(So, und das hier ist der Beitrag, auf den Oliof bestimmt schon seit Eröffnung des Threads gewartet hat.)
Nach einer Phase des Kahlschlags und der Gleichschaltung des internationalen Rollenspielmarktes (kaum mehr Neuentwicklungen eigener Systeme, nur noch Anpassungen an d20) zeigt sich langsam doch der Nutzen der OGL. Die französische d20-Interpretation
Chroniques Oubliées kann mich mit 3e versöhnen (aber vielleicht auch bloß, bis da die Vollversion erscheint und ich alle subjektiven 3.x-"Fehler" wiederholt sehe...).
Hier die
Homepage des Spiels. Als das System neu war, gab es ein schönes Intro auf der Startseite, in dem es als ideales Weihnachtsgeschenk beworben wurde. Mit dem Slogan "Gebt die Fackel an die nächste Generation weiter", frei übersetzt. (Die Black Book-Leute hatten damals diesen Slogan auch als Banner in ihren Foren-Signaturen.)
Bislang gibt es nur die Einsteigerbox, das Vollregelwerk unter dem Titel
Chroniques Oubliées - La Bible 3.5 ist noch nicht erschienen, und hat noch einmal einen Termin.
Die Einsteigerbox ist schick, ein Mix aus der typisch französischen Rollenspielillustration und dem Paizo-Look. Letzteres ist kein Wunder, denn der Verlag hat auch die Pathfinder-Lizenz (und Shadowrun, und Earthdawn, und Polaris, und Midnight).
Warum sie überhaupt angefangen haben, sich mit Chroniques Oubliées ein direktes Konkurrenzprodukt zu Pathfinder in den Stall zu holen, wissen nur sie allein. PF ist jedenfalls schon lange erschienen. (Die Franzosen sind da üblicherweise sehr schnell, 4e war auch rasend schnell übersetzt.)
Die Box besteht aus
- Regelheft, 36 Farbseiten, mit 4 Kurzabenteuern (von leider nur schlichter Qualität)
- SL-Schirm, 4 Seiten, doppelseitg farbig
- 5 vorgefertigte Charakterbögen, farbig (zum sofortigen Losspielen oder als Beispiele; auf dem Backcover des Heftes ist ein Blankobogen für eigene Charaktere)
- 1 Handout (das Heimatdorf der Charaktere)
- 1 Satz Würfel
- Farbkatalog des Verlages, 20 Seiten (kann man sich hier als PDF (Direktlink) herunterladen)
Mit 40 Euro ist sie eher teuer - womit wir schon bei den drei Nachteilen sind: der hohe Preis, wenig knackige Einsteigerabenteuer und nur 9 Monster.
Das System ist ein stark abgespecktes 3.5:
- Die bekannten 6 Attribute, keine Saving Throws (stattdessen Attributsproben), 3 Kampf-BABs (Nah, Fern, Magie; fungieren u.U. als Save-Ersatz), Defense (als AC-Ersatz)
- Spielbare Rassen: Elf, Zwerg, Halbelf, Mensch und Ork
- Charakterklassen: Kämpfer, Magier, Priester, Dieb und Waldläufer
- Charakterschaffung: 2 Seiten, kurz und schmerzlos, + 2 Seiten Skills
Jede Charakterklasse verfügt über 3 Skill/Feat Lists aus jeweils 4 Sonderfertigkeiten. Der Kämpfer hat z.B.
Weg des Schildes, Weg des Kampfes und
Weg der Abwehr, der Magier hat
Weg der Zerstörung, Weg der schützenden Magie und
Weg der universellen Magie.
Der Weg des Schildes (Kämpfer)
1.
Einen Schlag blocken - bei einem gelungenen, weiteren Angriffswurf gilt ein Angriff als pariert
2.
Einen Mitstreiter beschützen - der RK-Bonus des Schildes wird einem Mitstreiter zugeschlagen
3.
Einen Zauber blocken - ein Angriffswurf wird mit dem Zauberwurf verglichen, bei Erfolg prallt der Zauber ohne Effekt am Schild ab
4.
Einen Zauber reflektieren - eine Art "Rückhand-Volley" mit dem Schild, wird wie "blocken" gewürfelt
Der Weg der Zerstörung (Magier)
1.
