kugel Billy.

Einen Moment lang war ich völlig betäubt. Ich dachte 'das kann jetzt nicht passiert sein, das ist nicht passiert, ich will nicht, daß das passiert ist!' Das hat natürlich überhaupt nichts geändert. Der kleine Junge, der nur zusehen wollte, lag weiterhin am Boden und blutete heftig.
Sylvia sprang auf und rannte los, zusammen mit dem Priester. Billys Mutter tauchte auf und schrie mich an. Ich stammelte irgendwas. Ich glaube, ich sagte ihr, es täte mir leid, aber das hat sie natürlich nicht im mindesten interessiert. Sie schrie nur 'Mörder, Mörder'. So kam ich mir auch vor. Der arme kleine Junge. Er hat mir vertraut, und das hatte er nun davon.
Aber mir wurde langsam auch klar, daß ich so schnell wie möglich aus New Fortune verschwinden sollte, wenn ich mich nicht von einem Lynchmob aufhängen lassen mochte. Und sterben wollte ich trotz allem nicht. Also sind Kim und ich erstmal abgehauen. Helfen konnten wir dem Jungen sowieso nicht. Sylvia, die etwas von Erster Hilfe versteht, blieb mit Brian zurück. Wir machten aus, daß wir uns irgendwo am Weg nach Süden treffen wollten.

Kim und ich sind zwei oder drei Stunden geritten, bevor wir einen guten Lagerplatz gefunden haben. Dort hielten wir erstmal an. Mir ging es eher schlecht, und das nicht nur geistig: Die Kugel in meinem Arm hatte den einen Knochen zerschmettert und war dann im zweiten steckengeblieben. Also war der Arm wieder gebrochen, aber diesmal war das kein netter, glatter Bruch, sondern eine ziemlich tiefe Wunde, die zu allem Überfluß immer wieder anfing zu bluten. Ach ja, weh getan hat es auch. Ich war allerdings so mit meinem Fehlschuß und Billy beschäftigt, daß ich nicht viel davon gemerkt habe.

Wir schlugen erstmal ein Lager auf, Kim sammelte Holz für ein Feuer, ich kümmerte mich um die Pferde. Irgendwann tauchte Sylvia auf (Brian war zurückgeblieben, um den Weg im Auge zu behalten und unseren Rückzug zu decken). Sie hatte sich zusammen mit dem Arzt aus New Fortune um Billy gekümmert. Die Kugel - meine Kugel, seien wir ehrlich - hatte Lunge und Herz glücklicherweise verfehlt, aber der Junge hatte viel Blut verloren. Es sah also nicht allzu gut für ihn aus.
Kaum war Sylvia da, wollte sie sich natürlich um meinen Arm und meinen Gemütszustand kümmern. Kim fing dann auch noch an, auf mich einzureden - ich weiß, ihr beide habt es nur gut gemeint, aber das war in dem Moment einfach zu viel für mich. Also bin ich weggegangen, in die Wildnis. Habe mir einen ruhigen Platz gesucht und angefangen zu singen.

Irgendwann tauchte ein Koyote auf. Ich war vorsichtig (ich war verletzt und geschwächt, und ich wollte mich nicht unbedingt von einem Raubtier aufessen lassen), aber ich habe nicht aufgehört zu singen. Der Koyote schlich eine Weile um mich herum, kam schließlich ganz nah heran. Dann lief er ein Stück voran, und ich folgte ihm. Nach einer Weile kamen wir auf eine Lichtung mit einem staubigen See und einer kleinen, schäbigen Hütte. Der Hütte meines Großvaters. Ich ging hinein, und wir sprachen eine Weile miteinander. Er gab mir einen Becher Wasser zu trinken, und es ging mir besser. Dann wurde es Zeit für mich, wieder zu gehen.

Ich wachte wieder an dem Platz auf, an dem ich angefangen hatte zu singen. Sylvia war auch da - sie wollte mich zum Lager zurückholen und sich um meinen Arm kümmern. Ich hatte gefunden, was ich gesucht hatte, also ging ich mit.
Auch Brian war mittlerweile aufgetaucht. Bisher hatten die Leute in der Stadt noch kein Aufgebot aufgestellt, um nach uns zu suchen, aber die Stimmung dort war ziemlich häßlich. Verständlicherweise. Brian war ziemlich nervös, weil wir unser Lager direkt am Weg aufgeschlagen hatten - ihm wäre es lieber gewesen, wir wären weiter im Wald, wo man uns nicht sofort sehen kann.
Aber Sylvia meinte, mein Arm hätte jetzt Vorrang. Ich konnte ihr nicht unbedingt widersprechen - jetzt, wo ich nicht mehr ständig an Billy denken mußte, merkte ich erst, wie schlimm der Schmerz war. Klar, der Arm hatte auch vorher ständig wehgetan, aber nicht so. Er stand in einem ganz komischen Winkel ab, nicht nur ein bißchen, sondern richtig verdreht. Und die Kugel war noch drin. Sylvia meinte, sie müsste sie entfernen, ansonsten würde ich eine Bleivergiftung kriegen. Also hab ich sie gelassen.
Das war keine so schöne Sache. Sie hat mit einem Messer in meinem Arm rumgekratzt, und ich konnte den Arm nicht so stillhalten, wie ich gesollt hätte. Es war einfach zu schlimm. Ich weiß, daß ich irgendwann geschrieen habe. Ich konnte einfach nicht anders. Irgendwann meinte Sylvia dann, 'ich hab sie'. Dann wurde es schwarz.

