Und so machte Stian sich auf den Weg. Wo es zum Dunklen Portal ging, das hatte er ja schon herausgefunden, als er in den Blasted Lands all das Viehzeug gejagt hatte, das sich dort in Massen herumtrieb. Es, und Dämonen, das schien alles zu sein, was diese Ödnis hervorbrachte. Und das zugehörige Gesindel, die Dämonenbeschwörer, nicht zu vergessen natürlich.
Trotz der Dämonenplage schaffte der Sin'dor es vergleichsweise unbehelligt bis zum Dunklen Portal. Es war ein erhebender Moment, vor dem massiven Bauwerk zu stehen und in das grüne Leuchten zu treten - oder wäre es zumindest gewesen, wenn Stian einen anderen Gedanken hätte fassen können als den, dass eigentlich Riná in diesem Augenblick hätte neben ihm stehen sollen.
Stian schloss einen Moment lang die Augen, verdrängte den schmerzhaften Gedanken und trat durch das Portal. Ein kurzer Moment der Desorientierung, in dem der grüne Schein sein Inneres komplett zu durchdringen schien, dann ein weiterer Schritt, und der Schurke befand sich zum ersten Mal in seinem Leben in einer anderen Welt. Sein erster Eindruck war der vom verschleierten, sternenübersäten Himmel, den Riná ja bereits zu beschreiben versucht hatte. In Natura war es ein überwältigendes Schauspiel, und Stian hätte sich gerne länger davon verzaubern lassen. Doch zu bald schon wurde sein Blick auf die Ereignisse vor ihm am Fuße der Treppe gezogen - und die ließen ihm beinahe das Blut in den Adern gefrieren: Vor dem Dunklen Portal tobte eine erbitterte Schlacht. Auf dem ersten Treppenabsatz war ein Lager eingerichtet worden, oder besser gesagt zwei. Denn obwohl Horde und Allianz hier gemeinsam und verbissen das Portal gegen die vordringende Höllenbrut verteidigten, waren die Animositäten zwischen den beiden Fraktionen doch so groß, dass man weiter oben, wo keine direkte Gefahr bestand, doch besser voneinander Abstand hielt.
Mit großen Augen stieg Stian langsam hinab zum Hordelager, orientierte sich dort erst einmal und erstattete dem Orc-Kommandanten Bericht, wie dessen Gegenpart auf der anderen Seite des Portals - in einer anderen Welt, wie der Sin'dor sich immer wieder sagte; in einer anderen Welt, die nun hell und voll am Nachthimmel zu sehen war - es erbeten hatte. Der Soldat schickte den Schurken weiter nach Thrallmar, der größten Horde-Ansiedlung hier auf der Höllenfeuerhalbinsel, doch ehe er sich dorthin auf den Weg machte, begann er gleich hier seine Nachforschungen nach Riná. Ja, die Heilerin war hier durchgekommen, beschied man ihm, anscheinend sogar mehr als einmal. Doch ihre letzte Ankunft in der Scherbenwelt war offensichtlich schon einige Zeit her, zumindest hatte sie seither niemand gesehen. Zwar kamen jeden Tag etliche Abenteurer durch das Portal, doch es gab hier kaum einen Weg durch die Schlachtlinien außer auf den Windreitern von Meisterin Frayfeather, und diese hatte ein ziemlich gutes Gedächtnis. Damit war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass seine Liebste sich tatsächlich noch hier in Outland aufhielt, überlegte Stian. Es sei denn, sie war auf einem anderen Weg nach Azeroth zurückgekehrt - aber darauf hatte der Blutelf keinen Einfluss. Nein, er würde hier suchen, die ganze Scherbenwelt auf den Kopf stellen, wenn es sein musste, bis er herausgefunden hatte, was aus Riná geworden war. Und gnade demjenigen, der ihr etwas angetan hatte, wenn er, Stian, ihm auf die Schliche kam! Aber, Schatten und Licht, das durfte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein! Er wusste nicht, wie er ohne sie weiter...
