Autor Thema: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil  (Gelesen 6285 mal)

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Eulenspiegel

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Re: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil
« Antwort #50 am: 8.04.2009 | 23:47 »
Zur Entscheidungsrelevanz der Spieler:
Wenn da einfach nur eine Weggabelung ist und links genau so aussieht wie rechts, dann ist es tatsächlich irrelevant, welchen Weg man wählt. Beide Wege sind absolut gleichwertig.
Relevant wird es erst, wenn die Spieler sich vorher überd ei Wege erkundigen.

Wenn der Spieler zum Beispiel ins Wirtshaus geht und den Wirt fragt: "Entschuldigung, können sie mir sagen, wo es zum Drachen geht?"
Wirt: "Aber natürlich: Der Drache haust links. Rechts wohnt eine Horde verärgerter Orks."

DANN wird die Entscheidung relevant. Denn jetzt besitzen die Spieler Informationen aufgrund dessen sie ihren Weg weiterplanen können.

Dabei ist es vollkommen egal, wann der SL entschieden hat und wie er entschieden hat, wo der Drache haust:
1) Er kann schon zu beginn des Abenteuers entschieden haben, dass der Drache links haust.
2) Er kann sich ganz spontan für links entschieden haben, als der SC den Wirt gefragt hat.
3) Er kann es ausgewürfelt haben, als der SC den Wirt gefragt hat.

Wie und wann er zu der Entscheidung gelangt ist, dass der Drache links haust, ist vollkommen egal. Wichtig ist nur, dass die Spieler Informationen erhalten, die den rechten Weg vom linken Weg unterscheiden. (Es müssen nichtmal die expliziten Aussagen des Wirtes sein. - Vielleicht hat der SL auch ein paar versteckte Andeutungen während des bisherigen Spielverlaufes gemacht. Aber irgendetwas an Information muss für die Spieler da sein, sonst ist die Entscheidung tatsächlich irrelevant.)

"Improvisiert" ist eine Entscheidungskonsequenz des SL aus dem Bauch raus. Passiert unweigerlich an jeder Rollenspielsession. "Gewürfelt" ist eine Kosequenz, die zumindest teilweise dem Zufall überlassen wird. Das Bauchgefühl des SL wird durch den Würfel "gezähmt", deswegen ein Hoch auf den Würfel.
"Improvisation" ist eine Konsequenz, die zumindest teilweise dem SL überlassen wird. Der Zufall des Würfels wird durch die Improvisation  "gezähmt", deswegen ein Hoch auf den SL und seine Improvisation.

Zitat
(Im realen Spiel sind viele Entscheidungen der Spieler unqualifiziert, teilweise weil die Spieler nicht nachforschen, teilweise weil Informationsmöglichkeiten fehlen. Ich versuche als SL, wenigstens bei den "großen Entscheidungen", und der Weg in einen Drachenhort ist so eine, den Spielern die Möglichkeit zur qualifizierten Entscheidung auf Basis von Hinweisen, Spuren, Indizien usw. zu geben.)
Hier stimme ich dir zu. Wobei ich als SL den Spielern die Möglichkeit biete, aus einer unqualifizierten (unwissenden/bedeutungslosen) Entscheidung eine qualifizierte zu machen.
Allerdings müssen sich die Spieler auch anstrengen und diese Möglichkeit ergreifen. - Sonst zieht sie ungenutzt an ihnen vorbei.

ChristophDolge

  • Gast
Re: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil
« Antwort #51 am: 8.04.2009 | 23:54 »
Zitat
"Improvisation" ist eine Konsequenz, die zumindest teilweise dem SL überlassen wird. Der Zufall des Würfels wird durch die Improvisation  "gezähmt", deswegen ein Hoch auf den SL und seine Improvisation.

Und da wir schon bei Storytelling sind, also vermutlich dramatisch orientiertem Rollenspiel: Der SL kann beim Improvisieren Entscheidungen treffen, die der Story gut tun. Wenn die Spieler ihren Spaß aus einer guten Story ziehen, ist das eine gute Sache. Der SL kann z.B. auch verhindern, dass die Charaktere sterben - wenn die Spieler nicht darauf stehen, dass ihre Charaktere jederzeit sterben können, auch eine gute Sache. Wenn sie nicht drauf stehen, werden sie vermutlich ihren Spielstil auch nicht als storyorientiert bezeichnen.

