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[Dresden Files] Miami Files - Die Ritter von Miami (a.k.a. "Die schönen Männer")
Timberwere:
8. März
Totilas hat mit seinem Cousin geredet. Auch ohne seine IT-Künste größer zu bemühen, konnte der junge Hacker mit einer ersten Suche bereits Folgendes feststellen: Die Summerwind ist ein mittelgroßes Containerschiff unter britischer Flagge, mit einer Besatzung von 16 Personen. Fracht laut öffentlichem Manifest: Ikea-Möbel, Autoteile und dergleichen. Vin war aber bereits jetzt misstrauisch, weil das alles zu normal war, zu glatt, zu sauber. Das Schiff selbst sei schon etwas älter, die Funkanlage zuletzt 1997 erneuert. Und das kann schon mal nicht stimmen, denn wir haben mit eigenen Augen gesehen, dass die Satellitenanlage der Summerwind brandneu ist. Vin will sich die Sache näher ansehen und sich wieder melden, kann aber nicht sagen, wie lange das dauern wird.
Wir anderen hielten indessen Kriegsrat und beschlossen, uns das Schiff schon einmal ansehen zu gehen, auch ohne die tiefergehenden Informationen von Vin zu haben. Wir wissen nicht genau, ob das nicht sonst vorher ausläuft, deswegen wollen wir nicht zu lange warten.
Cicerón und Ilyana sagten übrigens, ihrer Meinung nach hätten Steinbach, Jak und Adlene dort am Hafen nicht damit gerechnet, dass sie von den drei Guardians gestört werden würden. Es sieht so aus, als wäre ihnen – und auch sonst niemandem – bewusst, was wir mit unserem Genius Loci-Ritual genau erreicht haben, sondern dass sie denken, wir hätten mit unserer Aktion einen Ward hochgezogen oder etwas in der Art. Mit etwas Glück haben sie auch nicht die Verbindung zwischen ihren Machenschaften und dem prompten Auftauchen der Santo Shango gezogen, sondern halten das für Zufall. Also, was uns betrifft, darf das auch sehr gerne noch möglichst lange so bleiben.
Aber jetzt muss ich erstmal los – wir treffen uns am Hafen.
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Wieder zurück. Die Summerwind lag tatsächlich noch am Pier, die Polizei war aber natürlich längst abgezogen. Im Lagerhaus waren Hafenarbeiter zugange, die dort aufräumten.
Aus unauffälliger Entfernung beobachteten wir das Schiff. Wenn es dort etwas Nützliches zu holen gab, dann am ehesten auf der Brücke, überlegten wir uns. Die Black Box wäre für Cousin Vin bestimmt Gold wert.
Nur wie sollten wir dort hinauf kommen? Mit offener Waffengewalt schon mal nicht – es war definitiv Heimlichkeit angesagt.
Kurz überlegten wir, ob ich mir vielleicht eine glaubwürdige Geschichte einfallen lassen könnte bzw. was für eine Geschichte am besten ziehen würde, aber ziemlich gleich warf Roberto ein: „Carmen kann sie ablenken“, und das klang nach einem ausgezeichneten Plan. Carmen, die mir eine laute, emotionale Szene macht? Perfekt.
„Alles klar“, sagte Roberto, „ich komme gleich wieder. Oder nein, Carmen kommt gleich wieder.“
Und tatsächlich: Nur eine Minute später schlenderte Carmen um die Ecke, gekleidet in den Rock, die Stola und die Pumps, die Roberto irgendwie immer in der Tasche hat, nur für den Fall.
Gemeinsam bewegten wir uns in Sichtweite des Containerschiffs, und los ging das Schauspiel.
Da lag noch eine Yacht in der Nähe, die dort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht hingehörte – irgendein Schlaumeier musste in die falsche Rinne gefahren und dann steckengeblieben sein. Aber das konnte uns in dem Moment nur recht sein, denn das nutzte Ro Carmen eiskalt aus:
„Was soll das, das ist keine Yacht! Soll das etwa eine Yacht sein? Du hast mir eine Yacht versprochen!“
Sie ging in den hundertprozentigen Telenovela-Modus, ich reagierte entsprechend, und das klappte super.
Wir taten natürlich so, als würden wir uns nur füreinander und für unseren 'Streit' interessieren, aber aus dem Augenwinkel konnten wir sehen, dass ein paar Arbeiter aus der Lagerhalle kamen, um uns zu beobachten und auf der Summerwind etliche Besatzungsmitglieder über die Reling gafften. Beflügelt von unserem Publikum, und um dessen Aufmerksamkeit fest auf uns zu halten, wurden wir laut. Es funktionierte bestens: Ein paar Arbeiter mischten sich in unsere Diskussion ein, und dann fingen sie an, sich untereinander zu streiten, und von oben vom Schiff kam sogar so etwas wie Anfeuerungsrufe.
Wie ausgemacht, beobachtete Totilas währenddessen die Gegend, hielt Edward sich für Ärger bereit und nutzte Alex die Ablenkung, um auf das Schiff zu gelangen.
Was nun passierte, erzählten Alex und Edward erst später bei der Nachbesprechung, aber es passt zeitlich einfach besser hierher, deswegen schon jetzt.
Mit einem Boot und von der dem Pier abgewandten Seite kam Alex unbemerkt an Bord und auf die Brücke. Zuerst versuchte er, sich selbst in die Black Box zu hacken, aber die war besser gesichert, als er erwartet hatte. Und es begann ein Warnlicht zu blinken, das Alex sagte, dass er vermutlich Alarm ausgelöst hatte, also baute er den Kasten aus und verließ schleunigst die Brücke. Die Black Box kam in einen wasserdichten Beutel, und gerade wollte Alex mitsamt seiner Beute über die Reling und ab ins Wasser, als der Kapitän des Schiffes angerannt kam und unserem Kumpel hinterherfeuerte – und zwar nicht aus einer Pistole, wie man das vielleicht erwartet hätte, sondern mit einer schallgedämpften Kalaschnikow. Nicht nur hörten wir vorne auf dem Pier deswegen nichts von dem Schuss, sondern das war auch ein weiterer Hinweis darauf, dass mit der Summerwind etwas nicht stimmte.
Alex sprang ins Wasser, zog sich in das Boot, und es gelang ihm, wegzukommen, ohne von einer der weiteren abgefeuerten Kugeln getroffen zu werden.
Wegen des Schalldämpfers konnten wir die Schüsse nicht hören, aber Alex rief bei uns an, als er in Sicherheit war. Und das wiederum war für Carmen und mich das Stichwort, unsere Vorstellung so ganz allmählich zu beenden und uns zurückzuziehen. Das ging natürlich nicht von jetzt auf sofort, aber irgendwann hatten wir es geschafft.
Währenddessen war Edward, der ja so tat, als würde er nicht zu uns gehören, sondern sich zufällig und separat dort am Hafen aufhalten, mit einem der Arbeiter aus der Lagerhalle ins Gespräch gekommen. Der Mann erzählte ihm völlig schockiert, dass irgendetwas einfach die Tür eines Krans in der Halle herausgerissen hätte: Irgendetwas würde ganz gewaltig nicht stimmen, aber die Regierung würde alles vertuschen, wie so oft! Knochentrocken antwortete Edward: „Wahrscheinlich war es ein Monster“, was genau die erwartete Reaktion zur Folge hatte: „Verarschen kann ich mich selber!!“
Nein, für den Arbeiter waren das irgendwelche Aliens oder genmanipulierte Super-Soldaten der Regierung oder etwas in der Art – genau wie die seltsamen Froschleute, die vor einer Weile am Strand aufgetaucht waren. Und er gab Edward die Adresse eines Internetforums, dem Treffpunkt der entsprechenden Klientel, und nannte ihm auch seinen Benutzernamen dort: WiseBro66 oder so, wenn ich mich nicht irre.
Und wie man sich aus dem Obigen schon denken kann, dauerte es auch bei Edward eine ganze Weile, bis er sich aus dem Gespräch lösen konnte und wegkam.
Zurück in unserem Ferienhaus – wir sollten uns mal einen Namen dafür überlegen. Inoffiziell werde ich es, glaube ich, ab jetzt einfach Casa Guardián nennen – beriefen wir einen Kriegsrat von uns allen ein und besprachen das Gesehene.
Erste Schlussfolgerung: Der Kapitän der Summerwind war zu gut bewaffnet, eine schallgedämpfte AK47 ist auch nicht so völlig normal, und das Schiff war zu gut bewacht. Die dürften mit einiger Sicherheit wissen, was sie da transportiert haben bzw. vielleicht sogar regelmäßig transportieren.
Ob das Schiff vielleicht dem Weißen Rat gehöre bzw. seine besondere Fracht im Auftrag des Weißen Rates befördere? Und ob die Lieferung der schwarzen Kiste auf eine Kooperation des Magierrates mit den Outsidern hindeute?
„Naja, was heißt Kooperation?“, gab Alex zu bedenken, „vielleicht wissen sie gar nicht, dass Outsider involviert sind. Vielleicht haben sie ‚nur‘ etwas an Stefania Steinbach geliefert, den Lehrling des örtlichen Wardens?“
Das passte aber auch nicht so richtig, weil der Rat ja nach Declan gesucht hat und überdies zu glauben scheint, dass Miami von den Fomori überrant worden sei; dann würden sie wohl kaum etwas hierher schicken, ohne vorher doch nochmal näher nachzuforschen.
Ob wir Vanessa Gruber kontaktieren sollten? Hm, nein, lieber nicht, weil es uns ja gerade ganz recht ist, dass die Ratsmagier denken, Miami habe ein Fomor-Problem. Oder uns im Paranet erkundigen? Hmmm, lieber auch nicht, weil die Paranetter ja ganz grundsätzlich dem Rat nicht sehr freundschaftlich gegenüberstehen und Ratsangelegenheiten normalerweise so weit wie möglich aus dem Weg gehen, das wäre also höchstvermutlich eher schädlich als hilfreich. Außer natürlich, es hat nichts mit dem Rat zu tun, und jemand im Paranet hätte einen Hinweis. Aber allein wegen der Möglichkeit das Risiko eingehen?
Wir waren noch am Diskutieren und Überlegen, da meldete sich Vin Raith bei Totilas, und der stellte nach kurzer Begrüßung sein Handy auf laut.
