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[Rant] Warum ich Cthulhu nicht unheimlich finde
First Orko:
Zunächst mal gefällt mir der Begriff "Grusel" als leichtere Abstufung zu "Horror" besser. Ersterem kann ich einen gewissen Reiz abgewinnen, Letzteres versetzt dann doch eher in einen Zustand, aus dem ich (man?) schnell wieder heraus möchte.
Gehen wir also davon aus, dass wir mit einem Rollenspiel wie Cthulhu Grusel erzeugen wollen, müssen wir beide Seiten betrachten: Die entsprechende Atmosphäre erzeugende Seite (SL) sowie die empfangende Seite, die Spielenden. Denn das klingt ja schon bei diversen Beiträgen heraus: Eine mühsam aufgebaute Atmo kann sehr schnell und leicht brechen, denn um diese aufrecht erhalten zu können, muss auf der anderen Seite geschlossen(!) die Bereitschaft bestehen, sich darauf auch einlassen zu können. Und das ist meiner Erfahrung nach sehr selten derart vollumfänglich der Fall.
Warum? Dazu habe ich eine Theorie: Grusel und Horror befinden sich auf einem Emotionsspektrum genauso wie Trauer, Liebe, Melancholie und noch ein paar Andere, welches im Rahmen bestimmter Vorstellungen/Anschauungen als "weich" betrachtet werden. Wer sich dahingehend öffnet, diese Emotionen entweder nur zu haben oder gar, sie offen nach außen trägt, macht sich damit angreifbar. Jeder Mensch, der als Kind mal als "Heulsuse" verschrien wurde oder vergleichbare Erfahrungen gemacht hat, neigt dazu, in Zukunft immer vorsichtiger zu sein und Sicherheitsmechanismen zu entwickeln, um sich quasi vor der eigenen Angreifbarkeit zu schützen. Humor ist einer dieser Mechanismen - ein doofes Wortspiel und ich kann sicher sein, dass ich mich nicht als "schwach" oute, weil ich mich dem Grusel hingebe... (*)
Ein weiterer Sicherheitsmechanismus sind Regeln - die können im atmospährischen Spiel soweit in den Hintergrund rücken, dass man retrospektiv diese gar nicht gebraucht hätte (und vielleicht ein anderes System suchen kann...) oder als Schild genutzt werden, um sich dahinter zu verstecken. Ein Wert für geistige Stabilität kann ebenso genutzt werden, sich gegen das Gefühl des Grusels zu wappnen ("Mein SC ist noch voll stabil - das unmenschlich blutige Massaker da tangiert den ja mal gar nicht!") wie auch um das Gefühl offen zulassen zu können: Der Wert ist so niedrig, dass ich mit dem SC aus der Szene flüchten kann, ohne dass ich etwas von mir selbst zeige.
Was folgt daraus? Wichtiger als Regeln, Setting und Wirkfaktoren für Atmo (Kerzenschein, passende Handouts, sogar Kostüme) ist überall dort, wo "weiche" Emotionen wirken sollen das Vertrauen der Spielenden untereinander. Je weniger Vertrauen, desto größer die Unsicherheit, desto mehr nutzt man Schutzwerkzeuge und lässt Grusel nicht zu.
Sicherheitsmechaniken können das Vertrauen dabei stützen, aber nicht ersetzen. In einer Runde, wo ich aufgrund gewisser sozialer Faktoren schon kein gutes Gefühl habe, kann zBsp eine X-Card das Gefühl ggf. sogar noch verstärken (sie ist aber nie das eigentliche Problem und ist in gewissen CON-Stellationen trotzdem sinnvoll!), wogegen sie in eine vertrauten Runde sogar dazu führen kann, dass man sich noch mehr öffnet.
