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[Text] Ansichten des Zweiflers

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Enkidi Li Halan (N.A.):
Weil wir Donnerstag gespielt haben und mich die Runde sehr inspiriert hat, hab ich nach längerer Zeit mal wieder einen Inplay-Text geschrieben. Falls es jemanden interessiert ;-)

Vorsicht! der Text enthält unter Umständen Spoiler.

Enkidi Li Halan (N.A.):

»Pentateuch, Heliopolis, Balthazaars Haus.
9. November im Jahre des Herrn 4998

Wie sehr habe ich der Ankunft auf Pentateuch entgegen gefiebert, in der Hoffnung, dass wir hier endlich Antworten auf die Fragen finden, die uns seit Monaten voran treiben.
Nie hätte ich aber geglaubt, dass sie so schnell und erschreckend hereinbrechen würden, und dass obwohl wir unseren Gastgeber, den ehrenwerten Balthazaar, noch nicht einmal getroffen haben.

Wir haben den Stolz des Großen Architekten erreicht, wie die TRES es vorausgesagt hat. Doramus Werk mit eigenen Augen zu sehen ist mehr, als ich je zu wünschen hoffte, aber vielleicht auch mehr, als meine Seele zu fassen in der Lage ist.
Ravenna war in ihrer Anmut beeindruckend, aber Pentateuch ist – ja, was? Ein Wunder? Das Wirken eines überragenden Geistes? Man braucht nicht empfänglich für die mystischen Dinge zu sein um die Kraft zu erkennen, die hier in allem wohnt. Ich habe nie zuvor solche Perfektion gesehen oder gespürt. Sie erfüllt mich mit Ehrfurcht.«

Enkidi stand auf und öffnete das zweigeteilte Bogenfenster, um die nächtliche Luft ins Zimmer zu lassen. Über den Türmen der Kathedrale ging der Mond auf und sein blaues Licht tauchte die Dächer der stillen Stadt in einen traumhaften Schleier.

»Es ist ein großer Unterschied, ob man über Doramus Werk liest oder es durchwandert, es atmet und in sich aufnimmt. Worte auf einem Stück Papier vermögen nicht das Gefühl wiederzugeben, das hier alles durchströmt, jede Gasse, jedes Haus, die Wälder, Wiesen, Berge – den Himmel.
Ich habe versucht, sein Werk zu verstehen, versucht daraus Rückschlüsse zu ziehen. Ich brachte Doramus Lehren in Zusammenhang mit dem, was Jazeer sagte und was wir von den Obun erfahren haben. Wie viele Nächte habe ich darüber gebrütet und nun ist alles doch so anders.
Ich hielt Doramus für ein Genie, bewunderte ihn, wie man eine Statue auf einem Sockel hoch über sich bewundert, doch berühren konnte ich ihn nie. Bis jetzt.
Meine Augen sind offen, doch was ich sehe lässt mich erstarren.

Es sind die kleinen Dinge, die die Welt aus ihren Fugen hebt. Heute kreuzte eines dieser Dinge unseren Weg, deswegen sitze ich hier und kämpfe mit meinen Gedanken.
Janus Palevi erwähnte es nebenbei, als wir ihn am Abend besuchten. Er beschäftigt sich mit der alten Kunst der Astrologie und natürlich musste Megan ihn nach der Wiedergeborenen Sonne fragen. Wie kann man es ihr verübeln. Hätte sie es nicht getan, dann ich. Auch wenn wir beide wissen, wie gefährlich es ist, dies vor Fremden zu erwähnen.

Palevi war uns aber weit voraus; er hat die Sonne nicht nur, wie wir, gesehen, sondern sie sogar vermessen. Ich habe nicht genau verstanden wie und warum, aber das spielt auch keine Rolle. Viel wichtiger ist jenes Detail: 984 Lichtjahre.
Dies ist die exakte Distanz der Sonne zu Byzantium Secundus.
24 Jahre nach dem Großen Feuer, viermal 240 Jahre.
24 + 4 x 240 = 984.
Die gleiche Zahl, wie in der TRES.
Wie ist das möglich?
Wie kann das sein?
Das Licht dieser Sonne benötigte 984 Jahre, um die Thronwelt zu erreichen. Sie wurde im Jahr der Krönung entdeckt. Das Jahr des Phönix.

Clemens der Zehnte, dessen Patriarchat aus den Aufzeichnungen der Kirche getilgt wurde, WUSSTE von dieser Sonne. Davon hat er geschrieben, das ist der Plan, der Große Plan, von dem alles abhängt. Das Licht der Heiligen Flamme neu zu entfachen.
Er muss sie gesehen haben. Er muss DORT gewesen sein, in diesem System, als die Sonne, die wir heute die Wiedergeborene nennen, gerade geboren wurde. Aber wie? WIE KANN DAS SEIN?
In diesem System gibt es KEIN SPRUNGTOR.«

Enkidis Hand zitterte und er legte für einen Moment den Stift zur Seite. Schloss die Augen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
Es ist unmöglich.

