Zu Weihnachten habe ich "Qin, the warring states" geschenkt bekommen. Ist doch schön wenn Wünsche in Erfüllung gehen - und noch schöner, wenn sich die Erwartungen daran erfüllen. Es ist schon einige Zeit her, dass ich ein Rollenspielbuch so schnell gelesen habe. Hier daher eine Rezension zu diesem schönen Rollenspielsystem, das kurz vor Chinas namensgebenden Qindynastie (ca. 220 v.Chr.) spielt und ein Spielgefühl gemäß den neueren, großen chinesischen Filmen (z.B. Tiger and Dragon, Hero, ...) ermöglichen will.
Die einzelnen Abschnitte packe ich jeweils in Spoilertags, sie enthalten keine SL Informationen, dies dient nur der Übersichtlichkeit.
Layout, Buch und LektorartDas Cover des Buchs ist tiefrot, darauf ein schwarzer Drache und der Titel, die sich beide nur leicht vom dunklen Hintergrund abheben. Das Innere des Werks ist altertümlich gehalten, die Seiten selbst sind pergamentfarben, die wenigen Illustrationen sind in chinesischem Stil und zumeist mit einer Sepiatönung versehen, unterstreichen sie sowohl das Setting als auch den altertümlichen Eindruck.
Wie bereits angedeutet sind es nur wenige Bilder, diese aber von kontinuierlicher Qualität und in einem einheitlichen Stil, was mir besser gefällt als mehr Bilder in schlechterer Abstimmung oder Güte.
Der Text selbst ist gut geschrieben, nur wenige Tipp- oder Grammatikfehler (sofern ich das als Nicht-Muttersprachler überhaupt beurteilen kann) haben sich an den Lektoren vorbeigeschlichen. Umso seltsamer finde ich die Mängel des Layouts, da sie einerseits auffällig sind und andererseits leicht hätten behoben werden können: einerseits ist die Einrückung der ersten Zeilen deutlich zu groß geraten, sodass gerade bei kurzen Absätzen ein arges Geflatter am linken Rand herrscht. Der andere Fehler ist, dass die meisten Satzzeichen nicht direkt am vorangegangenen Wort kleben, sondern mit einem Leerzeichen abgetrennt sind. Das betrifft eigentlich alle Zeichen außer Punkt und Komma, und führt zu einem ausnehmend hässlichem Schriftbild. Am Rande sollte noch erwähnt werden, dass der innere Rand der Seiten reichlich knapp bemessen ist, der Text kommt dem Falz sehr nahe, verschwindet aber nie - verschwunden hingegen ist der Index, der eigentlich zu jedem Rollenspielbuch gehören sollte.
Abgesehen von diesen kleineren Mängel im Schriftbild, gefällt die Optik und Qualität des Buches durchaus, und vermitteld das Flair des alten Chinas zuverlässig.
Ein Hinweis noch zur Umschrift: Im Buch wird fast konsequent Pinyin genutzt, ohne Lautzeichen. Das ist meines Erachtens der einzig gangbare Weg. Leider wird er nicht ganz konsequent umgesetzt. Lao Zi ist Lao Zi und nicht Lao Tse oder Tzu, aber sein Daoismus bleibt der Taoismus. Fast noch schlimmer: Die innere Lebenskraft wird Chi geschrieben, müsste aber Qi heißen. Schlimmer ist das insofern, als es mit dem Taiji (Taichi) ein Wort gibt, das ähnlich klingt aber eine ganz andere Baustelle ist.
ÜberblickDas Buch ist gemäß der klassischen Art und Weise aufgebaut: Nach Intro und dem obligatorischen "was ist Rollenspiel?" gibt es einen kurzen Überblick über das Setting, um dann direkt in die Charaktergenerierung einzusteigen (einige archetypische Charaktere gibt es auch). Die Charaktergenerierung wird von den Regeln gefolgt - ich habe nie verstanden, warum man mir erst erklärt, wie ich die Werte zusammenstelle und erst danach, was die Werte bedeuten, aber inzwischen gehört das wohl zum guten Ton der RPGs. Nach dem Regelteil werden die übermenschlichen Fähigkeiten inhaltlich wie regeltechnisch ausgeführt, dazu zählen Daos, besondere Kampfkunsttechniken und Magie.
Damit ist das erste Drittel des Buches beschlossen, und der Band geht über zur Beschreibung der Hintergrundwelt. Umfangreich wird über Geographie, Lebensweise, Philosophie und Religion eingegangen. Dem Genre entsprechend gibt es auch einen kurzen Einblick in die Welt der Ritterlichkeit der alten Kampfkünstler. Besonders praktisch ist eine umfassende Preisliste am Ende dieses Teils.