Ich bin nach der Operation in einen Schockzustand gefallen. Zuviel Blutverlust, wahrscheinlich. Sylvia hat es nicht geschafft, die Wunde richtig zu versorgen und einen Druckverband anzulegen. Sie war selber völlig erschöpft, und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß es für sie so lustig war, mit einem Messer in meinem Arm nach einer Kugel zu graben. Brrr. Anderes Thema.
Jedenfalls war sie der Meinung, ich bräuchte einen richtigen Arzt, weil ich sonst sterben könnte. Also hat sich Brian wieder auf den Weg nach New Fortune gemacht, um den Arzt dort zu holen. Er war ziemlich gut bewaffnet: Ein Armeerevolver, zwei Armeegewehre und seine Beretta.
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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #21 am: 9.01.2006 | 23:37 »
Als Brian in New Fortune ankam, konnte er schon aus einiger Entfernung sehen, daß die Einwohner jetzt ein Aufgebot aufgestellt hatten. Die Leute waren bewaffnet und kurz vor dem Aufbruch. Brian hat sein Pferd gewendet und ist losgeritten, um uns zu warnen. Schade, daß er nicht sonderlich gut reiten kann (was kann man aber auch erwarten, wenn er sein Pferd 'Salami' nennt?) und unterwegs zwei- oder dreimal gestürzt ist. So konnte die Meute aufholen. Als Brian bei uns ankam, waren sie schon in Hörreichweite.
Kim schnappte sich die Pferde, und er und Brian ritten weiter den Weg entlang, um unsere Verfolger abzulenken. Ich war kurz vorher wieder zu mir gekommen (mit dem charmanten Gefühl, Sylvias Finger in meinem Arm zu haben), war aber noch ziemlich schwach und desorientiert. Immerhin konnte ich wieder halbwegs laufen, und Sylvia und ich haben uns erstmal in den Wald zurückgezogen und dort versteckt.

Irgendwann sollten wir mal eine längere Pause einlegen und Reiten trainieren. Wirklich. Bei der Verfolgung sind nämlich sowohl Brian als auch Kim vom Pferd gefallen. Brian fiel als erster, er konnte sich in den Wald flüchten, wurde aber weiter verfolgt. Er ist dann eine Klippe hinuntergesprungen ('so vier oder fünf Meter') und hat sich das linke Handgelenk geprellt. Es gelang ihm, sich in einen Bach zu retten und erstmal wegzuschwimmen. Als nächstes hat er sich sorgfältig unterhalb des Weges versteckt. Von dort aus sah er erst das Aufgebot und einige Zeit später eine Rotte Hollow Men vorbeireiten.
Kim hatte nicht soviel Glück: Er wurde von der Meute eingefangen und zurück nach New Fortune gebracht. Als Sylvia und ich sahen, daß sie ihn und unsere Pferde hatten, machten wir uns natürlich auch auf den Weg zur Stadt. Wir hofften, Kim dort irgendwie helfen zu können.

In New Fortune beschlossen wir, erstmal den Priester zu besuchen. Vater Peter war zwar überrascht, uns zu sehen, hatte aber glücklicherweise keinerlei Absicht, uns dem Mob auszuliefern. Statt dessen wollte er uns sogar helfen, Kim zu befreien, der mittlerweile vom Sheriff ins Gefängnis gesperrt worden war. Immerhin hatte es keinerlei Lynchjustiz gegeben.
Da wir Kim erst nach Einbruch der Dunkelheit befreien konnten, hat der Priester noch den Arzt geholt, weil mein Arm so komisch abstand. Der hat sich das angeschaut, den Kopf geschüttelt (erinnerte mich ein bißchen an die Mechaniker, die sich unsere kaputten Autos angesehen haben) und dann angefangen, die Knochensplitter rauszupopeln und den Arm zu richten. Weil die blöde Kirche mitten im Dorf stand, konnte ich nicht mal schreien. Das nächste Mal, wenn mir jemand so weh tut, lach ich einfach.
Jedenfalls hat er es geschafft, den Arm zu richten, zu vernähen und irgendwie zu verbinden. Er sieht aber immer noch komisch aus. Im äußeren Knochen fehlt ein Stück.