„Erinnerst du dich an Alexi Radis?“
Cólera. Natürlich erinnerten wir uns alle an Alexi Radis. Also nicht alle alle, aber wir Ritter. Von den Guardians waren meiner Erinnerung nach nur Ángel und Cicerón anwesend. Aber jedenfalls ist das Totilas‘ russische Cousine, die damals bei unserer ersten gemeinsamen Halloweenparty (damals noch von Gerald Raith organisiert) auftauchte und versuchte, die Geschäfte der Raith‘ in Miami zu übernehmen.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Summerwind gehört einer Schiffsfondsgesellschaft, wobei die überwiegende Mehrheit der Fondsanteile von einer Firma gehalten wird, und wenn man die Konzernstrukturen dieser Firma sehr tief nachverfolgt, dann steht am Ende Sergei Radis, das Oberhaupt des russischen Zweigs der Weißvampire, seines Zeichens entweder Bruder oder Vater von Alexi.
Mierda. Das Schiff gehört dem White Court.
Was der Frachter transportierte, konnte er bislang noch nicht herausfinden – falls die illegale Fracht sich aber als Drogen herausstellen sollte, soll er, ganz im Sinne der friedlichen Kooperation zwischen den beiden Fraktionen, Cicerón informieren.
Damit trennten wir uns aber erst einmal, weil es doch wieder ein langer Tag war und ich immer noch etwas angeschlagen bin, auch wenn meine Hand nicht mehr ganz so fies wehtut.
Edward ist über Nacht in der Casa Guardián geblieben, weil gerade Vollmond ist und er gerade nicht so viel Lust darauf hatte, mit seinem Halbbruder, dem Teenager, aneinanderzurasseln; Ilyana hat sich auch eines der Gästezimmer gesichert. Cicerón und Dee wollten noch ins Krankenhaus, um Febe einen Besuch abzustatten. Weil die beiden ununterbrochen miteinander stritten, war es vielleicht ganz gut, dass Ángel sich ihnen noch anschloss. Alex und Totilas hingegen wollten Vin noch die Black Box des Schiffes bringen in der Hoffnung, dass der Raith-Hacker daraus noch weitere nützliche Informationen ziehen kann.
Als ich heimkam, war Lidia noch auf. Sie hatte einen etwas seltsamen Ausdruck – ein bisschen amüsiert, ein bisschen genervt, ein bisschen ergeben – im Gesicht, als sie sagte: „Da ist ein Brief für dich gekommen.“
Ich schaute also auf die Kommode im Flur, auf meinen Schreibtisch, wo man eben erwarten würde, dass die Verlobte einem einen Umschlag hinlegt, aber nichts.
Nein, der Brief war im Wohnzimmer. Der Brief hing im Wohnzimmer, mitten in der Luft. Es habe geklingelt, und als sie aufgemacht habe, sei der Brief hereingeschwebt. Lidia habe ihn nicht angefasst, und sie habe auch Monica und Jandra, vor allem Monica, von ihm ferngehalten.
Es war ein grauer Briefumschlag mit Trauerrand, nur mit meinem Namen darauf und ohne Marke, und die Karte darin hatte dieselbe Farbe und denselben Rand. Es war ein sehr höflicher Dank für die Einladung zu meiner Hochzeit, gezeichnet „Hel – Haley – [eine Reihe von nordischen Runen, die bestimmt ebenfalls ihren Namen darstellten]“.
Heilige Mutter Maria, steh mir bei. Wer will bzw. wird denn noch alles zu dieser Hochzeit kommen?!?
Odin hat sich ja auch schon angemeldet… Und ich kann Haley nicht ausladen, auch wenn ich sie streng genommen nicht eingeladen habe, denn das würde ein viel zu großes Licht darauf lenken, dass ich sie nicht eingeladen habe. Ach, gah.
Aber gut, es steht ja ohnehin schon halb Miami auf der Liste: unser beider Familien, alle Guardians, Shango und Oshun, Dallas Hinkle, Marshall Raith… es würde mich nicht wundern, wenn Enrique eigens aus Cuba auftauchen würde. Nicht, dass es mich nicht freuen würde, meinen Bruder wiederzusehen, aber was, wenn er versucht, Ärger zu machen und Jandra zu entführen? Ich wiederhole mich, aber: Heilige Mutter Maria, steh mir bei.
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9. März
Heute haben wir (nur wir Ritter diesmal) uns im Hotel mit Vin Raith getroffen, der offenbar eine Nachtschicht eingelegt und die Black Box ausgewertet hat.
Aber vorher erzählte Totilas uns noch, dass er gestern abend noch mit Marshall geredet hat, um den über das Schiff in Kenntnis zu setzen. Marshall wusste bereits, dass die Russen regelmäßig in die U.S.A liefern – er sagte, sie hätten ihre Finger in allem Möglichen: Kokain, Menschenhandel… Er meinte auch, es würde nicht viel helfen, den Weißen König um Intervention zu bitten: Der würde einen Brief schreiben, die Radis‘ würden freundlich nicken und nichts ändern. Also müssen wir wohl selbst tätig werden: Der erste Schritt wäre normalerweise, die Schiffsbesatzung auszuschalten – entweder über die Polizei oder durch Vigilanten, sprich uns.
Das, was Vin uns dann bei dem Treffen erzählte, zielte genau in dieselbe Kerbe. „Die Infos passen zu den Russen“, meinte er. Jetzt, wo der Red Court verschwunden ist, hat sich in Südamerika ein Machtvakuum aufgetan, und da wollen die Radis wohl hineinstoßen. Das Schiff fährt offiziell nur zwischen Großbritannien und den USA hin und her, aber in Wahrheit ist es schneller als seine Papiere und kann daher unbemerkt und ohne Verdacht zu erregen auch zusätzliche Ziele in Süd- und Mittelamerika anlaufen.
Die Summerwind hat in Kuba und Mexiko Ladung aufgenommen: Kisten (vermutlich Kokain) und Container (vermutlich Menschen) – das schreit ‚Radis‘. Die Ladung wurde allerdings bereits gelöscht und ist von Bord.
Außerdem hatte das Schiff einen inoffiziellen, sonst nirgendwo vermerkten, Passagier an Bord: einen gewissen Emilio Lopez, der in England an Bord gekommen ist. Das war dann wohl derjenige, der das schwarze Kästchen übergeben hat. Das Schiff hat ein paar Passagierkabinen und nimmt durchaus auch mal offiziell Leute mit, aber dieser Lopez stand definitiv nicht auf dem normalen Manifest.
Lopez arbeitet offenbar für ein hochexklusives Schweizer Auktionshaus: Das sieht so aus, als habe da jemand etwas ersteigert und es nicht per Post oder Paketversand verschickt, sondern es sei persönlich überbracht worden. Und da die Kiste nicht riesig groß war, vielleicht 8x12 Inch: War die vielleicht dazu da, um Münzen zu verpacken? Ganz besondere Münzen?
Natürlich haben wir uns die Webseite des Auktionshauses angesehen: „Mütli und Schwarzmann, est. 1973“ – sehr gediegener Webauftritt mit ein paar geschmackvollen, zurückgenommenen Bildern, dazu ein Impressum und eine Telefonnummer, das war’s. Kein Auktionskatalog, weder online noch in Papierform zu bestellen.
Angeblich soll das Schiff noch einige Tage hier liegen. Ob wir ihm – und damit den Radis – die Steuerfahndung auf den Hals jagen sollten?
Gemeinsam kamen wir schließlich auf folgende Idee: Da ist dieser Fahrtenschreiber aufgetaucht, urplötzlich und wer weiß, woher, huch, was da wohl drauf sein mag?
Das ist zwar natürlich überhaupt nicht vor Gericht nutzbar, aber könnte den Behörden immerhin einen ersten Ansatzpunkt liefern. Marshall Raith kann da hoffentlich etwas in die Wege leiten.
Wieder unter uns informierte Totilas, wieder ganz im Sinne der guten Zusammenarbeit, Cicerón über das Schiff und was wir herausgefunden haben. Der war natürlich schwer begeistert (nicht) und sagte, er werde mal mit dem Kapitän der Summerwind reden gehen. ‚Reden‘. Ähem.
Außerdem trugen wir noch einmal zusammen, was wir momentan eigentlich alles an ‚Baustellen‘ offen haben.
Da wären natürlich zunächst die Radis und ihr neu erwachtes Interesse am Geschäft hier.
Dann Jak und die Kiste, von der wir nicht wollen, dass er sie hat.
Bei der Gelegenheit rekapitulierten wir auch nochmal, dass Jak vermutlich nicht nach Outside weggebeamt ist, sondern ‚nur‘ ins Nevernever, weil es gar nicht so einfach sein dürfte, mal einfach zwischen hier und Outside hin- und herzuwechseln. Auch die Tentakelhunde dürften aus den hinteren Regionen des Nevernever geholt haben, nicht von Draußen. Nach Outside wird Jak vermutlich erst dann wieder gehen wollen bzw. können, wenn er hier das erreicht hat, was er erreichen will. Und was will er erreichen? Vermutlich alles zerstören, sprich auch das Hier dem Outside gleich machen. Brrrr. Fiese Vorstellung.
Dann Emilio Lopez, der hier in Miami von Bord gegangen ist und sich höchstvermutlich noch immer hier aufhält. Außerdem ist da Eoife, der wir versprochen haben zu helfen, und die Sache mit der Morrigan, die wir für Orcus finden sollen, or else.
Totilas hatte die Idee, dass wir Miami fragen könnten, ob Morrigan hier ist. Und da wäre es doch nur höflich, ein Ritual für Miami abzuhalten – gar nicht mal unbedingt magisch, sondern eine kleine Fiesta mit gutem Essen, Musik und Tanz in der Casa Guardián.
Das haben wir also entsprechend vorbereitet und haben uns dann getrennt, um uns umzuziehen und vielleicht ein paar Stunden auf’s Ohr zu hauen - das könnte ja doch ziemlich lange gehen. Und ich habe natürlich Lidia abgeholt, nachdem wir die Mädchen zu meinen Eltern gebracht haben. Ich rechne nicht mit einer Orgie von Pan’schen Ausmaßen, und wenn es eine Fiesta, gibt, sollte sie dabei sein. Nicht, weil ich ihr keinen Anlass zur Eifersucht geben möchte, sondern einfach, weil ich sie gerne dabei haben möchte.
Gleich fahren wir los – nachher mehr… oder morgen, je nachdem.
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Ghost Story 2
10. März
Gääähn. Guten Morgen. Das war gestern echt nett... aber auch echt lang. Miami freute sich über die Feier und tanzte mindestens einmal mit uns allen – am meisten aber mit Roberto, und der war es dann auch, der sie nach der Morrigan fragte.