Magisches Geschoss - 1w4 Schaden, trifft immer
2.
Schwächender Strahl - Gegner erhält -2 für 6 Runden
3.
Flammenklinge - lässt eine Klinge entflammen, Schadensbonus 1w6+INT-Bonus
4.
Feuerball - 3w6+INT-Bonus Schaden in einem 10m-Radius
Manche Zauber gelingen erst, wenn der Magier eine magische Attacke (im Prinzip ein normaler To-Hit-Roll mit separatem Bonus) schafft.
Auf dem Charakterblatt der Einsteigerversion sind alle 12 Skills/Feats aufgeführt. Jeder Charakter beginnt das Spiel mit zwei der Skills (durch einfaches ankreuzen). Bei jedem Stufenanstieg dürfen zwei weitere Skills angekreuzt werden. Ich rechne damit, dass in der Vollversion jeder Klasse noch weit mehr Listen zur Auswahl stehen, oder die Listen noch weitergeführt werden. Und das ist gleichzeitig die Gefahr, dass Chroniques Oubliées letzten Endes doch wieder wie 3.x wird - monströse NSC-Statblocks und Buchhaltung (gepaart mit der Gefahr, dass so Sachen wie AoO, Grappling usw. auch noch wiederkommen). Immerhin dürfte es mit der Listen-und-Ankreuzen-Methode leichter sein, NSCs zusammenzubasteln.
Dieses Skillsystem hat bei mir jedenfalls offene Türen eingerannt, denn mit genau sowas habe ich vor einigen Jahren mal herumgespielt. Ausgehend von MERS fragte ich mich:
Was wäre, wenn alle Charakterfertigkeiten wie MERS-Spruchlisten funktionieren? Ich habe allerdings nicht genug konkrete Fertigkeiten gefunden, um meine Listen zu füllen, und die Idee zu den Akten gelegt. (Bei mir hätten sie auch länger als nur 4 Skills sein sollen, das war wohl das Problem.)
Jetzt, da ich diese Listen übersetzt vor mir sehe, erinnern sie mich mehr an die Grundfähigkeiten der Magier und Priester in Midgard I - was in mir auch nostalgische Gefühle weckt.
Diese Feats können aber auch Kummer bereiten. Ein Spiel, das für "am Kronleuchter schwingen" einen Skill hat, suggeriert, dass niemand ohne diesen Skill eine Mantel-und-Degen-Aktion versuchen kann.
Ein Beispiel: Ein Chroniques Oubliées-Kämpfer kann einen Mitstreiter schützen, indem er seinen Schild zwischen Freund und Feind hält (mit dem Effekt, dass die RK seines Freundes um den mickrigen Schildwert besser wird). Kann sowas nur ein Kämpfer machen, der den Skill erlernt hat? Könnte das nicht eigentlich jeder versuchen, z.B. ein Priester, der genau daneben steht?
Insgesamt ist dies die von so vielen Leuten sehnlichst erträumte Wiederkehr der Roten Box (die im Impressum auch mit einer Widmung bedacht wurde) - ein (seit 4e nicht mehr ganz) aktuelles D&D auf dem Komplexitätsgrad des Basis-Sets. Oder halt nur ganz knapp vorbei, denn die Rote Box hatte trotz allem mehr (auch didaktischen) Inhalt; ein paar mehr Zauber, mehr Monster, mehr grundsätzliche Ermutigung für den DM.
Trotzdem kann man mit diesem Inhalt
selbsterschaffene Charaktere bis Erfahrungsstufe 4 spielen, was sie jedem bisherigen WotC-Einsteigerprodukt ("wir spielen Stufe 1-2, aber nur mit den vorgefertigten Charakteren") haushoch überlegen macht.
Das eigentliche Problem dürfte eher sein, dass Black Book Editions nicht der Verlag ist, der es schafft, das Spiel dort zu platzieren, wo ein Einsteigerspiel den größten Effekt haben kann. Ich habe es jedenfalls nicht bei FNAC gesehen, sondern nur in den Pariser Rollenspielläden. Da werden wieder nur Eulen nach Athen getragen.
Und die Vollversion ist
überfällig. Ich habe so meine Zweifel, ob die überhaupt noch kommt...