Schließlich wurde es dunkel. Vater Peter machte sich auf den Weg, um den Sheriff ein bißchen abzulenken, und Sylvia und ich schlichen uns von hinten an das Office an. Wir hatten ein paar nasse Tücher und Stöcke dabei, um die Gitterstäbe am Fenster aufzubiegen (dank Jackie Chan und 'Shanghai Noon' wußten wir ja, wie das geht). Aber als wir ankamen, war Kim schon aus der Zelle draußen und kam uns durch die Hintertür entgegen. Offenbar hat er den Film auch gesehen.
Blieben nur noch zwei Probleme: Unsere Pferde, die vor dem Sheriff´s Office angebunden waren, und Brian, der einfach nicht da war. Aber weil aller guten Dinge drei sind, tauchten auch noch die Hollow Men auf.

Die ritten mit fünfzehn Mann in New Fortune ein und begannen, willkürlich alles zusammenzuschießen. Männer, Frauen, Kinder - egal. Sie haben einfach wild um sich geballert und dabei gegröhlt und gelacht.
Sylvia, Kim und ich sind erstmal ins Sheriff´s Office geflüchtet, um von dort aus auf die Hollow Men zu schießen. Als ich auf einen von den Kerlen gezielt habe, konnte ich erstmal nicht abdrücken. Ich hätte ihn ja verfehlen und irgendeinen Unschuldigen treffen können. Aber dann sah ich, wie der Typ auf eine Frau mit ihren zwei kleinen Kindern zielte, und das hat gereicht: Ich habe geschossen. Und getroffen. Diesmal den Richtigen. Die Frau und ihre Kinder haben überlebt.
Es war eine richtig üble Schießerei. Die Hollow Men standen auf der Hauptstraße und haben versucht, alles umzubringen, was sich bewegt. Nur ein paar der panischen Einwohner haben es in die Kirche geschafft. Irgendwann gelang es mir, den Anführer der Typen zu erschießen (Kim hat zeitgleich sein Pferd erwischt), und da haben sie sich zurückgezogen. Fünf von ihnen sind in New Fortune auf der Straße liegengeblieben. Und über dreißig der Einwohner waren tot.

Kim, Sylvia und ich verzogen uns erstmal. Wir hatten das Gefühl, die Einwohner könnten uns für den Angriff verantwortlich machen. Obwohl ich es für unwahrscheinlich halte, daß es tatsächlich an uns lag: Die Hollow Men haben nicht nach uns gesucht. Die haben einfach alles erschossen, was ihnen vor den Lauf kam. Und Sylvia hatte am Tag vorher gehört, wie die Kerle Thornton bedrohten. Trotzdem haben wir uns einen Rastplatz in der Nähe von New Fortune gesucht und dort niedergelassen. Kim war nichts passiert, und ich hatte nur einen Streifschuß an der Schulter abbekommen (kaum mehr als ein Kratzer), aber in Sylvias linker Schulter steckte eine Kugel. Hat ihr das Schlüsselbein gebrochen, mal wieder. Fängt die jetzt auch damit an? Laß dich ganz, Sylvia. Ein Krüppel reicht.

Wow. Krüppel. Ganz schön hart, was? Ist aber wahr. Ich kann die rechte Hand nicht mehr bewegen. Gar nicht. Und ich glaube nicht, daß das je wieder besser wird. Verdammt, damit will ich mich aber jetzt nicht befassen. Das hat Zeit. Später vielleicht. Später ist besser.

Sylvia beschloß, den Zorn der Leute zu riskieren und zur Kirche zu gehen. Dort ist es ihr gelungen, die Einwohner einigermaßen zu beruhigen und sich vom Arzt behandeln zu lassen (sie ist tapferer als ich, ich habe nichts von ihr gehört, als er ihr die Kugel aus der Schulter geholt hat). Ich schlich solange im Dorf rum, um mich ein bißchen umzusehen. Kim war vorne am Weg und hielt Wache (mit meiner Pistole).
Irgendwann merkte ich, daß beim Sheriff´s Office jemand war. Eine bewaffnete Gestalt, soviel konnte ich sehen, die sich gerade aufs Dach schlich. Ich dachte, es wäre einer der Hollow Men, der sich dort als Heckenschütze verschanzen wollte. Ich hatte nicht mal eine Schußwaffe, nur noch ein Messer, aber ich wollte nicht warten - schließlich hätte Sylvia jeden Moment aus der Kirche kommen können. Also sprang ich heldenhaft mit meinem Messer von der Außentreppe aufs Dach, ein Schuß krachte an mir vorbei - und dann erkannte ich Brian.
Die Situation eskalierte ein bißchen, weil der Schuß natürlich ein paar Dorfbewohner aus der Kirche lockte. Kim kam ebenfalls angeritten, um zu sehen, was los ist, und Sylvia hatte alle Hände voll zu tun, um zu verhindern, daß die Dörfler Kim erschießen. Oder Kim die Dörfler. Brian schoß ein paar Mal in die Luft, um die Leute zur Besinnung zu bringen, was natürlich nicht weiterhalf. Ich pflaumte Brian an, was das alles sollte, erst die Heckenschützen-Nummer und dann das blöde Geballere. Er war natürlich beleidigt, schließlich wollte er uns nur helfen. Ich war viel zu angespannt, um überhaupt zu merken, was mit ihm los war, und habe ihn nicht aufgehalten, als er sich verkrümelt hat. Irgendwie ging ich davon aus, daß er bei unserem Rastplatz in der Nähe von New Fortune warten würde. Hat er nicht, er ist zu unserem alten Lager am Weg geritten.