Sie sei noch hier, sagte Miami: Jemand habe sie verborgen, aber sie sei noch da. Es habe eine Beerdigung gegeben, und dort auf dem Friedhof sei die Morrigan noch anwesend gewesen, aber dann war sie fort. Morrigan habe öfters mal Beerdigungen besucht, die sie ansprachen: Kelten und irgendwie kriegerische Umstände. In diesem Fall war es ein alter, alleinstehender Schotte namens Jamie Macmillan, der in der Royal Air Force gedient hatte und der bei einer Kneipenschlägerei ums Leben gekommen war.
Morrigan sei auch des öfteren am Coral Castle gegeben, erfuhr Roberto noch. Aber was sie dort gemacht hatte, wusste Miami nicht – es gebe Orte, an die sie nicht so richtig hindenke, weil die nicht richtig zu ihr gehörten. Sie konnte und wollte auch nicht näher darauf eingehen, wo diese Orte überall sind, das war ihr unangenehm, und darauf hatte sie keine Lust. Aber was sie Roberto sagen konnte, war, von welchem Friedhof die Morrigan verschwunden ist. Danach war dann Schluss mit Fragen und Feiern angesagt.
Aber diesen Friedhof müssen wir uns natürlich ansehen. Nachher. Erstmal in Ruhe frühstücken. Uns war ja klar gewesen, dass wir lange schlafen würden, also haben wir uns erst für nachmittags verabredet.
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Wieder zurück. Oookay, das war einigermaßen schräg, sogar für unsere Verhältnisse.
Am Friedhof fanden wir zuerst einmal den Totengräber und redeten mit dem. Wie sich herausstellte, war das Grab von Macmillan leer und der Sarg fort. Eine kleine Bestechung seitens Edward sorgte dafür, dass der Mann nach dem langen Tag sein Kreuz schonen und einen Kaffee trinken ging und wir uns den Ort in Ruhe noch einmal auf unsere Weise anschauen konnten. Edward war der erste von uns, der es bemerkte, aber nachdem er uns darauf aufmerksam gemacht hatte, konnten wir es alle spüren: eine Art magische Reststrahlung, die sich aber irgendwie anfühlte wie Kopfschmerzen. Und zwar Outsider-Kopfschmerzen. ¡Ay, cólera!
Die Outsider-Kopfschmerzen brachten uns auf den Gedanken, ob die Beerdigung dieses Schotten vielleicht eine Falle gewesen war, in die man die Morrigan gelockt hatte? Dass irgendwer sie in seine Gewalt gebracht und im Nevernever festgesetzt hatte?
Wir passten auf, dass wir nicht beobachtet wurden, dann brachte Alex uns hinüber. Auf der anderen Seite war der Ort ein endloses Feld von Gräbern mit einer Atmosphäre der Trauer, der Hoffnungslosigkeit und der Isolation. Tatsächlich war alles in schwarz-weiß gehalten, auch wir selbst. Ein tiefer Graben oder Schlund tat sich vor uns auf. Wir fanden Spuren davon, dass jemand hier ein Ritual gewirkt hatte, und zwar kein nettes. Überall saßen Raben, und es lagen Rabenfedern auf der Erde – und zwar eher wie die der Morrigan, nicht wie die von Stefania Steinbach (die in ihrer Dämonengestalt ja ohnehin eher einer Krähe ähnelt.)
Totilas wollte schon losstapfen, aber ich hielt ihn zurück. „Wir sollten uns irgendwie absichern. Nicht, dass wir auch in eine Falle tappen und nicht zurückkommen.“
„Das können wir nicht“, erwiderte Totilas. „Oder zumindest wüsste ich nicht, wie.“
Edward sah sich mit seinen magischen Sinnen um und stellte fest, dass sich hier offenbar der Eingang in eine Unterwelt befindet (vermutlich in Morrigans eigene), der aber so versiegelt worden ist, dass nichts hinein- oder herauskommen konnte: Entweder ist die Morrigan dort eingesperrt, oder jemand will verhindern, dass sie sich dorthin zurückziehen kann.
Das Siegel sollten wir aufbrechen. Nur wie?
Währenddessen war Totilas immer noch ungeduldig. Er hatte in der Ferne eine Gestalt gesehen und wollte wieder losgehen, aber diesmal war es Alex, der ihn zurückhielt. und Alex war es auch, der die Gestalt als Geist erkannte. Totilas hatte erst so ausgesehen, als wolle er trotzdem weiter, aber dann hielt er plötzlich inne und sagte: „Ähm, besser weg hier.“ (Wie sich draußen herausstellte, hatte Totilas' Dämon den Geist als jemanden identifiziert, den Totilas' in White Court-Manier getötet hatte, was natürlich erklärt, warum er ihm jetzt lieber nicht begegnen wollte.)
Zurück aus dem Nevernever waren wir uns einig, dass wir dieses magische Siegel aber dennoch brechen sollten, ob da jetzt Totilas' Opfer in der Nähe war oder nicht. Dazu wird es aber mit einiger Sicherheit wieder ein Ritual benötigen. Irgendwas mit Rabenfedern und blutbefleckten Gewändern und dem Begräbnis eines Schotten vielleicht. Aber das waren nur erste Gedanken, denn dazu sollten wir am besten auch die anderen Guardians involvieren und das nicht alleine auf die Beine stellen. Also gibt es heute abend ein Treffen in der Casa Guardián . Da können wir dann Genaueres besprechen.
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Zurück vom Treffen.
Wie erwartet, muss das ein einigermaßen mächtiges Ritual werden – nicht so extrem wie Miami aufzuwecken, aber auch nichts, was Edward mal einfach so aus dem Ärmel schüttelt.
Also wollen wir die Komponentensammlung mal wieder aufteilen.
Es fängt auf jeden Fall damit an, dass ich über die örtliche Veteranenvereinigung versuchen werde, ob ich nicht das Begräbnis eines schottischstämmigen Veteranen finanzieren kann – als Wohltätigkeit deklariert, müsste das doch eigentlich gehen. Wenn das irgendwie klappt, fein. Wenn nicht, müssen wir umdisponieren. Wir haben also noch ein bisschen gebrainstormt, aber nicht zu detailliert, falls das mit dem Begräbnis doch nicht klappen sollte.
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12. März
Es klappt aber doch, und zwar sogar ziemlich kurzfristig. Da ist vor einigen Tagen ein gewisser Ian McGowan verstorben – in Schottland geboren, aber als Kind mit seinen Eltern eingewandert und eingebürgert. Einfacher Soldat im Vietnamkrieg, nie größer Karriere gemacht, verarmt, keine Familie. Ich habe eine Ausrede gesponnen, dass ich für meinen nächsten Roman recherchieren will und mich in diesem Zusammenhang erkenntlich zeigen möchte, und das hat man mir anstandslos abgekauft und wird mir ermöglichen, die Beerdigung dieses Ian McGowan nicht nur zu finanzieren, sondern auch deren Ablauf zu beeinflussen. (Das mit der Recherche war sogar nicht mal gelogen – jetzt, wo Firebrand* fertig ist und der Veröffentlichungstermin steht, habe ich angefangen, mir über den nächsten Band genauere Gedanken zu machen. Erste Ideen habe ich schon: Es soll um Totenkulte und Wiedergänger und so Sachen gehen; mal sehen, wie der Titel wird.)
Aber jedenfalls können wir jetzt nochmal genauer planen, wer was zum Ritual beitragen kann.
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16. März
Heute ist Ians Begräbnis. Bevor ich losfahre, noch ein paar Worte dazu, wer jetzt genau was macht.
Ilyana und Febe sind ja nach dem Kampf am Kai (Alliteration for the win) noch nicht wieder weit genug auf dem Damm, um bei dem Ritual aktiv mitwirken zu können, aber sie waren fit genug, um an den Besprechungen teilzunehmen und ihre Ideen einzubringen.
Jedenfalls: Alex hat in den letzten paar Tagen einen zu Ians Leben passenden Grabstein gestaltet, inklusive eines Hinweises auf die Morrigan. Edward hat indessen Begräbnisrituale nach dem Kult der Morrigan recherchiert und wird dafür sorgen, dass sie bei der Beerdigung auch entsprechend angewandt werden.
Roberto hat herausgefunden, dass es einen Tequila namens „José Cuervo“ gibt, und Cuervo heißt ja Rabe, also wird er davon einige Flaschen besorgen und die für einen Umtrunk zu Ehren des Verstorbenen mitbringen. Makaber? Vielleicht, aber gibt es nicht gerade in der gälischen Kultur die Tradition der Totenwache bzw. des Leichenschmauses? Also warum nicht ein Umtrunk? Und ja, statt eines Tequila hätte es auch einen schottischen Whisky namens „Old Raven“ gegeben, aber immerhin sind wir im spanischsprachigen Miami, also passt das mit dem Tequila gar nicht so schlecht. Ein Umtrunk braucht natürlich auch Gäste, deswegen hat Roberto seine Kontakte spielen lassen und einige seiner Bekannten eingeladen, während ich dafür gesorgt habe, dass Ians Veteranenfreunde nicht nur von der Beerdigung erfuhren, sondern explizit eingeladen wurden. Familie hatte Ian ja keine, aber ein paar Freunde aus seiner Vergangenheit können sicherlich nicht schaden – dass es bei einer der Morrigan gewidmeten Trauerfeier auch noch Soldaten sind, kann sicherlich nichts schaden.
Angel hat ebenfalls recherchiert und einen Nachruf auf Ians Leben geschrieben, während Ximena von ihrer irischen Großtante ein Trauergedicht auf Gälisch besorgt hat. Cicerón wiederum sagte, er habe einen schottischen Armeerevolver auftreiben können. Das ist zwar etwas moderner als das Schwert, das man aus den Mythen so von der Morrigan kennt, aber immerhin ist es auch eine passende Waffe zur Erinnerung an eine keltische Kriegsgottheit. (Cicerón ist übrigens auch noch immer ziemlich angeschlagen, und eigentlich hätte ich gedacht, er sollte sich beim Ritual vielleicht noch schonen, aber nachdem Febe beim Brainstorming ziemlich spitz fallen ließ, dass irgendwer von den Santo Shango ja doch wohl irgendwann wieder fit sein würde, knurrte Cicerón und war natürlich fit genug, um mitzumachen, auch wenn er sich mit Totengottheiten nicht größer auskennt. Das macht aber nichts, einen Experten für Totengottheiten haben wir ja in Bjarki.
