Hallo Leute,
ich habe in letzter Zeit das Gefühl, eine seltene aber durchaus vorkommende Kreative Agenda beobachtet zu haben, die ich nicht in die drei Grundtypen nach Ron Edwards (Gamismus, Narrativismus und Simulationismus) einordnen kann.
Daher gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sehe ich die Lösung nicht oder es gibt noch mindestens eine weitere Kreative Agenda, die in einer Rollenspielrunde zur Anwendung kommen kann.
In diesem Thema wollte ich die Idee kurz in den Raum werfen. Es geht mir darum, ob es sich dabei wirklich um eine eigenständige Agenda handelt oder sie in die anderen Typen eingeordnet werden könnte. Es geht also darum, ob diese Agenda legitim existieren kann.
Es geht
nicht darum, was ihr von dieser Agenda haltet, wie oft oder selten sie ist, was ihr generell vom GNS-Modell haltet usw. Dazu könnt ihr gerne weitere Themen eröffnen, hier würde es leider vom Diskussionsgegenstand ablenken.
So, nach dieser langen Einleitung, meine Beobachtung:
Ich habe in letzter Zeit zwar selten aber doch ab und zu erlebt, dass eine meiner Spielrunden das Rollenspiel zu etwas nutzt, was das GNS-Modell meiner Ansicht nach nicht abdeckt.
Es geht dabei nicht darum, welche gamistischen Aspekte wichtig sind, wie gut die Immersion in die Welt geschieht oder wie toll die Geschichte ist, sondern darum, was man durch Rollenspiel über seine eigenen Lebensumstände oder die reale Welt ausloten kann. Hier wird der berühmte Brechtsche Verfremdungseffekt (
http://de.wikipedia.org/wiki/Verfremdungseffekt) genutzt, um über die Welt zu reflektieren. Diese Kreative Agenda möchte ich hier deshalb provisorisch als Brechtismus bezeichnen.
Was meine ich damit? Hier exemplarisch zwei Situation, in denen die Gruppe Brechtismus betrieben hat:
1) Einer der Spieler hatte eine depressive Phase. Vermutlich deshalb hat er seinen SC an einem Spielabend eine Sinnkrise durchleben lassen. Im Kontext des Spielwelt kam es dann zur existentialistischen Auseinandersetzung mit der Spielwelt und den anderen SC über Lebenssinn und inneres Gleichgewicht. Wir konnte dem Spieler auf diese Weise helfen. Und zwar, ohne(!) dass dies irgendwie geplant gewesen oder auch nur offen ausgesprochen worden wäre. Wir haben uns nicht zusammengesetzt und darüber geredet (dann hätte die Person eh abgeblockt), sondern das Spiel lief einfach in Situationen und Szenen hinein, in denen genau die gleichen Themen relevant waren wie zu der Zeit im wirklichen Leben.
Das Rollenspiel wurde hier ganz von selbst zum Reflexionsmedium und diese Entwicklung wurde von Spielleiter und allen Spielern gemeinsam getragen. Eine Kreative Agenda.
2) In einem etwas weniger drastischen Beispiel haben wir die Auswirkungen von Bedrohung und Isolation auf familäre Strukturen anhand von Figuren erkundet, die fern ab der Heimat fremde Planeten erkundeten.
In diesen und anderen Fällen ging es (zumindest aus meiner Sicht) nicht um Gamismus, Narrativismus oder Simulationismus. Spielsystem und Regeln waren unwichtig, eine packende Handlung hätte die Entwicklung gestört und zu starker Simulationismus hätte die Illusion zu perfekt gemacht, so dass die Reflexion verhindert worden wäre. Die Spielwelt musste sichtbare Parallelen mit der realen Welt aufweisen, um als Parabell zu dienen. Eine komplette Immersion wäre genauso hinderlich gewesen wie ein Eigenleben der Spielwelt, das einem narrativen Handlungsstrang folgt.
Die vierte Wand musste durchbrochen werden. Quasi wie im Epischen Theater nach Bertolt Brecht. Das Rollenspiel bietet sich hier geradezu an, weil es anders als im Theater den Leuten die Wahl lässt, was sie erleben wollen. Deshalb wird die vierte Wand schon dadurch durchbrochen, dass man sich als Spieler ja fragen muss, warum gerade dieses Thema durchgespielt wurde und kein anderes, wo gerade das ihn doch betrifft.
Ich hoffe, ich konnte halbwegs klarmachen, worum es mir geht.
Was meint ihr dazu? Schreibe ich völligen Unsinn oder gehe ich recht in der Annahme, dass diese Form vom Rollenspiel nicht in die GNS-Kategorien einzuordnen sind?