Sylvia gelang es, die Leute zu beruhigen. Sie ging davon aus, daß die Hollow Men wiederkommen würden, und versprach den Einwohnern unsere Hilfe, wenn sie uns akzeptieren würden. Da war Brian aber leider schon weg. Kim ritt los, um ihn zurückzuholen.
Ich hatte in der Zwischenzeit den Anführer der Hollow Men durchsucht und dabei drei Zeichnungen gefunden: Von mir, von Brian und von Claire. Alle mit unseren Namen versehen, bei Brian und Claire noch der Vermerk 'Jackson Gang'. Na Klasse. Jetzt darf ich mir auch noch Sorgen um Claire machen. Und ich hatte gehofft, ich würde sie nie wiedersehen.
Ich frage mich, warum da keine Bilder von Kim und Sylvia dabei sind. Vielleicht liegt es daran, daß die beiden in Steamboat Springs keine Interviews gegeben haben.

Irgendwann am nächsten Morgen tauchten Kim und Brian wieder auf. Dann fingen wir an, Pläne für den Angriff der Hollow Men zu machen. Naja, eigentlich hat Brian die meisten Pläne gemacht. Er ist richtig gut mit sowas. Total militärisch.
Es gab in New Fortune ein Dynamitlager. Kein großes, aber ein paar Stangen waren schon da. Und Schießpulver. Brian fing sofort an, Bomben zu basteln und zu verteilen. Molotov-Cocktails hatten wir auch. Wir wollten uns - zusammen mit den überlebenden Dorfbewohnern, die ein Gewehr halten konnten - auf den Dächern der Häuser verschanzen und die Hollow Men auf der Hauptstraße ins Kreuzfeuer nehmen.

Soll ich jetzt lange über die dritte Schießerei berichten? Lieber nicht. Wir haben sie erwischt. Alle fünfzehn Hollow Men, die ankamen. Und einen Großteil ihrer Pferde.
Einige sind durch die Bomben gestorben, andere, als ihre Pferde auf sie fielen oder sie zertrampelt haben. Ein paar haben wir erschossen. Kim hatte die Schrotflinte, und irgendwo muß bei ihm eine Sicherung durchgebrannt sein. Er lief ganz ruhig über die brennende Hauptstraße und erschoss links und rechts Hollow Men. Darunter einen, der direkt vor ihm stand.
Nach der Schlacht (und das war es) ging Kim aus der Stadt. Immer noch ganz ruhig. Brian folgte ihm, weil ihm das unheimlich war. Und er konnte gerade noch verhindern, daß Kim sich seinen eigenen Kopf mit der Schrotflinte wegblies. Danach ist Kim erstmal zusammengebrochen. Konnte nicht mehr aufhören zu schreien. Hier war die Hölle.

Was bleibt noch zu sagen? Die Leute wollten nicht in New Fortune bleiben. Wir haben sie in die Gegend um Kingston geschickt. In Thorntons Safe fanden wir genug Geld, um sie über den Winter zu bringen. Billy hat überlebt, er war am Tag nach seiner Verletzung schon wieder transportfähig. Armer Junge, seine Mutter ist von den Hollow Men erschossen worden. Ich habe dem Arzt unsere gesamten Antibiotika für ihn mitgegeben. Ich kann nur hoffen, daß ich sie nicht selber brauchen werde. Selbst wenn - es ist mir lieber, er hat sie.
Bei einem der Hollow Men haben wir eine American-Express-Karte auf den Namen Thomas O´Leary gefunden. Scheint, als kämen die Jungs auch nicht wirklich aus dieser Zeit.
Kim hat einen Durchschuß im linken Oberarm. Jetzt haben wir nur noch vier funktionstüchtige Arme. Ich glaube, wir brauchen dringend Ruhe.

Später:
So, jetzt haben wir unsere Ruhe gehabt, jetzt brauchen wir mal wieder Aufregung und Abenteuer.

Okay, okay, stimmt natürlich nicht. Schade eigentlich... Jedenfalls sind in der letzten Zeit einige Sachen passiert, und ich schätze, ich sollte sie wirklich mal aufschreiben.

