Achtung, ist ein Momentchen länger geworden.
Here goes...
Teil 1: EinleitungAngeregt wurde ich vom Thread über Vertrauen in die Spieler. Dort wurde immer wieder erwähnt, dass man den Spielern nicht vertrauen könne, sinnvoll mit mehr Einfluss (Erzählrechten) und Freiheit umzugehen. Stattdessen würden sie vermutlich entweder nichts mit der Freiheit anfangen können oder sich furchtbar daneben benehmen. Und tatsächlich ist der Allgemeine und der SL-Channel voll von SLs, die sich über unmögliche Aktionen ihrer Spieler auf der einen Seite und Passivität der Spieler auf der anderen Seite beschweren. Es scheint also etwas dran zu sein, an der Befürchtung.
Grund genug für mich, mal darüber nachzudenken, woher das kommt. Natürlich könnte man vermuten, dass Spieler prinzipiell sozial inkompetente Deppen sind, aber das würde ich erst einmal nicht unterstellen. Stattdessen würde ich erst einmal davon ausgehen, dass Spieler zum Großteil erwachsene und vernünftige Menschen sind, und die Deppen-aus-Prinzip eher die Ausnahme bilden. Woher kommt aber dann das merkwürdige und störende Verhalten der Spieler?
Teil 2: Blödes BeispielAlso erst einmal ein wirres Beispiel.
Man nehme Eltern. Diese Eltern sind sehr streng und lassen ihren Kindern wenig durchgehen. Sie planen für die Kinder alles durch und lassen sie selbst fast keine Entscheidungen treffen. Sie meinen es nicht böse, sie trauen ihren Kindern nur nicht besonders viel zu was Entscheidungen angeht. Die Kinder gewöhnen sich daran und lassen die Eltern einfach alles für sie machen und die Entscheidungen treffen. Eigentlich läuft diese Aufteilung ganz gut, Eltern und Kinder verstehen sich soweit ganz brauchbar.
Jetzt fahren die Eltern mal für eine Woche in Urlaub. Kinder, seid vernünftig und blos keine Party!! Was passiert jetzt? Klar, es kann sein, dass die Kinder ihre Eltern überraschen und vernünftige Entscheidungen treffen. Aber es sind auch zwei ungünstige Verläufe möglich.
Zum einen können die Kinder mit der neuen Freiheit völlig überfordert sein. Sie haben nie gelernt Entscheidungen zu treffen und trauen sich auch nichts zu. Also rufen sie alle Naselang bei den Eltern auf dem Handy an und fragen nach. Was soll ich zu Mittag essen? Darf ich Würstchen haben? Wie funktioniert die Spülmaschine? Wo ist das Salz? Soll ich ein oder zwei Bällchen Eis essen? Darf ich aufstehen? Wie war das noch mal mit der Spülmaschine?? Und wie froh die Kinder sein werden, wenn die Eltern wieder zurück sind und wieder die Entscheidungen übernehmen.
Die andere Möglichkeit ist die noch unangenehmere: sobald die Eltern aus der Tür sind, wird die Party angeleiert. Die Kinder nutzen ihre neue Freiheit und benehmen sich so gründlich daneben, wie sie nur können. Sie kosten alles aus und bestätigen die Ansicht ihrer Eltern, die ja sowieso der Meinung waren, dass die Bande zu nichts taugt. Aber die Kinder hatten eine Riesenspaß sich daneben zu benehmen. Wenn die Eltern wiederkommen, werden sie tierisch sauer sein, die Kinder für noch unfähiger halten eine vernünftige Entscheidung zu treffen und sich vermutlich schwören nie wieder in Urlaub zu fahren.
Teil 3: PsychologischesFür das Verhalten der Kinder gibt es zwei psychologische Erklärungen.
Die Kinder haben nicht gelernt Entscheidungen zu treffen. Sie sind ungeübt. Dazu kommt, dass sie von ihren Eltern sicher oft genug gehört haben, dass sie keine richtigen Entscheidungen treffen können. Auch haben sie in der Vergangenheit für den Versuch Entscheidungen zu treffen von den Eltern auf die Finger geklopft bekommen. Sie haben also zusätzlich zu der mangelnden Übung mit Entscheidungen eine gewisse
erlernte Hilflosigkeit entwickelt. Sie halten sich selbst nicht für in der Lage die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dementsprechend werden sie sich immer wieder an die Eltern wenden und ihnen die Entscheidungen zu überlassen zu versuchen. Sie zeigen eine für erlernte Hilflosigkeit typische
Passivität und
Ängstlichkeit vor Entscheidungen.
Die Erklärung für das Zweite Verhalten ist die Entwicklung von
Reaktanz, im Volksmund auch als Trotzreaktion bekannt. Die Kinder wollen, solange die Eltern sie nicht lassen, immer ausbrechen und möglichst viel Freiheit erkämpfen. Sobald sie die Möglichkeit dazu bekommen, werden sie komplett über die Stränge schlagen und ihre Freiheit missbrauchen. Zusammen mit ihrer Unerfahrenheit mit Entscheidungen kommt es zur Katastrophe, die die Eltern (wie sie es bereits erwartet hatten) enttäuscht.