Offline Oberkampf

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Re: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil
« Antwort #52 am: 9.04.2009 | 09:44 »
Habe noch 20 min Zeit bis zum Losfahren (wenn Autobatterie aufgeladen ist *Tümpelritter kniet nieder und betet um ein Osterwunder*), und da mich die Diskussion gestern Abend noch beschäftigt hat, schnell ein paar Antworten.

@Eulenspiegel:
Unsere Ansichten sind da, glaube ich, nicht weit voneinander entfernt. Was Du "relevante Entscheidung" nennst, nenne ich "qualifizierte Entscheidung", in jedem Fall eine Entscheidung, die die Spieler aufgrund von begründeten Erwartungen treffen können. Und die begründeten Erwartungen konnten sie sich erspielen, zum Beispiel durch Nachforschungen oder Fertigkeiteneinsatz (z. B. Spurenlesen), oder beides (Nachforschungen mit Fertigkeiteneinsatz, z.B. "Ich frage den Wirt und setze dabei meine Menschenkenntnis/Sense Motif usw. ein, damit er mich nicht anflunkert").

In dem Fall hast du recht, es ist egal, ob der SL improvisiert, würfelt oder im Buch nachschlägt. Der Zeitpunkt ist aber insofern nicht egal - und ich glaube, da sind wir auch einer Meinung - als dass diese Wahl des Spielleiters VOR der Entscheidung der Spieler, welchen Weg sie nehmen getroffen wird - spätestens genau in dem Moment, in dem sie Nachforschungen anstellen. Vorbereitung und Nachschlagen mache ich in erster Linie deswegen stark, weil ein SL dann Spielern hinterher schwarz auf weiss zeigen kann, dass er die SCs nicht wie Schachfiguren hin und her geschoben hat.

@Dolge, Eulenspiegel

Improvisation ist absolut notwendig, kommt in den besten Spielen vor, schließlich kann kein Spielleiter alles voraussehen, was die Spieler machen werden (vorausgesetzt, sie sind noch keine total gestorytellerten Zuhörer, sondern Spieler von echtem Schrot und Korn). Soweit d`accord. Improvisation, die die Story vorantreibt, ohne die Spieler zu schubsen, ist auch kein Problem für mich. Aber "Improvisation aufgrund einer guten Story" kann Charaktere töten (Der Tod deines Paladins war ein würdiges Fanal der Story, bla bla...) oder zumindest stark railroaden. Wenn Spieler zum Beispiel einen Plan durchziehen wollen, den ich als SL für vollkommen Banane oder "storyzerstörend" halte, könnte es passieren, dass meine improvisierte Reaktion ohne Würfelkontrolle willkürlich zuungunsten der Spieler ausfällt. Da ist es mir lieber, ich (oder ein anderer SL) sagt stattdessen: "ok, Plan überzeugt mich nicht zu 100%, aber mit erschwerten Würfen auf Fertigkeit xyz könnte es trotzdem hinhauen bzw. aber eine Riskchance von x% besteht, dass sich die Dinge so entwickeln, wie ihr sie angestoßen habt und denkt, dass sie laufen sollten."

(Die umgekehrte Gefahr besteht natürlich auch, dass ein Spielleiter die Pläne seines Lieblingsspielers immer und ohne Einschränkungen aufgehen lässt.) Deswegen finde ich die Kombination von Würfeln und Improvisation bei allen Mängeln am Fairsten, selbst wenn es manchmal ein wenig Drama aus der Story zieht.
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Re: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil
« Antwort #53 am: 9.04.2009 | 09:50 »
Wobei der SL auch bei Würfelwürfen die Chancen so legen kann, dass sie minimal sind. Ich halte das daher für einen großen Irrglauben, dass es da die unbestechlichen Würfel gibt. Am Ende muss das Ergebnis immer noch interpretiert werden.

Aber das ist kein Problem von Improvisation (die permanent statt findet) oder Würfelwurf, sondern vor allem von disfunktionalem Rollenspiel.

Offline Boba Fett

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Re: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil
« Antwort #54 am: 9.04.2009 | 10:50 »
Es gibt ein neues deutschsprachiges Rollenspiel (dessen Name ich nicht nennen möchte, damit der Thread nicht zu einer systemspezifischen Debatte mutiert), das eine sehr interessante Formulierung im Spielleiterteil hat.
Dort wird zwischen "Drehbuchartigem Rollenspiel" und "Situationsabhängigem Rollenspiel" gesprochen.

Beim Drehbuchartigen Rollenspiel hat der Spielleiter vor dem Spiel zumindestens eine grobe Vorstellung vom Verlauf der Handlung während des Spiels. Er kann bestimmte Situationen gut vorbereiten, wird aber versuchen, die Handlung dahin gehend zu beeinflussen, dass sie den vorbestimmten Verlauf nimmt.