Nach der Schießerei haben wir unser Lager ein gutes Stück von New Fortune aufgeschlagen. Kim hatte aufgehört zu schreien, war aber nicht ansprechbar. Er brauchte dringend irgendeine Art von Hilfe.
Spät in der Nacht wachte ich auf und hatte eine Idee. Vielleicht habe ich auch etwas geträumt, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls war mir in dem Moment klar, daß Kim eine Vision braucht. Eine, die ihm einen Weg zur Heilung zeigt. Und daß er dabei Hilfe brauchen würde. Also beschloß ich, ein Ritual für ihn zu veranstalten.
Es war ein echtes Risiko. Ich bin kein Heiliger Mann, und mein Wissen über Rituale und die Geister ist - freundlich gesagt - reichlich beschränkt. Es bestand die Gefahr, daß ich mit meinem Herumgepfusche die Geister ernsthaft verärgern würde. Genau das, was wir brauchen konnten - verärgerte Geister.
Also bin ich noch in der Nacht alleine losgegangen, um mit den Geistern zu sprechen und sie zu bitten, mir zu helfen. Das hat soweit auch ganz gut geklappt. Ich habe ein paar Dinge gefunden, die mir helfen konnten - Kräuter, und andere Sachen.

Während ich noch unterwegs war, sind Sylvia und Brian nochmal nach New Fortune zurückgegangen. Wir brauchten neue Kleider und Vorräte. Kim haben sie mitgenommen. Er war immer noch nicht ansprechbar und ist ihnen einfach brav hinterhergetrottet, und in dem Zustand wollten sie ihn wirklich nicht im Lager lassen.

Nachdem ich von meiner Suche zurück war, machte ich mich auch auf den Weg in die Stadt. Kaum hatte ich die ehemalige Hauptstraße betreten, als aus dem Haus von Michael Thornton ein lauter Schrei ertönte - Sylvia.
Ich will es nicht unnötig dramatisch machen. Ihr war nichts passiert (jedenfalls nicht neues), sie hatte nur einen Spiegel gesehen. Und ihr Gesicht, das vom Schlag des Hollow Man am Vortag grün und blau schillerte und von einer langgestreckten Wunde vom Mundwinkel quer über die Wange geziert wurde. Sie sah wirklich erschreckend aus (sorry, Sylvia). Ich glaube, ich hätte auch aufgeschrieen.

Nachdem der Schreck überstanden war, wollten Sylvia und Brian sich noch weiter umschauen. Ich schnappte mir Kim und ging mit ihm zurück zum Lager. Dann habe ich erstmal eine ganze Weile auf ihn eingeredet, bis er überhaupt verstanden hat, was ich von ihm wollte. Schließlich war er einverstanden, die Sache mit dem Ritual zu probieren.
Ich will nicht allzu viel darüber erzählen, was wir genau gemacht haben. Das ist eine ziemlich private Sache. Jedenfalls hat er sich danach hingesetzt und angefangen, auf seiner Gitarre zu spielen. Er schien wieder halbwegs in Ordnung zu sein. Mittlerweile weiß ich, daß er die ganze Sache mit der Schießerei in New Fortune einfach vergessen hat. Vielleicht war es das, was er gebraucht hat. Ich hoffe es jedenfalls. Ganz wohl ist mir dabei nicht, aber die Geister werden schon wissen, warum sie ihm so eine Vision geschickt haben.

Brian und Sylvia hatten sich in der Zwischenzeit noch mal genauer in New Fortune umgeschaut. Dabei stellten sie fest, daß irgendwas mit den Häusern nicht stimmte - es fehlten bestimmte Räume, bestimmte Gegenstände, die hätten da sein sollen (Kleider zum Beispiel). Alles wirkte irgendwie wie eine sorgfältig gemacht Kulisse, wie ein Filmset. Oder vielleicht eine Art Touristenattraktion. Apropos Touristenattraktion: Irgendwo in dem Ort fanden die beiden einen Flyer für ein Restaurant in Tropic, der einen Gutschein für Preisnachlässe beinhaltete. Eindeutig ein modernes Stück Papier. Nicht gerade das, was man in einer Westernstadt erwarten würde.

Brian wollte gleich am Morgen nach dem Ritual weiterreisen, aber Sylvia und mir ging es einfach nicht gut genug. Mir war vom Blutverlust dauernd schwindlig, und bei Sylvia war es auch nicht besser. Nach kurzer Diskussion brach Brian dann allein nach Circleville (der nächsten Stadt) auf, um Medikamente und andere nötige Vorräte zu besorgen, vor allem Antibiotika. Ich schätze ja, er wollte einfach nicht stillsitzen und über die Ereignisse in New Fortune nachdenken. Aber er redet nicht darüber, und zwingen kann ich ihn auch nicht.

Brians Aufenthalt in Circleville war undramatisch, und wir verbrachten ein paar Ruhetage in der Nähe von New Fortune. Dann ging es weiter nach Panguitch, wo natürlich die nächsten Schwierigkeiten auf uns warteten. Diesmal hatten wir sie uns sogar selber eingebrockt...
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« Antwort #22 am: 16.01.2006 | 15:32 »
Panguitch - Der Patriot Act

Eigentlich ist das ein sehr schnell erzählte Geschichte, aber wir haben dabei einiges über Bürgerrechte und die nationale Sicherheit gelernt, deswegen kriegt die Sache ein eigenes Kapitel. Ihr könnt mich ja verklagen, wenn euch das nicht passt.