Schließlich ist das Spielleiterkapitel erreicht. Ein Überblick über Wesen der drei Reiche (natürliche wie übernatürliche), Hintergrundinformationen zur Welt, Erfahrung und Ruhmsystem sowie ein kurzes Szenario füllen die letzten der 280 Seiten.
Insgesamt bin ich beeindruckt, dass in diesem Grundregelwerk wirklich alles enthalten ist, was man zum Spielen braucht. Die Preisliste ist dabei nur das Tüpfelchen auf dem i; das Szenario sehr hilfreich zum Einstieg.
Die RegelnKurzer Disclaimer: Nur gelesen, nicht getestet. Ich glaube, dass diese Regeln sehr gut funktionieren, habe sie aber noch nicht ausprobiert.
Die Regeln sind ein klassisches Attribut + Fähigkeit + Würfelwurf System, wobei jeweils ein bestimmter Wert erreicht werden muss. Trotzdem gibt es einige interessante Änderungen: So gibt es auch abgeleitete Werte, wie z.B. der "Life of Breath" (= Lebensenergie) und das Chi (= mystische Energie), und diese abgeleiteten Werte werden teilweise aus der Ausgewogenheit der Attribute bestimmt. Das heißt (etwas vereinfacht), je niedriger die Differenz zwischen den Attributen ist, desto mehr Life of Breath bzw. Chi hat der Charakter. Eine interessante Alternative, denn damit hat das Ausmaxen eines einzelnen Attributs zwar die üblichen Vorteile, wird aber mit niedrigeren abgeleiteten Werten erkauft.
Auch der Würfelwert ist speziell: Es handelt sich dabei um 2W10, wobei es auf die Differenz der beiden Werte ankommt. Der niedrigere wird vom höheren Wert abgezogen und zu Attribut und Fähigkeit addiert. Bei einem Pasch sind Yin und Yang ausgeglichen, ein kritischer Erfolg, nur der 0er Pasch ist der kritische Fehlschlag.
Außerdem interessant sind die sog. Daos. Die Daos sind übernatürliche Fähigkeiten, die von jedem erlernt werden können, der ein wahrer Held ist (die Charaktere und die ernstzunehmenden NSCs). Sie ermöglichen unterschiedliche Effekte, wie man sie aus dem Hongkongfilmen kennt: Beim Kämpfen die Häuserwände hochlaufen, auf einer Lanzenspitze stehen, usw. Außerdem gibt es spezielle Kampfmanöver, die die Schwierigkeit nur geringfügig erhöhen, aber schöne Effekte produzieren (zumindest zumeist, so gibt es auch das Manöver "an der Deckung vorbeischießen" - um dieses Einzusetzen wird die Schwierigkeit des Angriffs um zwei erhöht, der Schutzwert der Deckung im Gegenzug um zwei vermindert - äh, klarer Griff ins Klo).
Die Magie ist ebenfalls von allen erlernbar, zumindest von jedem, der gewisse Voraussetzungen (Mindestwerte bei den Fähigkeiten) erfüllt. Sie gliedert sich in vier Bereiche (innere Medizin, äußere Medizin, Divination und Exorzismus) und entspricht im Wesentlichen einer Spruchmagie (einzelne Zaubersprüche mit definierter Wirkung können erlernt und verbessert werden. Mit jeder Verbesserung wird die Erfolgswahrscheinlichkeit wie die Auswirkung größer).
Zu Daos, Kampfkünsten (in geringerem Ausmaße) und Magie muss gesagt werden, dass die einzelnen Techniken wie chinesisches Essen benannt sind: Äußerst blumig, aber niemand weiß, was die "Acht Schätze" jetzt eigentlich sind. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass das zu einigen Problemen im Spiel führt: "Äh, was kann ich nochmal mit dem 'Dao der Tausend Bienen' machen?"
Bleibt noch der Kampf - wie gesagt kann dieser über Daos, Magie und Kampfmanöver angereichert werden. Abgesehen davon ist auch hier wenig Neues zu finden - Eine Kampfrunde besteht aus mehreren Schlagabtauschen, wobei eine Initiative für die Kampfrunde erwürfelt wird. Damit ist sie kein ständiger Bremsklotz am Bein, aber eine glückliche Initiative am Anfang führt auch nicht zu einem dauernden Vorteil.
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich mit diesem System gut spielen lässt und auch Hongkong-Movie Gefühl aufkommt.