»Descartes sagte das. Kein Sprungtor. Wie also kann ein Mensch dort gewesen sein? Denn wie sonst hätte Clemens wissen können, dass sie geboren wurde? War er womöglich–«
Wieder stockte die Hand, als wolle sie sich weigern, den Gedanken zu Papier zu bringen. Ihn ans Licht zu bringen, schwarz auf weiß.

»Ich muss an Doramus Werk denken.
Er schuf Leben aus dem Nichts. Pentateuchs Erschaffung war keine bloße Terraformung. Da war nichts zum Terraformen. Keine Atmosphäre, egal wie feindlich. Kein Leben, egal wie fremd und aerdunähnlich. Kein Wasser, keine Luft. Nichts. Ein toter Fels in der Unendlichkeit des Alls.

Aber Doramus hat....ihm Leben eingehaucht. Leben. Pulsierend. Rein. Es fühlt sich nicht falsch an. Es ist Wahrhaftig.
Ich brauche Avalan nur anzusehen, und weiß, dass er es auch spürt. Wahrscheinlich noch deutlicher, als ich es jemals werde. Er sieht das Netz, das alles durchdringt. Und er braucht es nicht auszusprechen:
Dieser Planet hat eine Seele.
Doramus hat einen Weltenkern geschaffen. Aus dem Nichts.

Doch dies ist dem Schöpfer selbst vorbehalten.
Wie kann ein Mensch, ein einzelner Mensch, einem Planeten eine Seele geben?
Es kann nicht sein, und doch ist es so.
Dies ist das Werk des Demiurgen.«

So lehrt es die Kirche.
Enkidi legte den Stift weg und fuhr sich über die Augen. Seine Kehle war trocken und fühlte sich an, als würde sie sich mit Sand füllen. Er starrte durch das offene Fenster zu den Sternen, die einer nach dem anderen über Heliopolis erglühten. Ferne Sonnen.

»Und es kann kein Zufall gewesen sein. In diesem System war nichts von Wert, als es entdeckt wurde. Die Planeten tot oder feindselig, noch nicht einmal Rohstoffe. Warum sollten die Erbauer ausgerechnet hier ein Sprungtor zurücklassen? Warum? Was bezweckte das?
Was außer dem, einer gewaltigen Leinwand für das perfekteste Gemälde, das je von einem sterblichen Geist ersonnen wurde?

Meine Gedanken drehen sich immer weiter. Ich hatte geahnt, dass wir auf Pentateuch Antworten finden würden. Aber wie konnte ich ahnen, wie schrecklich die Wahrheit ist, die sich immer mehr unter all den Schichten aus Vermutungen und Hypothesen abzeichnet. Alles, was wir auf unserer langen Reise erfahren und gesehen haben, fügt sich zu einem Sinn zusammen.

Und ich habe Angst.

Clemens X. hat zu einer Lebzeit etwas entdeckt, von so großer Wichtigkeit, dass er darum fürchtete, es zu offenbaren. Weil die Kräfte, die auch uns heute im Wege stehen, verhindert hätten, dass dieses etwas zum Wohl der Menscheheit eingesetzt würde. Er verschlüsselte es in einer Prophezeiung, die an die Menschen dieses Zeitalters gerichtet ist.
Wie konnte er den Phönix voraussehen? Ich weiß es nicht. Vermutlich mit Hilfe der Glyphe. Es ist auch bedeutungslos.
Viel wichtiger ist seine Botschaft. Das, was er gesehen haben muss. 984 Lichtjahre. Dies ist der Schlüssel.
Er hat die Sonne gesehen, ihre Geburt. Er war dort. In einem System ohne Sprungtor. Einem System, zu dem noch nicht einmal Descartes reisen kann.«

Die Feder des Stiftes huschte kratzend über das Papier, immer schneller, wie im Fieber. Verschwommen nahm Enkidi wahr, wie sich Buchstabe an Buchstabe reihte, die Striche zittrig, aber sie ließen sich nicht aufhalten, wollten ihr Gefängnis verlassen.
 
»Und nun.
Frage ich mich –
Wäre es möglich, dass er
dort
etwas getan hat
Das dem Werk Doramus ähnelt
Dass er
eine Möglichkeit gefunden hat
nicht einem Planeten eine Seele zu geben

sondern einer Sonne?

Hat er eine Sonne aus dem Nichts geschaffen?
Ist dies
der Plan?
Dem wir folgen?


Und–
wenn ein Mensch das vollbringen kann...
wozu brauchen wir dann noch


den Schöpfer?«


 

Azzu:
Ah ja... wenn das mal nicht ein Anfall von Technophilie in Reinform ist  ;).

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