Erstmal - bevor wir überhaupt nach Panguitch kamen - trafen wir in Circleville wieder auf die Hollow Men. Eigentlich wollten wir nur mal asiatisch essen gehen (Stäbchen sind schon praktisch, wenn man nur eine Hand zur Verfügung hat), Kim wollte uns sogar einladen. Leider gibt es offenbar Hollow Men, die auch gern asiatisch essen gehen. Als wir das Restaurant fast erreicht hatten, kamen zwei oder drei von den Kerlen raus. Wir waren weit genug weg und hätten uns ja auch einfach in einer der Nebenstraßen verstecken können, aber Kim wollte sich die Typen mal genauer ansehen und blieb deswegen stehen. Ich wollte Kim nicht allein lassen - wer weiß, wen die von uns alles kennen -, also ging ich zurück und versuchte, ihn wegzuzerren.
Natürlich haben sie uns bemerkt. Ich meine, Kim starrte sie an, ich zerrte an ihm rum - sie müßten schon total blind gewesen sein, um uns zu übersehen. Und, oh Wunder, diesmal erkannten sie uns sogar. Das war der Moment, in dem wir gerannt sind. Glücklicherweise mußten sie wohl noch ausdiskutieren, ob sie uns verfolgen sollten oder nicht, deswegen sind wir mit dem Schrecken davongekommen. Nach dieser Begegnung haben wir Circleville fluchtartig verlassen.

Ein paar Tage später kamen wir in Panguitch an. Da wir eine relativ auffällige Gruppe sind, kam Sylvia auf die Idee, sich die Haare schwarz zu färben. Um ihre Narbe auf der Wange zu verstecken, wollte sie einen Schleier tragen. Als Rechtfertigung für das Ding konnte sie ja immer noch behaupten, Muslimin zu sein. Als sie das erste Mal mit dem Vorschlag kam, machten wir alle noch Witze über den Patriot Act und irgendwelche Anti-Terrorismus-Maßnahmen.
Kaum waren wir in der Stadt, gingen wir erst mal einkaufen. Nur Sylvia kam nicht mit, sie wollte noch zum Friseur. Der Rest von uns hat darauf verzichtet, obwohl wir mittlerweile aussehen wie ein Kommune Späthippies mit unseren langen Haaren. Vor allem Brian hat eine echte Wuschelfrisur (naja, die hatte er auch schon vorher, nur hat er eben lange verwuschelte Haare - vielleicht sollte er mal über Dreadlocks nachdenken, könnte echt gut aussehen).

Bei unserem Besuch im Supermarkt haben wir dann die Hollow Men wiedergetroffen. Sie haben uns nicht gesehen, also konnten wir ungestört beobachten, was sie einkauften: Ein bißchen Alkohol, ein paar Magazine und einen knallroten Teddybär. Vielleicht wollen sie Drogen damit schmuggeln. Oder einer von den Typen hat ein Kind. Klasse. Die Hollow Men waren mir lieber, als sie noch knallharte Typen ohne familiäre Anhängsel waren. (Ja, ich weiß, daß Joe Napier verheiratet war. Aber seine Frau schien eher dankbar zu sein, daß er tot ist, also zählt das nicht. Keine weinenden Witwen und Waisen jedenfalls, von denen wir bisher wußten.)

Als nächstes beschlossen wir, in Panguitch zum Arzt zu gehen. Mein Arm fühlte sich komisch an, ich hatte kein Gefühl in der rechten Hand mehr. Sylvia wollte eine Salbe für die Narbe und einen allgemeinen Check-Up, und Kim hörte immer wieder ein seltsames Klingeln, seit die Schrotflinte direkt neben seinem Ohr losgegangen war. Nur Brian ging es gut, er kam daher nicht mit.

Beim Arzt lief zunächst alles glatt. Naja, eigentlich nicht. Er hat meinen Arm untersucht und festgestellt, daß ein Nervenschaden vorliegt. Wenn kein Wunder passiert, dann kann ich den Arm nie wieder benutzen. Nervenschaden kann die moderne Medizin nicht behandeln, obwohl er sich manchmal spontan regeneriert, warum auch immer.
Das war zwar keine wirklich überraschende Neuigkeit, aber ich mußte trotzdem erstmal schwer schlucken. Es ist eine Sache, zu vermuten, daß man eine Hand nie mehr benutzen kann, aber wenn man es wirklich weiß... nicht lustig.
Allerdings reagiere ich viel gelassener auf diese Sache, als ich es je vermutet hätte. Ich meine, ich bin für mein Leben verkrüppelt, man sollte erwarten, daß ich durchdrehe oder zumindest einen massiven Anfall von Selbstmitleid habe. Aber da ist nichts, zumindest nicht nach der ersten, unmittelbaren 'Oh Scheiße'-Reaktion. Natürlich nervt es, daß der Arm weh tut und die Hand herumhängt wie Holz, aber prinzipiell empfinde ich nicht allzu viel dabei. Schließlich könnte es schlimmer sein.