Nein. Diesen Gedanken konnte der junge Schurke nicht zuende denken. Es musste Riná einfach gutgehen, und er würde keine Ruhe geben, bis er sie gefunden hatte.
In Thrallmar war sie gewesen, erfuhr er auf seine Nachfrage dort, und auch in Spinebreaker Post, einem kleinen Außenposten in den südlichen Bergen. In Falcon Watch, einem etwa in der Mitte der Halbinsel gelegenen Posten der Sin'dorei, konnte man sich nicht an die Priesterin erinnern, aber das hatte nicht viel zu sagen, hieß es. Hier kämen zwar jeden Tag zahllose Blutelfen vorbei, auch Angehörige anderer Völker, aber da Falcon Watch direkt an der Straße lag und die Zangarmarsch nicht weit war, ritten viele auch einfach ohne Halt weiter, bis sie die öde Höllenfeuerhalbinsel hinter sich gelassen und die Zuflucht der Cenarion-Expedition direkt hinter der Grenze erreicht hatten.
Folglich ritt auch Stian in Richtung Zangarmarsch, aber schon die Cenarier kurz vor der Grenze konnten ihm mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Riná hier nicht entlang gekommen war, zumindest nicht auf der Straße - und die Straße war der einzige Weg durch die Schlucht; ohne Flugtier war es völlig unmöglich, über die hohen Berge zu beiden Seiten des Passes zu gelangen. Dennoch legte der Schurke auch noch den Rest des Weges bis zur Cenarion-Zuflucht zurück, wo er tatsächlich bestätigt bekam, dass keine Sin'dorja, auf die Rinás Beschreibung passte, dort angekommen sei.
Also gut. Wenn sie nicht doch irgendwie nach Azeroth zurückgekehrt war, dann befand Riná sich noch auf der Höllenfeuerhalbinsel. Das war doch schon einmal etwas. - Wenn Stian zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, dass auch ein Weg über den Razorthorn Trail von hier weg in den Wald von Terokkar führte, wäre er vielleicht verzweifelt, aber so überkam ihn fast etwas wie Hoffnung. Eine einzige, wenn auch von Dämonen nur so wimmelnde Halbinsel... Das sollte seine Suche doch überschaubar machen...
Aber so sehr Stian sich auch bemühte, die Frau seines Herzens schien wie vom Erdboden verschluckt. Unermüdlich verfolgte der Sin'dor eine Spur nach der nächsten, sprach mit jedem halbwegs freundlich gesinnten Geist in diesem öden Land und schlich sich in jedes feindliche Lager, von dem er nur irgendwie erfuhr. Wenn zufällig jemand dort eine Mission erfüllt haben wollte, dann nahm der Schurke diese an und erledigte sie bei seiner Suche nebenbei mit, aber in dieser Zeit konnte und wollte er sich nicht auf irgendwelche unwichtigen Aufgaben konzentrieren, während seine Liebste vielleicht in Feindeshand gefangen war!
Die ganze Höllenfeuerhalbinsel suchte Stian ab, war von morgens bis abends und oft auch nachts auf den Beinen. Er übernachtete fast immer draußen, wo er gerade noch ein Lagerfeuer zustande bekam, wenn er abends zu erschöpft war, um seine Suche fortzusetzen, und das Risiko, dass er einen fatalen Fehler beging, wenn er sich in diesem Zustand auf Feindesgebiet wagte, einfach zu hoch war. Nach Thrallmar oder Falcon Watch begab er sich nur, wenn er wieder einmal nachfragen wollte, ob Riná inzwischen gesichtet worden sei. Die Gastwirte dort kannten ihn bald mit Namen, und er hatte ihnen natürlich - wie all seinen anderen Gesprächspartnern, den Händlern und Greifenmeistern und Wachtposten an den Toren, auch - eine Nachricht für die Sin'dorja aufgegeben, aber die Antwort war leider immer wieder dieselbe: Die Priesterin hatte sich nicht blicken lassen.