Beide Verhaltensweisen bestätigen dann auch sowohl die Sicht der Eltern als auch das Selbstbild der Kinder. Dementsprechend festigt sich das gesamte Verhaltensmuster auf beiden Seiten und bei der nächsten Gelegenheit wird sich der Ablauf vermutlich wiederholen. Bis die Eltern wirklich nie wieder in Urlaub fahren.
Teil 4: Wo ist das Rollenspiel?Ok, ihr seid alle schlau und habt die Analogie schon längst verstanden. Der SL ist die Eltern und die Spieler die Kinder.
In vielen klassischen Varianten des Rollenspiels hat der SL die fast ausschließliche Kontrolle über die Story (und teilweise über den gesamten wichtigen kreativen Input). Der SL lässt den Spielern sehr wenige Freiheiten. Das ist nicht böse gemeint, sondern er hat den besten Ausgang für die gesamte Gruppe im Sinn. Den Spielern wird nur nicht viel im Sinne von richtigen Story-Entscheidungen zugetraut.
Wenn der SL den Spielern dann einmal Freiheit zugesteht (durch verteilte Erzählrechte oder anderes), dann kommt es oft vor, dass die Spieler mit dieser Freiheit schlecht umgehen. Entweder sie werden passiv und warten darauf, dass der SL sie komplett an die Hand nimmt (Hilflosigkeit). Oder sie schlagen über die Stränge und versauen allen das Spiel (Reaktanz).
Was daran ganz wichtig ist, ist dass die Spieler nicht wirklich daran Schuld sind, dass sie sich ungünstig verhalten (mal von der Ausnahme der notorischen Aus-Prinzip-Deppen mal abgesehen). Das Verhalten des SL ist zum Teil mit dafür verantwortlich, dass die Spieler mit ihrer Freiheit nicht umgehen können. Wobei ich auch den SL jetzt mal in Schutz nehmen muss, denn die allgemeine „Rollenspielkultur“ (verstärkt durch Regelwerke und Internet) erwartet von ihm genau dieses die Spieler entmündigende Verhalten. So entsteht ein Teufelskreis, bei dem der SL den Spielern wenig Freiheit zugesteht, die Spieler dann mit dem bisschen Freiheit schlecht umgehen, der SL deswegen noch weniger Freiheit zugesteht, die Spieler noch ungünstiger mit dem Rest umgehen usw. Und das führt zu schlechten Spielerlebnissen, wenn Spieler viel Freiheit haben und bei allen Beteiligten zu der Überzeugung, dass nur der SL die Macht haben sollte und Spieler mit Freiheit nicht umgehen können. Und so gewöhnen sich alle an diesen Zustand, finden sich damit ab und können sich gar nichts mehr anderes vorstellen (was evtl. zu
Resignativer Rollenspielzufriedenheit führt).
Teil 5: AbschlussKurz zusammengefasst: Der SL gesteht den Spielern wenig Freiheit zu. Deswegen können die Spieler mit der Freiheit nicht umgehen, sondern verhalten sich im Fall plötzlich auftretender Freiheit entweder hilflos oder reaktant. Beides führt zu unbefriedigenden Spielerlebnissen für die Gruppe. Dies verstärkt die bereits vorhandene Ansicht, dass Spieler mit Freiheit nicht umgehen können und lässt den SL den Spielern noch weniger Freiheit geben.
Dies wäre meine Erklärung dafür, dass diese Berichte von Spielern, die mit Freiheit nicht umgehen können, häufen, ohne jedem Spieler per se zu unterstellen, ein sozial inkompetenter Depp zu sein. Es ist einfach ein ungünstiger Kreislauf, der seinen Ursprung in der klassisch propagierten Rollenverteilung und –erwartung von SL und Spielern hat.
Auch lässt sich daraus ein Ansatz für das Durchbrechen dieses Teufelskreises ableiten. Man muss öfters und Vorurteilsfrei mit Freiheit der Spieler experimentieren. Da so ein Muster sich normalerweise über Jahre festgesetzt hat, kann man nicht erwarten, dass Spieler (und SL) auf Anhieb mit verteilten Erzählrechten umgehen können. Deswegen ist es vor solchen Experimenten wichtig, dass man die Zielsetzung ausgiebig bespricht, um falsche Erwartungen, Trotz und Hilflosigkeit abzubauen. Während des Spiels sollten die Spieler außerdem positiv verstärkt werden. Und man sollte sich Zeit lassen und sich in Geduld üben. Bei so festen Mustern sollte man nicht erwarten, dass nach dem ersten Versuch alles glatt läuft. Man muss auch mehrere erfolglose Versuche einplanen, nach denen man auch nicht mit Schuldzuweisungen operiert, um niemanden zu entmutigen und keinen Trotz aufzubauen. Nur mit Zeit, Geduld und Üben werden „klassisch konditionierte“ Spieler lernen sinnvoll mit Freiheit umzugehen.
So, das war’s erstmal. Klar ist trotz allem, dass es natürlich auch Spieler gibt, die sofort mit Freiheit sinnvoll umgehen können und auch solche, die wirklich gar nicht mehr Freiheit wollen. Ändert aber an meinem grundsätzlichen Punkt erst einmal nichts.
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