Die Untersuchung von Kims Ohr verlief vollkommen normal, und dann kam Sylvia an die Reihe. Unsere 'Muslimin' mit ihrer Schußwunde in der Schulter. Irgendwas an ihr stimmte den Arzt mißtrauisch, und er rief den Sheriff an. Die örtlichen Autoritäten haben uns dann erstmal mitgenommen - Verdacht auf terroristische Umtriebe oder so was. Das wäre ja noch nicht so schlimm gewesen. Aber dann kam der CIA, steckte uns in einen Kastenwagen und fuhr mit uns davon. Bürgerrechte? Aber doch nicht bei mutmaßlichen Terroristen! Anwalt? Anruf? Verhandlung? Hey, nicht bei Feinden der Demokratie.

Sie sperrten uns in separate kleine Zellen. Nach ein paar Stunden (ich weiß nicht, wie lange es wirklich gedauert hat, aber es kam mir sehr, sehr lange vor) tauchten einige Agenten auf, die mir ein paar Drogen spritzen wollten. Ich mag keine Spritzen, also habe ich mich gewehrt. Das war natürlich sinnlos, sie haben mir ein paar Schläge versetzt, mich dann festgehalten und mir ihr Zeug verabreicht. Soviel zu den Genfer Konventionen.

In der Spritze war eine Wahrheitsdroge oder etwas ähnliches. Alles war verzerrt, verdreht und auf subtile Weise dämonisch, aber es hatte trotzdem nicht viel mit mir zu tun. Mein Körper hatte höllische Angst, aber meine Gedanken waren abgekapselt und seltsam gleichgültig. Ich kann es nicht besser beschreiben, ich war gleichzeitig voll Schrecken und absolut in Sicherheit. Das ist eine Mischung, in der man - denke ich - auf jede Frage antwortet.
Sie wollten alles mögliche wissen: Ob wir Terroristen sind, was wir vorhaben, wo wir hinwollen (die Antwort 'Bagdad' hat erstmal sicher nicht geholfen, obwohl wir natürlich Bagdad in Arizona meinten), ob wir unser Land lieben und so weiter. Sie haben alle Antworten bekommen, in meinem Fall auf Dakota, weil ich in diesem seltsamen Zustand irgendwie vergessen habe, wie man Englisch spricht. Naja, sie haben einen Übersetzer gefunden. Ich fürchte nur, daß das die ganze Angelegenheit noch weiter verzögert hat.

Schließlich waren sie mit unseren Antworten zufrieden und überzeugt, daß wir keine Terroristen sind. Ich weiß nicht, warum, aber einer von denen hat mich gefragt, warum ich Napier in seiner Zelle erschossen hätte. Er hat dieselbe Antwort gekriegt wie Brian: "Er hat gezetert." Ich schätze mal, damit können sie nicht viel anfangen - die Verhandlung ist schließlich gelaufen. Ich hoffe nur, die wollen mich jetzt nicht rekrutieren, weil ich so ein harter Bursche bin.

Während wir unseren Spaß mit dem CIA hatten, war Brian natürlich in Sorge. Er wußte, warum wir verhaftet worden waren, und daß uns irgendwelche Regierungsjungs mitgenommen hatten. Aber helfen konnte er uns nicht.
Er hielt Kontakt zu Don und meinem Dad, die er über die Situation informiert hatte. Don versuchte natürlich, uns über die gerichtlichen Kanäle herauszuboxen, aber so etwas braucht Zeit. Brian und er hofften nur, daß man uns nicht Guatanamo Bay bringen würde, denn in dem Fall hätte man uns vermutlich ein bis zwei Jahre nicht mehr gesehen.
Also mietete sich Brian auf der Farm von Lars Armstrong ein, kümmerte sich um die Pferde, telefonierte viel und drehte ansonsten Däumchen.

Endlich, nachdem die Spooks uns alles gefragt hatten, was sie interessierte, steckten sie uns wieder in einen Kastenwagen, fuhren uns eine Weile durch die Gegend (dabei drehte Sylvia fast durch, wir wußten ja nicht, wohin man uns brachte) und warfen uns dann auf der Hauptstraße von Panguitch raus. Ich glaube, das war das letzte Mal, daß Sylvia behauptet hat, Muslimin zu sein.

Die ganze Verzögerung (es waren nur vier oder fünf Tage gewesen, aber irgendwie kam es mir länger vor) hatte immerhin den Vorteil, daß die Hollow Men nicht mehr in Panguitch waren. Wir mieteten uns über Nacht dort in einem Motel ein und nutzten die Gelegenheit, endlich mal wieder richtig im Internet zu surfen.
Auf der Homepage der Hollow Men entdeckten wir Steckbriefe von mir, Brian und Sylvia (interessanterweise nicht von Kim) mit dem Hinweis, wir wären die 'Feinde Nummer Eins' der Gang. Ironischerweise wird die Site von einigen Firmen gesponsort, darunter auch von Ferrington Industries, dem Betrieb von Brians Vater.
Brian fand das nicht so ungeheuer witzig und schrieb seinem Vater eine E-Mail, in der er ihn darauf aufmerksam machte, daß er da gerade einen Mordaufruf gegen seinen eigenen Sohn sponsort. Bisher haben wir noch keine Antwort gekriegt.