Der wird übrigens kurz vor Beginn der Zeremonie in Rabengestalt losfliegen und einige Raben als 'Gäste' zusammentrommeln, und Dee hat zum einen die Barriere, die wir aufheben wollen, in den letzten Tagen eingehend studiert, wird zum anderen selbst mit gewissen Schutzzaubern dafür sorgen, dass hoffentlich alles störungsfrei abläuft und vor allem, da sie unsere Ward-Spezialistin ist, die Leitung des Rituals übernehmen.
In knapp einer Stunde muss ich los – drückt die Daumen, dass alles kappt, Römer und Patrioten!
*ich weiß, der Name passt nicht in das Zweiwortmuster der bisherigen Titel, aber das stört mich nicht – im Gegenteil zum Verlag. Der wollte mir Fire Brand als Titel aufschwatzen, um im Muster zu bleiben, aber das hat mich gestört, da habe ich mich geweigert. Das ist nicht nur albern, sondern das wäre einfach nur falsch gewesen!)
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Mierda, mierda, mierda. Das war... mierda. So ziemlich alles schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte. Das muss ich erst noch etwas verarbeiten. Nachher mehr.
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So. Jetzt. Hoffe ich jedenfalls.
Anfangs lief eigentlich alles soweit so gut. Eigentlich. Anfangs. Während der Beerdigungszeremonie führten unsere Magie-Spezialisten unter der Leitung von Dee parallel das Ritual durch. Das fiel auch gar nicht groß auf – nur dann fing plötzlich der Tequila, den Roberto an die Gäste der Trauerfeier ausgegeben hatte, an zu brennen... und dann zogen auch schon erste dünne Rauchfäden aus dem Grabkranz auf. Vermutlich irgendeine Interferenz zwischen der Magie des Rituals und dem leicht entzündlichen Material – ich hoffe jedenfalls, dass es das war, und nicht irgendwas an mir und meiner immer mal wieder auftretenden 'Affinität' zu Feuer, haha.
Jedenfalls eilte ich zu einem der nahegelegenen Brunnen, schnappte mir eine der Gießkannen und versuchte, dass Feuer zu löschen, aber irgendwie half das nichts. Nicht nur richtete ich nichts aus, sondern der dünne Rauchfaden aus dem Grabkranz wurde zu offenem Feuer, und gleich darauf stand auch das Gras in Flammen.
Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als die Magie in mir anzuzapfen und einen Regenguss herbeizuzaubern: einen plötzlichen Platzregen, wie er im Sommer immer mal wieder auftritt, wenn der Himmel eigentlich noch blau ist und die Wolken eigentlich größtenteils hell, und ein Regenbogen zu sehen ist. Das wirkte, auch wenn das Feuer und der plötzliche Regen natürlich nicht unbemerkt geblieben waren.
Aber andererseits waren die Anwesenden … beschäftigt*. Einerseits achteten sie natürlich auf die Beerdigung selbst, aber zum anderen kam es zu gewissen Spannungen zwischen Ian McGowans Mit-Veteranen, die ihrem Waffenbruder die letzte Ehre erweisen wollten, und der Gruppe Latinos, die Roberto eingeladen hatte. Die waren nämlich vor allem wegen des Tequilas da, und als einer der Veteranen einen von ihnen sagen hörte „Wer ist nochmal dieser Ian? Ach der Tote?“, da wäre es beinahe zu einer Prügelei gekommen, die Roberto aber zum Glück mit einigen wohlgesetzten Worten an beide Gruppen („Wir sind doch alle hier, um Ian zu betrauern, und wir sind doch alles echte Patrioten hier“) verhindern konnte.
Zu einer Prügelei kam es dann aber doch, wenn auch ein Stückchen abseits, weil Edward von einem der Veteranen erkannt wurde, den er wohl in der Vergangenheit mal verhaftet hatte, weil er eine Waffe bei sich getragen hatte. Der Typ hatte auch diesmal eine Waffe dabei und fing an herumzupöbeln, ob Edward ihn etwa wieder verhaften wolle. Edward erkannte in dem Mann eine Art verwandte Seele, oder zumindest war ihm bewusst, dass die Streitlust dessen Art und Weise war, seinem Schmerz über den Verlust seines Kameraden Ian Ausdruck zu verleihen. Edward wollte ihm die Möglichkeit geben, sich abzureagieren, aber ohne dass die ganze Beerdigung eskalierte, weswegen er ihn mit einem „Ich habe damals meinen Dienst verrichtet – du weißt, wie das ist, du warst Soldat. Jetzt bin ich hier privat, aber wir können das gerne da drüben klären, damit wir hier nicht stören“ ein Stück weg lotste. Dort prügelten die beiden sich tatsächlich, bis Edward den Mann immobilisierte und entwaffnete und der sich mit einem „Lass mich los, ist ja gut, Blödmann“ geschlagen gab.
Totilas indessen wurde als Raith erkannt, und plötzlich wollten ziemlich viele Leute was von ihm, egal wie oft er sagte: „Sie müssen mich da mit wem verwechseln“. Und Alex zu guter Letzt spürte eine Stelle, an der die Grenze dünner wurde und eine Präsenz dahinter, die dort hindurchkommen wollte. Er stellte sich zwischen Dee und diese dünne Stelle, um seine Schwester beschützen zu können, aber bei der Präsenz handelte es sich nur um den Geist von Ian McGowan selbst, der von der anderen Seite neugierig-sehnsüchtig zuschaute. Und Alex wäre nicht Alex, wenn er da nicht reagiert hätte: „Komm her, feiere deine letzte Feier mit“, sagte er und ließ Ian in sich ein. Er kannte zwar kaum jemanden von den Anwesenden, aber seine Enkelin war gekommen, und das freute den alten Mann. Er hatte zu Lebzeiten nicht sehr viel Kontakt zu seiner Familie gehabt: Jetzt konnte er wenigstens mit seiner Enkelin einen versöhnlichen Abschluss finden, und anschließend half Alex dann, ihn weiterzuschicken.
All diese Dinge schufen eine gute Ablenkung für Dee, um in Ruhe das Ritual zu beenden. Und sie ließ sich auch ausreichend Zeit, weil es ja keinen Grund gab, die Sache zu überhasten und ein Risiko einzugehen. Wieder war Alex derjenige von uns fünf, der spürte, wie etwas zu knirschen begann und dann schließlich etwas brach. Damit war das Ritual beendet, und Dee setzte sich erst einmal hin – sie war zum Glück nicht verletzt oder dergleichen, aber etwas ausgepumpt eben doch.
Im selben Moment, wie die Barriere gebrochen war, flogen die Raben auf den Bäumen mit einem Kreischen auf, und zwei oder drei von ihnen flogen auch genau in den Durchgang hinein. Von den Trauergästen merkte glücklicherweise kaum jemand etwas – die Latinos und die Veteranen hatten allesamt dem Tequila kräftig zugesprochen, und Ians Enkelin war gerade noch mit ihrem Großvater-in-Alex'-Körper im Gespräch.
Nachdem sich die Trauergesellschaft zerstreut hatte und wir alleine vor Ort waren, brachte Alex uns wieder ins Nevernever. Wie zuvor landeten wir in einer weiten, hügeligen, mit Ginster bewachsenen und von Nebel durchzogenen Landschaft mit knorrigen Bäumen, auf deren kahlen Ästen Raben saßen – eben wieder in dieser Art Totenweltversion der schottischen Highlands.
Edward spürte, dass Vollmond war und dass seine Wutbestie sich in ihm regte – aber etwas an diesem Vollmond hier gefiel ihm nicht, widerstrebte ihm. Für uns Außenstehende, die wir das in dem Moment ja noch nicht wussten, stellte sich das so das, dass er sichtlich nervös wurde und seinen magischen Handschuh anzog. Totilas hingegen merkte, dass die Raben in den Bäumen ihn anstarrten, ganz gezielt, und sie hassten ihn.
Aber auch Roberto und ich spürten etwas, nämlich dass unsere Verbindung zu Oshun bzw. Sommer mit einem Mal abrupt verschwunden war. Was mich betraf, so merkte ich das unter anderem daran, dass Jade – die ich ja die ganze Zeit als Füllfederhalter bei mir getragen hatte – jetzt als magieloses graues Katana zu Boden fiel, mich aber glücklicherweise dabei nicht verletzte.
Bei Alex waren die Dinge nicht groß anders, als wir sie normalerweise von ihm auch kennen, wenn wir ihn im Nevernever zu Gesicht bekommen – dort äußert sich die Tatsache, dass er von Eleggua gezeichnet ist, ja üblicherweise darin, dass um ihn herum eine gewisse Aura spürbar ist, etwas wie ein dünner Schleier, gewissermaßen die Essenz von Eleggua, die sich über Alex legt. Nicht, dass sich Alex' Gesicht direkt verändern würde, aber seine Hautfarbe ist im Nevernever dunkler als sonst, und seine Kleidung scheint Elegguas typische rot-schwarze Färbung anzunehmen. Das war hier jetzt auch so – offenbar trägt der Mantel Elegguas – anders als mein Sommermantel oder der von Robertos Oshun – genug Merkmale, die auch genau hierher passten und deswegen nicht verwschwanden. Oder so ähnlich jedenfalls haben wir es uns hinterher zusammengereimt.
Die Raben auf den Bäumen sammelten sich, flogen zu Boden und verwandelten sich dort in menschliche Gestalten. Alex identifizierte sie als Tote, während Totilas erkannte, dass die meisten von ihnen so aussahen, als seien sie durch den Kuss eines White Court gestorben. Sie starrten Alex und Totilas wütend an, während einige, die eher so aussahen, als seien sie zerrissen worden, dasselbe mit Edward taten. Die Toten trugen Waffen, griffen aber nicht direkt an.
Aus der Menge löste sich Eoife. Auch sie sah alles andere als glücklich aus, während sie Alex direkt ansprach: „Willkommen, Abgesandter von Eleggua. Was führt dich hierher, und warum bringst du diesen“ - sie zeigte auf Totilas - „mit dir?“
„Weil wir als Gruppe unterwegs sind“, erwiderte Alex: „Wir sind auf der Suche nach der Morrigan.“
„Die Morrigan ist nicht hier, aber das habe ich euch schon einmal gesagt.“
„Wir wussten nicht, ob sie hier drinnen eingesperrt wurde oder ob ihr jemand den Weg hier hinein versperrt hat“, warf ich ein, nachdem Alex nicht so aussah, als ob er auf Eoifes Aussage etwas antworten wollte, „deswegen haben wir den Weg wieder geöffnet. Wenn sie nicht hier ist, dann ist ihr wohl der Weg versperrt worden.“
„Verhandeln wir jetzt mit denen?“, fragte einer der Toten und machte schon Anstalten, seine Waffe zu ziehen, aber Eoife hielt ihn zurück: „Sie sind Gäste hier.“ „Hast du sie etwa eingeladen?“ „Ja.“
Bei dieser Antwort ließ der Mann seine Waffe tatsächlich wieder los, aber so richtig glücklich sah Eoife nicht aus... es stimmte ja auch nicht so richtig hundertprozentig, dass wir auf ihre Einladung hier waren.