Was ihn selbst anging, so kümmerte Stian sich nur um das Nötigste. Er verschwendete keine kostbare Zeit auf Unwichtigkeiten wie Rasieren oder Ähnliches - oder wenn, dann nur, weil er wieder einmal in einer Ansiedlung vorsprechen und keinen allzu verlotterten Eindruck machen wollte. Er nahm immer nur dann schnell etwas zu sich, wenn es gerade passte und er sich stärken musste, damit er nicht unaufmerksam wurde. Seine sonst durchaus gepflegte Kleidung wies inzwischen deutliche Spuren von den zahllosen Klettertouren über rauhes und felsiges Gelände auf; kurz, der junge Schurke war in diesen Tagen - nein, Wochen! - ein getriebener Mann, viel mehr noch als zuvor in Azeroth, als er lediglich Rinás Maß an Erfahrung hatte einholen wollen.
Erfahrung... davon sammelte er eine Menge in dieser Zeit, obwohl er es darauf gar nicht anlegte. Denn obgleich Stian nur dann Aufträge annahm, wenn diese ihm nicht bei seiner Suche in die Quere kamen, konnte er doch die eine oder andere Sache nebenbei erledigen, und allein die Tatsache, dass er sich für die Suche nach Riná mit jedem einzelnen Gegner auf der Höllenfeuerhalbinsel anlegte, ließ ihn sehr viel lernen. Ehe der Blutelf es sich versah, hatte sein Schurkenlehrer ihn in den sechzigsten Zirkel erhoben. Nun verkaufte ihm der Pferdehändler in Brill auch endlich die magische Satteldecke, auf die der Schurke schon lange ein Auge geworfen hatte. Wann immer Stian Boneshade diese Decke auflegte, beschleunigte sich der Galopp des blauen Skeletthengstes beträchtlich , so dass der Sin'dor schon bald gar nicht mehr auf diese neue Errungenschaft verzichten wollte.
Die grüne Satteldecke erlaubte es ihm, die Halbinsel noch schneller und effizienter zu durchstreifen als bisher, doch nicht einmal das half. Riná war und blieb verschwunden. Stian gab nicht auf, suchte verbissen weiter, folgte jeder noch so kleinen Spur, wagte sich in die entlegensten Ecken des Landes, und er gewann immer weiter an Erfahrung.
Mit jedem Tag, der ergebnislos verging, wuchs Stians Kummer, seine Verzweiflung, seine hilflose Wut. Und als er bei seinen immer ausgedehnteren Streifzügen dann auch noch die allerletzte Ecke der Höllenfeuerhalbinsel erkundete und dabei auf den Razorthorn Trail stieß, war dem Schurken, als habe man ihm einen vergifteten, mit Widerhaken bewehrten Dolch ins Herz gestoßen und diesen mehrfach in der Wunde herumgedreht. Wenn Riná hier entlang gekommen war, dann konnte sie wirklich überall sein. Und falls sie auf ihrem Weg hier entlang den Ravagern zum Opfer gefallen war, von denen es in der Gegend nur so wimmelte... Gebleichte Knochen hatte er hier schon einige gesehen, aber - oh, Schatten und Licht, nein. Nein! - falls der Heilerin wirklich etwas zugestoßen war, wenn sie wirklich... Stian schluckte. Jedenfalls müsste dann noch mehr zu erkennen sein als nur Knochen, dann hätte er einen Hinweis gefunden, ein Stück ihrer Kleidung, ihren Stab, den Schmuck, den er für sie angefertigt hatte... Er hatte so gründlich gesucht; wenn es etwas zu finden gegeben hätte, dann hätte er es gefunden, da war er sicher. An dieser Hoffnung klammerte Stian sich fest.
Es war weit und breit keine Seele zu sehen, die er hätte fragen können, ob eine Sin'dorja von Rinás Beschreibung hier entlanggekommen war, weder hier, noch auf der anderen Seite im Wald von Terokkar. So ungern er sich das auch eingestehen wollte, er hatte die Spur verloren...
Stop. So durfte er gar nicht erst denken. Wenn er jetzt seine Suche auf die ganze neue Welt ausdehnen musste, dann würde er das eben tun. Und wenn ihn sein Weg wieder nach Azeroth zurückführte, dann würde er eben auch ganz Azeroth auch noch einmal absuchen...