Beim situationsabhängigen Rollenspiel hat der Spielleiter keinen konkreten Ablauf im Kopf, sondern entwickelt Ausgangssituationen und läßt aus diesen über den GMV kausalitätsbezogen Entwicklungen entstehen - Ursache - Wirkung.
Hier ist Improvisation natürlich das wichtigste, was der Spielleiter beherrschen muss, dafür ist die Handlung absolut frei und unvorhersehbar. Hier sind die Motivationen der beteiligten Personen relevant, denn aus deren Motivationen leiten sich deren Handlungen ab und daraus dann die entstehenden Situationen.

Warum schreibe ich das, und was hat das mit "Storytelling" zu tun?

Ich denke, das, was Storyteller eigentlich im Auge haben, nämlich die Entwicklung einer Geschichte mit dramaturgischer Struktur ist in beiden Arten möglich. Storytelling ist eben NICHT automatisch drehbuchartiges Rollenspiel.
Auch beim Situationsabhängigem Rollenspiel kann man durchaus eine dramaturgische Handlung zum Ziel haben.
Man kann durchaus eine Anfangssituation schaffen (Morde geschehen) und den Handlungsrahmen abstecken (Ende ist, wenn der Mörder gefasst ist) und dadurch dramaturgische Strukturen erreichen (der daramturgische Höhepunkt ist im Finale).

Dementsprechend gibt es keinen unwillkürlichen Zusammenhang zwischen "Entscheidungsfreiheit" und "Storytelling".

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Offline scrandy

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Re: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil
« Antwort #55 am: 10.04.2009 | 17:33 »
Ich denke, das, was Storyteller eigentlich im Auge haben, nämlich die Entwicklung einer Geschichte mit dramaturgischer Struktur ist in beiden Arten möglich. Storytelling ist eben NICHT automatisch drehbuchartiges Rollenspiel.
Auch beim Situationsabhängigem Rollenspiel kann man durchaus eine dramaturgische Handlung zum Ziel haben.
Man kann durchaus eine Anfangssituation schaffen (Morde geschehen) und den Handlungsrahmen abstecken (Ende ist, wenn der Mörder gefasst ist) und dadurch dramaturgische Strukturen erreichen (der daramturgische Höhepunkt ist im Finale).
Außerdem gibt es meiner Meinung nach nicht die zwei Hobbies, sondern eine ganze Reihe von Mischsystemen und innerhalb dieser auch noch eine ganzen Reihe von Spielweisen.

Ich liebe persönlich zum Beispiel Spannungsbögen und eine nicht Simulierte Welt sondern den Spielern hingeworfene Herausforderungen, Szenen und Situationen. Das heißt jedoch nicht, dass ich innerhalb dieser Szenen (die auch schonmal größer sein können) nicht ergebnisoffen Sandboxartig spielen könnte und wenn das Ergebnis der Szene nicht das ist, was ich vorausgeplant habe, dann ändern sich die Folgeszenen eben. Also habe ich prinzipiell einen Storyteller-Ansatz und im Grunde sogar einen Drehbuchansatz jedoch mit größeren Abschnitten die eben eher Situationsabhängiges Rollenspiel sind. Es sind eben wirklich Detailfragen und eben genauso wie es schwierig ist Spiele nach GNS einzustufen, so ist es nicht richtig die Spiele in die zwei Hobbies einzustufen, nur weil die ein oder andere Fraktion sich gut zusammenrottet. Es ist natürlich klar, dass jeder andere Vorlieben hat aber diese Vorlieben laufen meiner Meinung nicht entlang einer Linie sondern sind bei jedem anders über Genres, Regellastikkeit, Detailtiefe, Anspruch, Spielweise und vieles mehr verteilt.
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Offline Falcon

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Re: Entscheidungsfreiheit beim Storytellerspielstil
« Antwort #56 am: 10.04.2009 | 18:36 »
Ich vermute die meisten Runden spielen so. Da aber jeder seine Zutaten in anderer Durchmischung mag, sind das immer sehr instabile Konstrukte, weswegen es wohl auch so schwer ist wirklich allumfassend glückliche Spieler mit hohen Ansprüchen zu haben.

Wenn man dagegen die Extreme spielt, 100% freies Rollenspiel z.b., dann weiss man sofort woran man ist und Gleichgesinnte spielen eher auf einer Wellenlänge, denn es gibt ja kein falsches Verhältnis der Einzelkomponenten.

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