„Wenn ihr den Weg geöffnet habt, warum ist die Morrigan dann nicht hier?“, fragte Eoife mit einem misstrauischen Blick auf Totilas.
„Das weiß ich nicht“, erwiderte ich, „ich weiß nur, dass der Weg wieder offen ist.“
„Dann kommt mit“, sagte Eoife, „Wenn der Weg offen ist, dann können wir sie vielleicht zum Thron rufen.“
* auch wenn ich das alles, was ich jetzt wiedergebe, im vollen Detail erst hinterher mitbekam, als die anderen es erzählten. Aber jetzt nur anzudeuten und auf der nächsten oder übernächsten Seite chronologisch korrekt nochmal aufzugreifen, wäre auch albern, also jetzt schon hier in ausführlich.
Timberwere:
Auf dem Weg zu diesem 'Thron', von dem Eoife gesprochen hatte, sagte sie leise: „Du, Alex, schuldest mir einen Gefallen. Ihr alle schuldet mir einen Gefallen.“
Wie es wohl auch ihre Absicht gewesen war, hatten ihre Begleiter die Bemerkung nicht gehört, und auch Alex' zustimmendes Nicken beachtete niemand. Den Rest des Weges gingen wir schweigend.
Etwas später näherten wir uns einem Stonehenge-artigen Steinkreis – das musste wohl dieser Thron sein. Dunkle Wolken zogen auf, und als wir beinahe am Ziel waren, zuckte ein Blitz über den Himmel. Für einen kurzen Moment riss die Grenze zwischen dem Nevernever und unserer eigenen Welt auf, und wir erlangten einen ebenso kurzen, aber in diesem Augenblick wie eingefroren wirkenden Blick auf das Coral Castle.
Wir sahen eine dunkelhaarige Frau mit einem Halsband wie denen von Adlene, nur viel aufwendiger gestaltet als die, die Alex uns sonst immer beschrieben hatte, dahinter war Stefania Steinbach mit Jak in einen heftigen Kampf verwickelt und schien zu verlieren. Vor der Dunkelhaarigen stand Adlene, der ihr gerade eine Klinge in die Brust rammte. In dieser Sekunde stieß die Frau – Morrigan – den lauten Schrei eines Raben aus, und etwas wie eine Druckwelle strahlte von ihr ab, die unser aller Herzen für einige Schläge aussetzen ließ.
Durch den Riss fielen zwei Dinge und prallten in der Mitte des Steinkreises auf den Boden: ein Schwert und eine Person – Stefania Steinbach, die Krähendämonin. Später reimten wir uns zusammen, dass Morrigan vielleicht von dort fliehen wollte und deswegen die Grenze mit Gewalt zerriss, dass es ihr aber nicht mehr gelang, sich selbst in Sicherheit zu bringen, sondern ihre Kraft oder die Zeit nur für das Schwert und Steinbach ausreichte. Aber in dem Moment waren das wenn, nur unkoordinierte Gedankenfetzen.
Die Raben um uns her krächzten auf, und die Bäume und der Ginster um uns her wirkten noch toter und verdorrter als zuvor, und vor allem Alex konnte spüren, dass mit dem Tod der Morrigan hier im Nevernever etwas richtig gravierend aus den Fugen geraten war.
Nach einer Schrecksekunde, in der wir alle zu Salzsäulen erstarrt waren, rannte Edward los, gefolgt von Totilas. Und der White Court war schneller, überholte Edward und war als erster im Steinkreis. Er sprang zu Steinbach hin, die reglos dalag, beugte sich in einer schnellen Bewegung zu ihr hinunter und brach ihr das Genick. Steinbachs Krähengestalt verschwamm, dann lag die Kirchenfunktionärin in ihrer menschlichen Gestalt da, und eine silberne Münze kullerte aus ihrer Tasche über den Boden.
Edward kam jetzt ebenfalls heran. Fast mehr wie zu sich selbst (oder zumindest klang seine Stimme dabei überraschend versonnen) sagte er: „Irgendwie hätte ich gedacht, es wäre gut, mit ihr zu reden.“
Dann griff er das Schwert, das dort lag, ein Eineinhalbhänder, und spürte, dass in dem Schwert irgendeine Kraft war und dass es sich richtig gut anfühlte, es in der Hand zu halten. Seine Wutbestie allerdings war nicht begeistert davon, sagte ihm sein Bauchgefühl – das Biest wollte lieber alle Gegner im direkten Nahkampf zerreißen, da wäre ein Schwert nur im Weg.
Aber das alles erzählte Edward erst später. Jetzt zog Eoife ihr bedrohlich ihr Schwert, während sie Totilas anschrie: „Du hast gesagt, du wärst anders! Mörder!!“
Totilas schüttelte den Kopf. „Wenn sie aufgestanden wäre, hätte sie uns getötet!“
„Sie war verletzt! Sie war eine Verbündete!!“
Hier meldete sich Alex zu Wort, der währenddessen gedankenschnell eine Rolle Panzerband herausgeholt und in zwei improvisierten Halbkugeln die Münze eingeschlossen hatte: „Verbündete würde ich es nun nicht gerade nennen, aber sie hat immerhin gegen Jak gekämpft.“
„Vielleicht nicht von euch“, spuckte Eoife.
„Ach, von euch?“, hielt Alex dagegen und bekam zur Antwort: „Sie war eine Freundin der Morrigan.“
In dem Moment tauchten an den sieben Menhiren des Steinkreises sieben gedrungene Gestalten auf. Sie hatten ungefähr menschliche Formen, aber ihre Gesichter wirkten klumpig, unfertig. Dennoch machten sie einen sehr mächtigen Eindruck, und sie alle trugen solche aufwendigen Adlene-Halsbänder. Auch waren sie alle ganz eindeutig unterschiedlicher Natur: einer davon hatte Hörner, einer sah aus, als sei er aus Torf, ein weiterer wirkte irgendwie wässrig und der vierte metallisch und unverhältnismäßig schwer; während dem fünften Blumen aus dem Kopf und den Armen wuchsen, der sechste gurgelte wie ein Ertrinkender und der siebte in seine eigenen Nebelschwaden gehüllt war.
„Das muss jetzt warten!“, rief ich Eoife zu, die weiterhin ihr Schwert angriffsbereit erhoben hielt, „Das sind gemeinsame Gegner! Die gehören hier nicht her!“
Tatsächlich wandte Eoife sich von Totilas ab und den Gestalten zu. „Was wollt ihr hier? Dies ist nicht euer Ort!“
Die Gestalten antworteten wie aus einem Mund und mit seltsam gleichförmiger Stimme: „Das hier gehört jetzt uns, und ihr gehört jetzt auch uns.“, dann stapften sie los.
Irgendwie hatte das für mich so geklungen, als seien sie nicht Herr ihrer selbst, und außerdem wissen wir ja, wie Adlene operiert. „Versucht, ihre Halsbänder zu entfernen!“, rief ich also vor allem Eoife und ihren Leuten zu, „Die versklaven sie!“
Während Alex den konzentrierten Blick aufsetzte, den er immer dann bekommt, wenn er das Nevernever oder die Geisterwelt oder die Grenze manipuliert, nahmen wir anderen uns jeder einen Gegner vor. Totilas ging auf den Gehörnten los, Edward auf den Schweren, Roberto auf den Ertrunkenen, Eoife auf den Wässrigen, und ich selbst stellte mich dem Torfigen in den Weg, während die Raben den Nebligen umflatterten.
Was jetzt geschah, das sah teilweise nur aus dem Augenwinkel oder gar nicht – alles, was ich nicht selbst mitbekam, das haben mir die Jungs hinterher erzählt.
Anfangs – und das registrierte ich noch selbst – sah es nicht so aus, als würden die Jungs auf meinen Rat mit den Halsbändern hören. Totilas' Schlag tat dem Ochsenartigen so gut wie gar nichts, und Edward, der dem 'Amboss' mit seinem magischen Handschuh so ziemlich den schwersten Treffer versetzte, den er überhaupt setzen konnte, brachte er dem Metallkörper seines Gegners gerade mal eine Delle bei, die diesen nicht im Geringsten störte. Dessen Gegenschlag wiederum riss Edward von den Füßen und verursachte ihm mindestens eine gebrochene Rippe.
Um so dringender war es, die Halsbänder zu entfernen. Ich versuchte das bei meinem Gegner, aber das war schwierig. Die Dinger bestanden aus Metall und bewegten sich erstmal keinen Millimeter. Und weil ich mich völlig auf das Halsband konzentrierte, hatte mein Gegner keinerlei Problem damit, mich derart schmerzhaft mit seinen torfigen Auswüchsen zu schlagen, dass ich für einen Moment Sterne sah und danach alles in meinem Kopf dröhnte.
Aber wenigstens gelang es Alex jetzt, ein kleines Tor zurück nach Miami zu öffnen. Ich hatte ja nicht gewusst, was genau er da machte, aber ich spürte es, als meine Verbindung zu Sommer mit einem Mal zurückkehrte.
Ich habe es bisher, glaube ich, noch nicht erwähnt, aber Roberto hat diese Eisenstange, die ihm beim Kampf am Hafen gegen die Tentakelhunde so gute Dienste geleistet hatte, hinterher behalten, und auch diesmal hatte er sie bei sich. Jetzt rannte er an seiner ertrunkenen Moorleiche vorbei und manövrierte das Eisen irgendwie unter das Halsband. Aber zu mehr kam er nicht, weil sein Gegner sich umdrehte, ihm die Stange aus der Hand riss und sich bedrohlich vor ihm aufbaute.
