Im Supportthreoad über die Schließung dieses Boards wurden ein
paar Schlagworte zur Rollenspieltheorie (
ChristophDolge,
Juhanito)
geäußert, die für mich nur am Rand mit dem Begriff zu tun haben.
Da ich mehrfach gefragt wurde, was denn nun für mich darunter
falle, hier mal ein paar Gedanken dazu.
Ich schicke vorsorglich voraus, dass ich dem folgenden Text nicht
die Zeit und Sorgfalt widmen kann, die ihm eigentlich gebührt,
aber in dem Fall würde er wohl auch nächsten Monat noch nicht
drinstehen.
Nehmt es also bitte erstmal als Gedankenfragmente
ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Zuerst einmal ist aus meiner Sicht der Begriff "Rollenspieltheorie"
von sogenannten "Best Practices" zu unterscheiden. Da gelegentlich
der Ruf erschallt, Rollenspiel sei "nur ein Hobby" und der ganze
Theoriekram daher unnötig, nehme ich zum Vergleich mal ein anderes
Hobby zur Hand: Angeln.
- Welche Rute und welche Gewichte man nimmt, welcher Platz
an einem gegebenen See der beste ist, welche Rolle gut läuft
und welcher Hocker am bequemsten ist, ob man seitlich oder über
Kopf auswirft sind Best Practices, bewährte Methoden.
Dabei geht es eher um das "Wie machen". - Was ein Fisch ist und wovon er abstammt, wie seine Wahrnehmung
funktioniert, wie er sich verhält (Köder), ob er ein knöchernes
oder nur knorpeliges Skelett hat und wie er es schafft,
bewegungslos im Wasser zu schweben sind wissenschaftliche
Fragestellungen, es geht eher um das "Wie ist es und warum ist es
so". Der Angler kann einige der Antworten auf diese Fragen
gebrauchen, andere interessieren ihn wiederum nicht.
Natürlich gibt es eine Grauzone dazwischen, aber ich hoffe, es
wird klar, was ich meine.
Übertragen auf Rollenspiel gehören für mich Fragestellungen nach
der Auswahl von Zufallstabellen, Anzahl und Art der Würfel beim
Systemdesign, Transformation von Regelwerken auf Settings,
Musik ja/nein und sogar forgige Sachen wie "Kicker" zu
Best Practices,
haben aber nichts oder nur wenig mit "Rollenspieltheorie" nach
meiner Lesart zu tun (obwohl das selbstverständlich durchaus
theoretische Fragestellungen sind).
Die Aufgabe der Rollenspieltheorie sehe ich darin, das Phänomen
"Rollenspiel" erschöpfend wissenschaftlich zu beschreiben. Ein
kurzes Satz für ein gewaltiges Vorhaben!
Das Problem beginnt bereits bei der
Einordnung in ein Fachgebiet.
Rollenspiel als menschliches Spiel muss zuerst zwingend in eine Theorie
des menschlichen Spielens eingebettet werden. Hier können aber nun
Sprachwissenschaften (Linguistik, Semiotik), Sozialwissenschaften
(Kultur-, Medien-, Kommunikationswissenschaft, Soziologie), Psychologie
sowie in bestimmtem Maße die Strukturwissenschaften (Mathematik,
Informatik) alle gute Argumente vorbringen, warum dessen Erforschung
jeweils in ihren Zuständigkeitsbereich fällt.
Diese Problem stellt sich aktuell. Die digitale Spieleindustrie
ist
umsatzstärker als die Filmindustrie. So ein Phänomen kann
die Wissenschaft schwerlich ignorieren. Dazu ist seit langem
Konsens, dass Spielen zum
Wesen des Menschen gehört.
Es wird also Zeit; nicht nur für vernünftige, belastbare und
gründliche Rollenspieltheorie, sondern für eine Theorie des
Spieles überhaupt. Der gangbarste Weg scheint ein interdisziplinärer
Ansatz. Einen brauchbaren Überblick gibt die englische Wikipedia
unter dem Stichwort
Game studies.
Rollenspieltheorie muss sich also erstmal auf ein Fundament
stützen, das beschreibt, was ein Spiel ist, wie es grundsätzlich
funktioniert, welche Funktionen es erfüllt, welche Prozesse
dabei stattfinden. Dieses Fundament existiert zur Zeit nicht.
Erst dann kann Rollenspieltheorie überhaupt erst sinnvoll
versuchen, sich zu positionieren. Sie greift auf die
allgemeine Theorie des Spiels zurück und beschreibt unter
anderem, warum Rollenspiel ein Spiel ist, wie es bezogen
auf einen grundsätzlichen Spielbegriff funktioniert,
welche Funktionen Rollenspiele im Vergleich für das
Individuum, die Gruppe, die Gesellschaft haben, welche
dem Spiel zugehörigen Prozesse beim Rollenspiel wie
ausgeprägt sind etc.
Man kann hier leicht sehen, dass sich das hochwohlgeborene
Forge-Theoriekonglomerat auch dort, wo es keine
Best Practiceist, nur einem recht kleinen Teil der Rollenspieltheorie
genähert hat. Es gibt hier einfach noch eine große Masse
unerforschten Landes. Das letzte Wort ist hier keinesfalls gesprochen.
Was also ist Rollenspieltheorie für mich? Rollenspieltheorie
muss unser Hobby als menschliches Spiel umfassend beschreiben.
Dazu gehört ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Beschreibung von Rollenspiel als sprachliche Kommunikation
- Beschreibung ablaufender semiotischer Prozesse
- Beschreibung der kulturellen Voraussetzungen und der kulturellen Einbettung
- Beschreibung der soziologischen Aspekte von Spielern und Spielgruppen
(u.a. Mikrosoziologie, Rituale, ...) - Psychologische Analyse von Rollenspielen (die Verwandtschaft
zum Psychodrama ist unübersehbar) - Beschreibung der durch Mathematik und Informatik fassbaren
Teilbereiche (klassische Spieltheorie, Optimierungsprobleme) - Einordnung in eine kulturhistorische Betrachtung menschlichen Spiels
Ich fürchte nur, dass das in dieser umfassenden Form in
den nächsten Jahren weder für Rollenspiel noch für die bei
der Wissenschaft aktuell wesentlich populäreren digitalen
Spiele geschehen wird. Zur Zeit preschen einzelne Forscher
und Forschergruppen (der Autor dieser Zeilen eingeschlossen)
einfach los, stecken ein Claim ab und fangen dort an zu arbeiten.
Ein einigermaßen vollständiges Theoriegebäude muss wohl
über kurz oder lang aus den bewährteren der Einzelforschungen
zusammengetragen werden.
Florian
P.S. Beachtet beim Diskutieren bitte die
neue Richtlinie für dieses Board.