Ich rief meinen Dad in Chicago an. Schon seit einiger Zeit war mir klar, daß da etwas nicht stimmte - bei einem Anruf in der Kanzlei mußte Mrs. Reynolds, die Chefsekretärin, das Telefonat abbrechen, weil die Polizei das Foyer stürmte. Und ich habe schon seit Wochen nicht mehr mit meiner Mutter geredet.
Dad erzählte mir schließlich, daß sie tatsächlich Schwierigkeiten haben: Die Hollow Men schleichen um die Kanzlei und das Haus herum - sie haben zwar (noch) niemanden angegriffen, aber sie sind da, und sie sind bedrohlich. Außerdem verwendet Mr. Ferrington, Brians Vater, seinen gesamten Einfluß, um Kunden von der Kanzlei fernzuhalten. Ganz zu schweigen von den anonymen Anrufen, den falschen Bombendrohungen und anderen witzigen Sachen, unter denen meine Familie leiden muß. Dad hat meine Mutter und Ricky aus Chicago weggeschickt, irgendwohin, wo sie in Sicherheit sind. Er will mir nicht sagen, wo sie sind, weil er fürchtet, wir könnten abgehört werden.

Ich wünschte, ich könnte einfach nach Hause gehen. Aber was soll das bringen? Soll ich mich von den Hollow Men umbringen lassen? Würde das helfen? Ich habe eher das Gefühl, daß die ganze Sache nur noch mehr eskaliert, wenn ich jetzt nach Chicago zurückkomme. Die Hollow Men scheinen auf dem Weg nach Süden zu sein, vielleicht begegnen wir ihnen in Los Angeles wieder. Vielleicht kommt es da zum Showdown. Würde jedenfalls passen.

Noch was, ich habe Claire angerufen. Sie ist in Ordnung, bisher haben die Hollow Men sie in Ruhe gelassen. Sie meinte, es läge daran, daß sie gute Anwälte hätte, aber das bezweifle ich irgendwie. Immerhin haben wir ein einigermaßen normales - wenn auch sehr förmliches - Gespräch hingekriegt. Ich habe ihr versprochen, mich wieder zu melden. Mal sehen, vielleicht mache ich das sogar.

Oh, und Kim hat seinen Dad angerufen. Er hat versucht, mit ihm zu reden, leider ohne größeren Erfolg. Nach dem, was er erzählt hat - und so, wie ich seinen Dad später erlebt habe - hört Mr. Parker seinem Sohn noch weniger zu als Mr. Ferrington Brian. Ich finde, die sollten alle eine Familientherapie machen.

In Panguitch entschieden wir uns, die östliche Route über den Bryce Canyon National Park und die Navajo Nation zu nehmen, statt im Westen in Richtung Las Vegas zu reiten und dann die Route 66 zu überqueren. Schließlich hatten wir ja noch den Gutschein für eine verbilligte Übernachtung und eine Überraschung im Cleo´s Inn in Tropic (das im Bryce Canyon National Park liegt), den wir in New Fortune gefunden hatten.

Der Aufenthalt in Tropic war tatsächlich eine Überraschung. Ich glaube, wenn wir alle brav die Füße still gehalten hätten, wäre uns da gar nichts passiert. Vielleicht wären wir sogar direkt nach Los Angeles gekommen...
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
The best lack all conviction, while the worst are full of passionate intensity.

Korrekter Imperativ bei starken Verben: Lies! Nimm! Gib! Tritt! Stirb!

Ein Pao ist eine nachbarschaftsgroße Arztdose, die explodiert, wenn man darauf tanzt. Und: Hast du einen Kraftsnack rückwärts geraucht?

the7sins

  • Gast
Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #23 am: 16.01.2006 | 16:24 »
Wow Leonie, das ist schlicht und einfach GROSSARTIG! Ich hab' mir die Geschichte gelesen und hatte das Gefühl einen genialen Roman zu lesen mit wahnsinnig toller ABGEDREHTESTER Handlung, sehr cooler Erzählweise, vielen Wendungen, Anspielungen und packend wie selten was. Wenn das nur annäherend so cool zu spielen ist, wie zu lesen, dann beneide ich dich; wenn's noch cooler zu spielen als zu lesen ist besuch ich dich (und das war eine Drohung) ;D.
Bitte schreib weiter, das ganze ist toll und ich bin schon gespannt wie's weitergeht!

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Re: [Unknown Armies] Road Movie
« Antwort #24 am: 18.01.2006 | 13:02 »
Dankeschön *rot anlauf* !  :)

Die UA-Runde ist ziemlich cool... wenn du mal auf einen Con in Stuttgart bzw. Mannheim kommst, bestehen gute Chancen, daß wir auch da sind.  :D

Ich hab noch einige Kapitel auf Vorrat, und die Runde läuft noch (mittlerweile in der zweiten Season).  :)
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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