Während der Wässrige ja mit Eoife beschäftigt war und der Neblige sich den Schnabelhieben der Raben erwehrte, gelang es Totilas, einem Anstürmen seines gehörnten Gegners auszuweichen und den Ochsen durch ein geschicktes Spottmanöver zu einem Felsen und schnell genug dahinterzuspringen, so dass die Kreatur sich daran selbst einen Brummschädel holte, statt unseren White Court-Kumpel auf die Hörner zu nehmen. Gleichzeitig griff die Gestalt, die aussah wie ein Ginsterbusch, Alex an, konnte dem aber zum Glück nur ein paar Kratzer beibringen.
Ich selbst hatte ja jetzt die Verbindung zu Sommer wieder, und kurz überlegte ich, ob ich das verdammte Halsband nicht einfach wegzaubern könnte – aber diese Idee verfolgte ich höchstens einen Herzschlag lang, bevor mir aufging, dass alles, was ich an Magie in einen solchen Zauber stecken könnte, auch wenn ich mich völlig verausgabte, ziemlich sicher nicht ausreichen würde, um einen versklavten Geist zu befreien, also verwarf ich den Gedanken sehr schnell wieder. Lieber doch mit guter alter physikalischer Hebelwirkung... aber damit das auch nur den Hauch einer Chance hatte, würde ich mehr brauchen als meine eigene Stärke. Also konzentrierte ich mich und rief die Kraft des Sommers in mich hinein, auch wenn mir klar war, dass ich diese Kraft ein paar Sekunden lang würde sammeln müssen.
Jetzt schlug Edward ein weiteres Mal mit seinem magischen Handschuh nach dem 'Amboss' und traf ihn auch empfindlich. Aber im Gegenzug schleuderte die Gestalt ihn wieder heftig zurück und traf ihn so heftig an der Hand, dass Edward sie kaum mehr bewegen konnte.
Überhaupt sah es schlecht für uns aus: Der Ochse, dem Totilas eben noch einen Brummschädel beigebracht hatte, schleuderte unseren White Court-Kumpel gegen eine ähnliche Säule wie die, an der er selbst sich den Kopf angeschlagen hatte, aber White Court oder nicht, Totilas war nicht so zäh wie die riesige Gestalt. Das hässliche Knacken von Knochen war zu hören, als Totilas' Becken brach.
Ich selbst hatte da noch Glück: Die torfartige Gestalt schlug nach mir, aber ich konnte mich unter dem Hieb wegducken.
Roberto versuchte jetzt noch einmal, seinem Gegner den Halsreif abzureißen, und irgendwie gelang es ihm – oder genauer gesagt: Es gelang ihm, das Metall genug zu weiten, dass der wässrige Riese offenbar dessen Einfluss abschütteln konnte und nun selbst mithalf, sich den Reif über den Kopf zu ziehen.
Er stellte seine Angriffe ein und sah Roberto verwirrt an: „Du bist nicht ertrunken.“
„Und du gehörst nicht hierher!“, schoss Roberto zurück, „Du solltest da rüber gehen“ - er zeigte zu Alex - „er wird dich dahin schicken, wo du sein sollst.“
Der Wässrige aber rührte sich nicht von der Stelle: „Ich lasse mir doch nicht von einem Sterblichen Befehle geben!“
Die Gestalt mit dem ginsterbuschartigen Gepräge, die zuvor auf Alex losgegangen war, griff jetzt Edward an, aber der konnte zum Glück ausweichen.
Totilas indessen tat so, als renne er weg, um damit seinen Gegner auf Edwards 'Amboss' zu hetzen. Dummerweise aber hatte das nicht den gewünschten Erfolg, weil der 'Ochse' sich nicht ablenken ließ, sondern weiter auf Totilas fixiert blieb.
Edward hatte ja noch immer das Schwert der Morrigan in der Hand, die nicht seinen magischen Handschuh trug und die nicht von dem Schlag des eisernen Riesen gelähmt war. Jetzt rammte er die Waffe in die Erde öffnete sich der Kraft des Landes und ließ sie durch sich fließen. In dem Moment konnte er spüren, dass die Morrigan tatsächlich nicht mehr war und dass die sieben Gestalten begonnen hatten, dieses Land für sich zu beanspruchen und an sich zu binden. Und jetzt, wo Edward eine Verbindung zu dem Land hatte, konnte er auch spüren, dass das Schwert wollte, dass er es benutzte. Gleichzeitig erkannte er, dass er sich durch die Verwendung der Waffe zum Hauptziel für die Gegner gemacht hatte.
„Ich werde euch allen die Halsbänder entfernen!“, rief Roberto laut in Richtung der Riesen. „Bei dem Ertrunkenen hat es schon geklappt!“ Alle konnte er damit nicht verwirren, aber immerhin der Ginsterartige reagierte auf den Spruch – dummerweise allerdings damit, dass er sich nun auf Roberto konzentrierte und diesen ziemlich übel verletzte. „So redet man nicht mit Göttern!“, setzte die wässrige Gestalt noch hinterher, aber der griff glücklicherweise tatsächlich niemanden mehr an.
Unter großer Anstrengung gelang es mir nun, mit Jade das Halsband meines torfigen Gegners soweit zu lockern, dass auch er begann, aktiv mitzuhelfen, sich das Band abriss und dann ebenfalls erst einmal stillstand.
Das half den anderen nur nicht – der Ochse schlug wieder nach Totilas, und der Amboss hämmerte Edward mit voller Kraft auf den Boden. Der war eben noch schlammig-weich gewesen, aber mit einem Mal war er hart wie Stein, und das tat Edward alles andere als gut.
Alex hatte indessen versucht, die Raben auf unsere Seite zu ziehen – irgendwas von wegen 'gemeinsamer Feind' –, aber auch er hatte keinen Erfolg damit: „Wir werden dieses Land genauso wenig einem Biest [damit meinten sie wohl Edward] überlassen.“
Langer Rede kurzer Sinn: Es sah gar nicht gut aus für uns. Zwei unserer Gegner hatten wir zwar von ihren Halsbändern befreien können, aber es waren immer noch fünf, die wir kaum hatten ankratzen können, während sie uns schwer zu schaffen gemacht hatten … zu schwer. Das würden wir nicht mehr lange durchhalten.
Totilas hatte schon ganz blass silbrige Augen bekommen, wie immer, wenn er stark auf seine übernatürlichen Fähigkeiten zugreift. Jetzt machte er Anstalten, sich zu dem Tor zurückzuziehen, das Alex vorhin geöffnet und inzwischen groß genug gezogen hatte, dass wir hindurchpassen würden.
Einen allerletzten Versuch startete ich aber. „Wir wollen euch helfen!“, rief ich der Torfgestalt zu, der ohne sein Kontrollhalsband, kurzzeitig verwirrt schien. „Wie können wir euch helfen?“
„Du kannst mir huldigen, Sterblicher!“, donnerte die Gestalt. Aber irgendwelche keltischen Naturgottheiten werde ich ganz sicher nicht anbeten, also trat ich lieber auch den Rückzug dorthin an, wo Alex das Tor offenhielt.
Bevor wir verschwanden, wollte Edward eigentlich das Schwert der Morrigan an Eoife abgeben. Aber auch die war gerade dabei, sich aus dem Kampf zurückzuziehen und befand sich außerhalb seiner Reichweite, also nahm er das Schwert mit sich, als er, gefolgt von Roberto, zum Portal rannte.
Weil ich noch versucht hatte, mit dem Torfigen zu reden, war ich der Letzte in der Reihe, und die verbleibenden Gegner hätten mich um ein Haar erwischt, wenn Alex mir nicht zu Hilfe gekommen wäre und mich mit einem waschechten Football-Tackle durch das Tor bugsiert hätte.
Wir landeten in Miami, in einem Club in South Beach, wo gerade eine wilde Party abging. Darauf hatten wir so gar keinen Nerv, also sahen wir zu, dass wir Land gewannnen... auch wenn Totilas für einen Moment so aussah, als wolle er sich hier und jetzt auf die Clubgänger stürzen, um seinen Hunger zu stillen, und ich schon überlegte, ob ich fit genug wäre, ihn aufzuhalten. Aber er konnte sich zügeln, und wir kamen problemlos weg, ohne dass uns jemand aufzuhalten versuchte.
Unser erster Stop war Totilas' Arzt, der ja gut darin ist, keine Fragen zu stellen, und der uns erst einmal versorgte.
Und wir waren tatsächlich ganz schön kaputt, oder zumindest Edward, Roberto und Totilas waren das. Noch auf dem Weg zum Arzt hatte Edward mir einen Heiltrank in die Hand gedrückt, und Alex hatte zur Abwechslung nicht mal einen Kratzer abbekommen. Interessanterweise stellten die Verletzungen der drei anderen sich aber dann doch nicht als ganz so schlimm heraus, wie wie ursprünglich gewirkt hatten – sowohl Robertos durchstoßene Lunge als auch Totilas' Beckenbruch und Edwards gebrochene Rippen machten bei der Untersuchung beim Arzt den Eindruck, als seien sie schon länger am Verheilen und nicht gerade erst frisch zugefügt worden. Der Doc verschrieb den dreien ein Schmerzmittel, aber alles in allem waren wir glimpflich davongekommen...
… dachte ich jedenfalls.
Also doch, alles in allem schon.
Aber coño, als wir dann auseinandergegangen waren und ich zuhause war und mich umziehen wollte, hatte ich plötzlich etwas Klebriges an den Fingern. Alex' Ball aus Panzerband, um genau zu sein, in den er Steinbachs Denarius eingeschlossen hatte, und der bei seiner durchs-Tor-Tackle-Aktion wohl irgendwie an mir hängen geblieben sein musste. Die beiden Duct Tape-Hälften hatten sich beinahe vollständig voneinander gelöst, und um ein Haar wäre ich beim Umziehen an die Münze gekommen.
Santísima madre, das war knapp!
Genau dieser Ausruf - “¡Santísima madre, ayudame!“ - entfuhr mir auch, und die Münze, der ganze Klebebandknäuel, wurde warm. Ich rief Alex an, dann betete ich weiter, bis er da war und das Gebilde aus Duct Tape fluchend und beunruhigt wieder an sich nahm.
(Das war auch die Gelegenheit, bei der Alex erzählte, es habe einiges an Mühe gekostet, die Münze einzufangen und in das Klebeband einzuschließen, weil sie sich nach Kräften gewehrt habe.)
Anschließend trafen wir uns mit den anderen dreien auf der Thetys und beratschlagten, was mit dem Denarius passieren soll.