Entscheidend ist meiner Ansicht nach, dass im Vorfeld von Runden, wo Emotionalität eine Rolle spielen kann/darf/soll, eine Gespräch darüber stattfindet, ob sich alle darauf einlassen möchten und wie weit. Sind alle am Tisch einverstanden, und stellt sich raus, dass jemand dann trotzdem torpediert (und sich zBsp über jemanden lustig macht, der zBsp Tränen für Rührung bekommt oder so) dann ist der richtige Schritt, diese Person zu bitten, das sofort zu unterlassen oder das Spiel zu verlassen. Alternativ kann eine Cthulhu-Runde ja auch in Abwandlungen abseits von Grusel gespielt werden oder man einigt sich darauf, das Grusel eher den SC passiert, aber die Spielenden die Distanz wahren möchten - sozusagen "erzählter Grusel" statt "erlebter Grusel".
(*) Interessanterweise kann Humor ebenso ein Gefühl sein, wo man sich angreifbar macht - nämlich dann, wenn es jemand darauf anlegt, mich zum Lachen zu bringen. Reagiere ich darauf, öffne ich mich emotional - und das kann ebenso ausgenutzt werden.
tartex:
Also ich konnte mich selbst als Kind im einstelligen Alter alleine unter der Bettdecke beim Lesen nicht gruseln. Naja, vielleicht einmal als ich hohes Fieber hatte.
Die Bereitschaft mich darauf auch einlassen zu können, war auf jeden Fall da.
Zumindest habe ich Erinnerung, dass ich bei unserer neu gekauften Biene-Maja-Hörspielplatte als anfangs Angst hatte, dass Thekla die Protagonisten bei lebendigem Leibe verspeißen wird. Aber das war wohl noch im Kindergartenalter. Ich glaube da konnte ich noch gar nicht lesen. (Und da hatten wir dann auch schon Kassetten.)
Aber bei Horrorfilmen klappt der Horror immer noch regelmäßig großartig - selbst im fortgeschrittenen Alter.
Cosmic Fear - ist das nicht einfach ein Synonym für die existentalistische Erfahrung? - kriege ich durch Lesen oder auch nur Nachdenken aber schon zustande. Das kann Lovecraft sowieso viel besser als Grusel oder Ekel.
First Orko:
Cosmic Fear oder Cosmic Horror verstehe ich als Umschreibungen für Etwas, was Lovecraft vielleicht als existenzialistisch anmutenden Unterbau seiner Welt (implizit) mit geschaffen hat, wo ich aber keinerlei direkte Gefühle für veranschlagen würde, die das tatsächlich bei Lesenden auslösen sollte oder gar kann :think:
Tatsächlich ist das imho aber sowieso irrelevant, da Cthulhu als Rollenspiel bzw. die Spielenden scheinbar tatsächlich in "Grusel am Spieltisch" zu transferieren versuchen. Der gesamte Mythos wie er im Rollenspiel genutzt wird bezieht sich ja sowieso nur auf Teilaspekte der Geschichten und umfasst gar nicht die gesamte Bandbreite dessen, was in den Vorlagen zu finden ist.
Insofern bezieh ich mich mit dem Geschriebenen nur auf den Wunsch, Cthulhu als Rollenspiel mit Grusel zu verknüpfen.
Ich persönlich würde das sowieso nicht tun sondern mehr Richtung von "surreale Mystic-Thriller" gehen oder sowas.
aikar:
Die Diskussion kippt jetzt aber schon stark in Richtung "Allgemeine Tipps für Horror-/Grusel-Rollenspiele". Evtl. abkoppeln?
tartex:
--- Zitat von: First Orko am 17.04.2024 | 10:28 ---Cosmic Fear oder Cosmic Horror verstehe ich als Umschreibungen für Etwas, was Lovecraft vielleicht als existenzialistisch anmutenden Unterbau seiner Welt (implizit) mit geschaffen hat, wo ich aber keinerlei direkte Gefühle für veranschlagen würde, die das tatsächlich bei Lesenden auslösen sollte oder gar kann :think:
--- Ende Zitat ---
Also ich finde, dass die Frage, ob Cosmic Horror am Spieltisch Gefühle auslösen kann oder tut, doch sehr relevant. Bei mir können die am Spieltisch sehr wohl getriggert werden.
Auch Existenzialismus ist für mich in der Popkultur einfach ein Genre wie etwa Mindfuck (Achtung, Liste ohne Gewähr!), das einfach bestimmte, inzwischen wohlbekannte Trigger benutzt um dem Konsumenten etwas fühlen zu lassen.
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