Das SettingWas soll ich sagen? Sehr gut recherchiert. Ich glaube, dass kann ich abschätzen, immerhin habe ich Sinologie studiert und - huch - die Qin-Dynastie war eines meiner selbstgewählten Prüfungsfächer.
Die Welt des alten Chinas wird sehr sauber wiedergegeben, natürlich unter der Annahme, dass all die schönen Sagen von Drachen, dem Weltenzerstörer Gonggong, den unsterblichen Daoisten und durch die Lüfte fliegenden Schwertmeistern wahr wären.
Die Hintergründe sind jeweils nur sehr kurz aber doch ausreichend beschrieben. Es werden Vereinfachungen gemacht, die aber sinnvoll sind. Wer möchte schon mit zig verschiedenen Währungen hin und her rechnen müssen. Ich jedenfalls nicht, und kann es daher gut ertragen, dass die unterschiedlichen Systeme nur erwähnt, aber nicht ausgeführt werden.
Das einzige Kapitel, über das ich weniger glücklich war, ist die Beschreibung der Philosophie. Der Abschnitt über den Konfuzianismus ist stellenweise grob fahrlässig falsch, insgesamt habe ich den Eindruck, dass der Autor nicht ganz verstanden hat, was den Konfuzianismus ausmacht. Auch die Behauptung, Konfuzius habe die fünf Klassiker geschrieben ist einfach nur falsch, und Konfuzius (der sich selbst nur als Bewahrer der alten Lehren und nicht als Neuschöpfer sah) würde sich im Grabe umdrehen.
Was mir auch missfallen hat, ist die Karte, die an der klassischen Stelle direkt am Anfang und Ende des Buches steht. Eigentlich ist sie wunderschön anzuschauen, aber die meisten Orte, die im geschichtlichen und geographischen Abriss aufgeführt sind, sucht man darauf vergebens. Möchte man die entsprechenden Orte finden, muss man (im Internet) nach einer anderen Karte suchen.
Ein hervorragende recherchierter Hintergrund zeichnet Qin aus, der von den kleinen Bereichen des täglichen Lebens bis hin zur hohen Politik alles abdeckt, und dabei meist korrekt bleibt oder etwas vereinfachende Pauschalisierungen bietet.
Der SpielleiterteilHier sollte nun "Butter bei die Fische" kommen. Auch wenn die Zeit der kämpfenden Reiche allein durch das Zeitgeschehen ein gewaltiges Konfliktpotential bietet, frage ich mich doch etwas: wie könnte mein erstes Abenteuer aussehen? Diese Frage beantwortet der Spielleiterteil nur ansatzweise. Das Bestiarium bietet einige nette Refernzwerte, aber bei keines der Wesen bietet meines Erachtens einen eigentständigen Abenteueraufhänger.
Die geschilderten Hintergründe um die Machtkämpfe innerhalb der kämpfenden Reiche ist interessant, und garantiert auch auf einem epischen Level ein hervorragendes Rahmenwerk, aber für frischgebackene Charaktere ein Level zu hoch. Das Einsteigerszenario ist nett, aber nicht viel mehr. Anfangs stark gerailroadet, kommt dann ein etwas freierer Teil, um das Finale zu erreichen müssen die Charaktere aber wieder bestimmte Dinge tun. In dieses Szenario muss auf jeden Fall Arbeit investiert werden.
Schön an ihm sind auf jeden Fall die vielen verschiedenen Fraktionen und unterschiedlichen Handlungsstränge - so soll eine chinesische Geschichte sein.
Nicht vergessen möchte ich auch den Abschnitt mit Tipps zum Darstellen des alten Chinas. Sie sind interessant, aber leider sehr knapp gehalten. Der Spielleiterteil nimmt nicht viel Raum im Buch ein, und nutzt diesen Platz ganz ordentlich, trotzdem hätte ich mir hier etwas mehr gewünscht.
Fazit:Wow. Schon immer wollte ich einmal eine Kampagne im alten China spielen, und habe mir auch schon überlegt, ein Rollenspielsystem dazu zu entwerfen. Aber so gut hätte ich das nicht hingekriegt, darum bin ich froh, dass die Weihnachtsfrau mir Qin mitgebracht hat. Jetzt brauche ich nur noch ein paar willige Opfer, um das System auch mal live zu testen.
Qin, The Warring States (englisch) bei Amazon. Preis knappe 30 € für 280 Seiten, die alles enthalten um sofort loszuspielen (na gut, sofort im Sinne von "nachdem du 280 A4 Seiten gelesen hast").