Die Münze Ángel zu geben, ist keine Option, weil er dann zwei hätte, das wäre vielleicht schon die kritische Masse. Dem Vatikan trauen wir immer noch nicht – immerhin sind von den dreißig existierenden Denarii mindestens die Hälfte im Umlauf, und irgendwie müssen die ja aus der sicheren Verwahrung wieder unter die Leute gekommen sein. Entweder es gibt da Verräter, oder aber die Münzen nützen die Schwäche ihrer Bewacher aus – auch Kirchenleute sind Menschen. Oder die Dinger machen es wie der Eine Ring und suchen sich ihren Weg selbst. So oder so wäre der Vatikan nichts.
Alex machte den Vorschlag, das Ding in mehrere Kisten zu packen und die dann in Beton, und das Ganze dann an einem Ort verwahren, den wir mit einem Ward versehen können, so ähnlich wie wir das mit Ángels Exemplar ja auch gemacht haben.
Aber das sollten wir mit allen Guardians besprechen, nicht nur unter uns – die anderen müssen ohnehin nicht nur erfahren, dass Steinbach tot ist und wir ihren Denarius haben, sondern auch, dass die Morrigan tot ist, dass Adlene sie getötet hat, und dass Adlene Gottheiten versklaven kann. Und dass Jak beteiligt war, das sollten wir auch auf gar keinen Fall vergessen.
Wer waren diese Gestalten überhaupt? Diese Frage stellten wir uns natürlich auch, konnten sie aber nicht beantworten, weil wir die Typen nicht erkannt haben. Aber die Vermutung liegt nah, dass es irgendwelche keltischen Gottheiten gewesen sein könnten, aus demselben Pantheon wie die Morrigan. Und Adlene versklavt ja vor allem Geister – waren das eventuell Ex-Gottheiten, die bereits tot sind? Möglich wär's, auch wenn wir es nicht mit Sicherheit sagen können, aber es ist eigentlich auch nicht so wichtig.
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Ghost Story 3
Das Schwert der Morrigan hat sich übrigens verändert. In der Totenwelt trug es noch keltische Schriftzeichen und hatte einen Knauf in Form eines Rabenschnabels, sah generell irgendwie keltischer aus. Jetzt ist der Rabenschnabel verschwunden, die Zeichen auf der Klinge sind zu alchimistischen Symbolen geworden, und Edward sagt, die Waffe fühle sich ein klein wenig vertrauter an als zuvor. Nicht dass ihm das gefallen würde... oder wie Edward es ausdrückte: „Nein, verdammt, ich will nicht von dem Ding adoptiert werden!“
Also mussten Optionen her, und die diskutierten wir ausführlich erst einmal unter uns, auch wenn wir zu keinem echten Ergebnis kamen:
Option 1: Edward übernimmt den Job doch, so ungern er das würde.
Option 2: Jemand anderes bekommt das Schwert – nur wer?
Option 3: Edward gibt die Waffe zurück in rechtmäßigen Hände... aber auch hier wieder: wessen Hände wäre das? Oder ob vielleicht jemand kommen wird, um die Waffe abzuholen? Aber unaufgefordert ist das eher unwahrscheinlich.
Option 4: Die Waffe mit einem Ward versehen und vergraben, wie wir uns das für den Denarius überlegen – aber das wäre vermutlich eine schlechte Idee.
Langer Rede kurzer Sinn: Edward wird das Ding erst einmal behalten, bis uns eine zufriedenstellende Lösung einfällt.
Und nein. Das ist im Moment keine zufriedenstellende Lösung. Mierda.
Den anderen Guardians mussten und wollten wir aber auch darüber informieren, was geschehen war. Dabei überließen wir Totilas die letztliche Entscheidung darüber, was er in Sachen Steinbachs Tod genau erzählen wollte. Zum Glück stand er auf demselben Standpunkt wie wir anderen: „Nicht damit brüsten, aber auch nicht anlügen.“
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17. März
Jetzt haben wir uns auch mit den anderen kurzgeschlossen.
Nachdem wir alle auf Stand gebracht hatten, kam die Frage auf, wie Adlene überhaupt in der Lage gewesen war, eine übernatürliche Gottheit wie die Morrigan zu töten. Das Messer, das er dazu benutzte, muss ganz besondere Eigenschaften gehabt haben.
Außerdem überlegten wir, was wir mit Stefania Steinbachs Dämonenmünze tun sollten. Ilyana schlug vor, sie Thutmoses Elder anzuvertrauen, aber das hielten wir alle für keine sonderlich gute Idee, oder besser: maximal für etwas, auf das wir vielleicht zurückkommen können, wenn uns gar nichts besseres einfällt.
Totilas hatte den Gedanken, Spencer Declans Haus zu verwenden, aber das war noch viel weniger eine gute Idee als Thutmoses Elder. Denn es ist immerhin Spencer Declan, von dem wir hier reden: Auch wenn er verschwunden ist, war uns die Vorstellung, etwas in seinem Haus zu deponieren, zutiefst unangenehm – ganz abgesehen davon, dass wir dazu das bis an die Zähne gewardete Haus erst einmal finden müssten... und hineinkommen, wenn wir es gefunden hätten.
Aber das wiederum führte zu zwei Ideen: erstens, dass wir Declans Haus suchen könnten, und wenn wir es finden, die Wards zu entschärfen und unsere eigenen Fallen einzubauen, damit die losgehen, wenn bzw. falls Declan wiederkommt. Und zweitens, dass ein bis an die Zähne gewardetes Haus, das nicht Declans ist, tatsächlich eine gute Lösung sein könnte, um die Münze sicher zu verwahren. Und dass die Orunmila sich mit gewardeten Häusern auskennen, wir also am besten mal mit Macaria Grijalva reden sollten.
Aber der Gedanke daran, was das Messer, mit dem die Morrigan getötet worden war, für eine besondere Waffe gewesen sein könnte, ließ mich nicht los, und das sagte ich auch. Es war Cicerón, der daraufhin vorschlug, ich könnte doch vielleicht eine Illusion davon erschaffen, das sei doch auch sommertauglich. Und tatäschlich: Als ich mich an die Szene erinnerte und die Magie nach oben rief, konnte ich in einer Art sommerlichem Fata Morgana-Flimmern ein Abbild von dem Messer erstellen. Es war ein gewellter Dolch, der altertümlich und irgendwie antik wirkte, aus dem Nahen Osten vielleicht, der Levante oder so. Darauf waren Schriftzeichen zu sehen, die sich bei näherer Recherche als phönizische Buchstaben herausstellten. Noch weitere Recherche förderte einge Legende zutage: Im antiken Tyros besaß ein Zauberer einen Dolch, mit dem er eine Gottheit erstach, dadurch deren Kräfte in sich aufnahm und selbst zu einer Gottheit wurde. Laut der Legende gebe es fünf solcher Waffen, mit denen man die Kräfte eines magischen Wesens übernehmen kann, wenn man das Wesen mit einer solchen tötet.
Mit anderen Worten: Adlene hat jetzt wohl Morrigans Kräfte. Oh Freude. Aber das führte natürlich zu der Frage: Wenn Adlene Morrigans Kräfte hat, will er auch ihr Schwert? Nicht, dass wir bereit sind, es ihm zu überlassen, wohlgemerkt (oder, im es mit Edward zu sagen: „Das kriegt er nicht, da kann er sich auf den Kopf stellen und it den Beinen zappeln.“)
Alex schlug vor, ein Gruppentreffen mit den Totengottheiten einiger anderer Pantheone zu organisieren und die dann auf Adlene zu hetzen. Weil das aber vielleicht nicht ganz so praktikabel wäre, blieb von dem Vorschlag wenigstens noch die Idee übrig, dass Orcus ein Ziel brauche, auf das er wütend sein könne, und dass man wenigstens den in Richtung Adlene schubsen könne. Allerdings nicht ohne die Warnung, dass Adlene diesen Dolch hat, mit dem er Gottheiten töten kann. Und das wiederum ist ein Umstand, vor dem wir tatsächlich alle Gottheiten in der Stadt warnen müssen, nicht nur die Totengötter, damit alle informiert sind und nicht unerwartet aus dem Hinterhalt erdolcht werden.
Bjarki sagte, er könne versuchen, seine Geschwister zu informieren und Haley dazu zu bringen, mit Hermes zu reden, damit der die Warnung an alle Pantheone weitergibt.
Ich selbst muss als nächstes zu Pan und Bericht erstatten, während Roberto und Alex mit Macaria reden wollen und Edward und Totilas ins Coral Castle fahren wollen, um sich mit Camerone zu unterhalten. Und hinterher gehen wir dann gemeinsam zu Orcus.
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Später.
Bei Pan planen sie irgendwas. Also nicht, dass ich mir nicht denken könnte, was... oder besser, für was. Pan hatte mir ja schon angedrohtkündigt, dass er meinen Junggesellenabschied veranstalten wird. Also wunderte ich mich nicht weiter darüber, dass die Einherjer tuschelten und flunkerten und geheimnisvoll taten. Aber wenigstens eine Torte mit Tänzerin drin konnte ich ihnen hoffentlich ausreden.
Bevor ich Pan aber von den Geschehnissen erzählen konnte, kam auch bei ihm das Thema Hochzeit auf. Genauer gesagt wollte er wissen, ob ich schon jemanden für meinen Anzug engagiert hätte. Habe ich nicht – ich habe zwar schon mal ein bisschen recherchiert, aber bis jetzt noch nichts Konkretes in Auftrag gegeben. Das gefiel meinem Herzog gar nicht. Sein Ritter müsse angemessen gekleidet sein, wenn er einen so wichtigen Schritt tue. Natürlich, erwiderte ich: Wenn Pan einen Schneider empfehlen könne, dann würde ich gerne den aufsuchen.
Er nannte mir einen, der bei meiner Recherche auch auf der Liste gestanden hatte. Sündhaft teuer, aber das wäre bei dem Anlass nicht einmal das Problem. Das Problem ist vor allem, dass das Atelier auf ein Jahr im voraus vollkommen ausgebucht ist.
Aber das war eben doch kein Problem. „Sag einfach, dass du von mir kommst.“
Als ich Pan von dem Dolch erzählte, mit dem die Morrigan getötet worden war, sah er nicht so aus, als würde ihm das übermäßig viele Sorgen machen – aber es ist Pan, der macht sich nie groß Sorgen um irgendetwas. Er sagt dann immer, er hat ja einen guten Ritter, ich würde das schon richten. Aber immerhin konnte er mir ein paar Informationen zu dem Ding – nein, zu den Dingern, Plural – geben.