Der Tag war schon weit fortgeschritten, und der Sin'dor beschloss, zunächst nach Thrallmar zurückzukehren, sich dort neu zu verproviantieren und dann zu überlegen, wo und wie er seine Suche am besten fortsetzen sollte.
Er erreichte die Orc-Festung nicht mehr am selben Tag, sondern musste wieder einmal im Freien ein Lager aufschlagen, aber das hatte dem Schurken noch nie etwas ausgemacht, und in seiner derzeitigen Stimmung war ihm seine Umgebung sowieso herzlich egal. Rasiert hatte er sich ebenfalls schon über eine Woche lang nicht mehr, aber auch das kümmerte den Blutelfen momentan nicht im geringsten.
Am nächsten Vormittag kam Stian in Thrallmar an - und bemerkte sofort, dass in Floyd Pinkus, dem Gastwirt, eine Veränderung vorgegangen war. "Gut, dass Ihr kommt, Elf", begrüßte ihn der Forsaken eilig, "es wurde vorgestern ein Brief für Euch abgegeben. Ich sagte dem Postreiter, er solle ihn hierlassen und nicht nach Falcon Watch weiterreiten, weil Ihr hier öfter vorbeischaut als dort, stimmt doch, oder?"
Der Schurke hatte schon die Hand ausgestreckt, kaum dass Pinkus das Wort 'Brief' ausgesprochen hatte.
"Eine Nachricht für mich? Rückt schon raus, Mann!"
Die Handschrift auf dem Umschlag kam ihm vage bekannt vor, doch im ersten Moment konnte der Blutelf sie nicht einordnen. Ungeduldig brach er das blutrote Wachssiegel auf der Rückseite.
Dieselbe schwungvolle Hand hatte auch die eigentliche Nachricht eilig auf das Pergament geworfen:
Schnell, kommt nach Silbermond... Ihr müsst mir helfen... Ich habe Riná gefunden... beeilt Euch...
Lady H. Sanemúra
Stians erste Reaktion war unendliche Erleichterung, und er spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Schatten und Licht sei Dank, Riná lebte! Doch ein neuerlicher Stich der Angst um seine Liebste folgte dem ersten Aufatmen auf dem Fuße. Denn 'kommt schnell', 'Ihr müsst mir helfen' und 'beeilt Euch' klang gar nicht gut. Das klang sogar verdammt besorgniserregend...
Mit einem extrem knappen Wort des Dankes an den Forsaken wandte Stian sich ab und raste förmlich zu Barley, dem Windreitermeister. Er würde schneller an seinem Ziel ankommen, wenn er sich nach Shattrath fliegen ließ und dort das Portal nach Silvermoon durchschritt, als wenn er seinen Herdstein benutzte, sich nach Grom'Gol zurückversetzte, von da aus den Zeppelin nach Undercity nahm und dort den Teleporter aktivierte.
Auf dem Windreiter, dessen Geschwindigkeit er nicht beeinflussen konnte, hatte der Schurke unangenehm viel Zeit zum Grübeln. Mit Macht versuchte er sich von dem immer wiederkehrenden Gedanken abzulenken, was die kryptischen Worte aus dem Brief wohl bedeuten mochten.
Lady H. Sanemúra - das musste Haniko sein, Rinás Zwillingsschwester. Damit kannte er jetzt endlich Rinás Nachnamen... Denn den hatte er bisher nie erfahren: Selbst bei ihrer ersten Begegnung in Hammerfall damals, als er sich selbstverständlich mit vollem Namen als Stian Skyggvandre vorgestellt hatte, war seine Gesprächspartnerin bei einem einfachen "Ich bin Riná" geblieben. Fast so, als wolle sie nicht über ihre Familie sprechen... - und später hatte Stian dann ja auch erfahren, dass es um Rinás familiäre Beziehungen wirklich nicht zum Allerbesten bestellt war. Sanemúra also. Riná Sanemúra... schön klang das... Hinterrücks überfiel ihn der Gedanke wieder.
Oh bitte, lass es ihr gut gehen!