Er bestätigte die Lebenden von dem tyrenischen Zauberer, der in der Antike mit diesem Dolch eine Gottheit tötete und deren Kräfte übernahm. Das ging aber nur eine kurze Zeit lang gut, weil nach einer Weile die Gottheit wiederkam und den Menschen verdrängte. „Da gab es dann nur noch eine kleine schreiende Ecke des Sterblichen im Kopf dieses Körpers“, erzählte Pan trocken. Ganz interessant zu wissen, erwiderte ich, aber ob Pan auch wisse, wie das sei, wenn ein Mensch mehrere Gottheiten ermorde?
Das wisse er nicht, sagte Pan, aber er mache sich da keine Sorgen. „Du bist ja ein guter Ritter, du wirst das schon alles regeln.“
Cielo. Na danke auch.
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Nochmal später.
Als wir uns wieder getroffen hatten, erzählten Totilas und Edward von ihrem Besuch beim Coral Castle und Alex und Roberto von ihrem Gespräch mit Macaria.
Am Coral Castle fanden Totilas und Edward ein Schild vor, dass der Ort gesperrt sei. Sie ignorierten das Schild geflissentlich und betraten das Gelände natürlich trotzdem. Die Aura des Coral Castle war anders, spürten sie, der Boden irgendwie tot und verdorrt, und die Coral Guardians waren nicht anwesend.
Der Geist von Camerone Raith aber schon, und nach dem, was Totilas und Edward erzählten, war Camerone so zickig, berechnend und lügnerisch wie eh und je. Sie trug keines von Adlenes Halsbändern, war also offenbar noch sie selbst. Sie behauptete, sie habe die Coral Guardians in den Urlaub geschickt, das war aber offensichtlicher Blödsinn, auch wenn Camerone wohl extrem überzeugend wirkte, wie sie das ja gerne mal tut.
Mit Adlene hat sie wohl einen Handel abgeschlossen, nach dem sie einander in Ruhe lassen, und wenn er etwas auf dem Gelände des Coral Castle machen wolle, könnten sie darüber reden. Dieses 'Etwas' war natürlich das Ritual mit dem Dolch, bei dem die Morrigan getötet wurde. Und mehr als das: die Essenz der Morrigan ist mit dem Tötungsritual in Adlene übergegangen – in Adlene oder in den Dolch, so ganz klar ist das wohl nicht. Die Rabenfrau habe versucht einzugreifen, als es ans Opfern der Morrigan gegangen sei, aber das habe nicht so gut geklappt.
Dass Adlene nicht mehr er selbst ist, das war auch Camerone klar, aber auf die Frage, wie viel von Jak wohl inzwischen in ihm stecke, antwortete sie nur: „zu viel“.
Da sie außerdem unverhohlen mit Edward flirtete und nichts größer aus ihr herauszubekommen war, traten die beiden dann lieber den Rückzug an.
Alex und Roberto wurden indessen von Macaria Grijalva wohlwollend empfangen. In der Bodega sei mehr los gewesen als früher, sagten sie, mehr Santeros anwesend als vor dem Genius Loci-Ritual. Offenbar ist die Bodega inzwischen auch ein Wallfahrtsort geworden, ganz ähnlich wie Alex' Boot.
Als die beiden der alten Priesterin erzählten, dass die Morrigan getötet worden sei, hatte sie nicht nur bislang nichts davon gehört, sondern wusste auch erst einmal gar nicht, wer das gewesen war. Als sie erfuhr, dass es sich um eine Gottheit gehandelt habe, schüttelte sie nur den Kopf und grübelte, ob das so eine gute Idee gewesen sei, Elegguas Plan zu verfolgen, all diese Gottheiten nach Miami zu holen. Aber das sei jetzt nun mal so, also auch nicht zu ändern.
Adlene stelle jedenfalls ein echtes Problem dar, vor allem, weil er mit diesem Ding (sprich Jak) zusammenarbeite. Deswegen schlug Macaria vor, Orunmila anzurufen und ihn um Rat zu fragen.
Vorher aber berichteten Roberto und Alex noch, dass bei Stefania Steinbachs Tod eine Münze aus ihr herausgefallen sei, die sicher gelagert werden müsse, weil sie einen Dämon enthalte.
Macaria stieß einen Fluch auf Spanisch aus, bekreuzigte sich und betete, bevor sie sagte, nun gut, das sei auch eine Frage, die man Orunmila stellen könne. Das werde aber eine Weile dauern, und die beiden sollten morgen wiederkommen. Oder ob sie vielleicht dabei sein wollten?
Ja, das wollen die beiden tatsächlich sehr gerne, aber die Vorbereitungen werden trotzdem eine Weile dauern, weswegen sie erstmal wieder zurückgekommen sind und Bericht erstattet haben.
Wir werden jetzt alle gemeinsam Orcus aufsuchen, und danach dann will Roberto zurück zu Macaria und dem Gespräch mit Orunmila.
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18. März. Morgens.
Nein, wir waren doch nicht alle bei Orcus. Edward wollte aus weiser Voraussicht nicht mit und sich in der Zeit lieber mit dem Schwert der Morrigan beschäftigen, und Alex und Roberto sind doch schon los zu Macaria, weil es sonst vermutlich zu knapp würde. Also waren nur Totilas und ich auf dem Friedhof.
Bei Orcus' Krypta schienen seine Anhänger gerade mit den Vorbereitungen für irgendein Ritual beschäftigt – ein großer Kessel wurde herumgetragen, und irgendwer rief etwas von wegen, das Wasser sei zu hart, und der Kalk müsse entfernt werden. Ein junger Mann wollte uns abwimmeln, aber wir konnten ihn überzeugen, uns zu Lucretia vorzulassen.
Orcus' Priesterin schien recht dankbar, dass wir mit Orcus sprechen wollten, weil das bedeutete, dass sie das Ritual, das da gerade vorbereitet wurde, nicht durchführen musste. Offenbar hatte Orcus angeordnet, jemanden zu rufen, der sich des Problems annehmen sollte, weil er ungeduldig wurde, und das war jemand, den Lucretia lieber nicht rufen wollte. Wenn wir die Sache übernehmen könnten, um so besser.
Aber Orcus war nicht in der Laune, sich von uns überzeugen zu lassen. Wir versuchten, ihn vor Adlene und den Dolchen zu warnen, aber er sagte lediglich: „Von diesem Adlene habe ich gehört“, aber stapfte dann nach draußen und rief Lucretia zu sich, die etwas zu ihrem Meister trat und mit ihm das Ritual begann.
Natürlich wollten wir wissen, um was für ein Ritual es sich da genau handelte, also fragten wir den jungen Mann, der uns anfangs nicht hatte vorlassen wollen. Es gebe Anhänger, die nicht nur einfache Gläubige des Orcus seien, sondern die sich richtiggehend an ihn gebunden hätten, und einen solchen Anhänger wollten Orcus und Lucretia herbeirufen, aber das sei gefährlich.
„Ist ein Name gefallen?“, wollte ich wissen, und ja, das war es, aber die Antwort gefiel uns gar nicht. „Ja, Sarkos. Komischer Name, klingt wie Sarkophag, wenn du mich fragst.“
Mierda. Sarkos, der Schwarzvampir (falls er denn einer ist)? Das kann nichts Gutes bedeuten.
Etwas später waren die beiden fertig mit dem Ritual. Orcus verschwand direkt, während Lucretia erschöpft und mit Nasenbluten zusammensackte. Ihr Kumpel hatte etwas in der Art offenbar schon erwartet, denn er brachte ihr Cola und Schokolade und ein aufmunterndes Lächeln.
Als sie sich ein wenig erholt hatte, erzählte Lucretia, sie seien erfolgreich gewesen; jetzt wolle Orcus Adlene finden, und nein, Sorgen mache er sich keine. Ich wiederhole mich, aber: mierda.
Nun gut, tun konnten wir hier nichts mehr groß, und ziemlich spät war es inzwischen auch, fast Zeit zum Abendessen. Also trennten wir uns, und ich fuhr nach Hause...
… wo Edward vor der Tür stand. Und er hatte das Schwert der Morrigan dabei.
¿Qué demonios?
Natürlich bat ich ihn herein, und natürlich lud ich ihn zum Abendessen ein. Edward begrüßte Lidia und 'Jandra so freundlich wie immer, wollte aber vor dem Essen unbedingt unter vier Augen reden. Und sobald er anfing zu erzählen, wurde mir auch sofort klar, warum.
Als Edward sich gestern eingehend mit dem Schwert befasste, bekam er das Gefühl, dass es sich zwar verändert hat, seit die Morrigan sie führte, dass die Waffe aber nichts mit Edward vorhat – und dass seine Wutbestie auch nicht sonderlich begeistert davon wäre, wenn Edward mit etwas so Indirektem wie einem Schwert kämpfen würde statt mit den bloßen (oder behandschuhten) Fäusten.
Also überlegte er, wem er das Schwert am ehesten anvertrauen könnte – Eoife hat schon eines, und sein Bruder Cassius ist ja selbst ein Lykanthrop mit einer Wutbestie.
„Deswegen hab ich dann ein kleines Ritual gemacht“, sagte Edward dann, „Herausfinden, wer würdig für das Schwert ist, zu wem es gehört und von wem es geführt werden sollte – und dann bin ich losgegangen und habe geschaut, wo das Ritual mich hinführt. Und, naja...“ - hier wurde Edward ganz uncharakteristisch verlegen - „es hat mich hierher geführt.“
Mierda.
Beim Abendessen war 'Jandra ganz fasziniert von dem Schwert, das Edward in eine Ecke gelehnt hatte. Und auf dem Fensterbrett saß ein Rabe, der aufmerksam ins Zimmer schaute.
Santísima Madre, ich fürchte fast, an Edwards Ritual könnte was dran gewesen sein. Nicht, dass ich daran gezweifelt hätte. Aber... cólera.
Als die Mädchen im Bett waren und wir alleine waren, erzählte ich Lidia alles. Im allerersten Moment war sie ein bisschen überfahren, aber sie fasste sich sofort. „Das müssen wir nicht sofort bestimmen“, war ihr Urteil, und natürlich hatte sie recht – wie immer. „Lass uns erst einmal die Hochzeit hinter uns bringen. Und jetzt ist sie ja ohnehin noch zu klein dafür – vielleicht, wenn sie älter ist. Und wenn sie selbst es möchte.“
Apropos Hochzeit – während wir gerade zu Abend aßen, schickte Totilas eine Chatnachricht mit der Frage, ob wir vielleicht Interesse daran hätten, wenn Adalind, die Planerin der Raiths, sich in die Hochzeitsvorbereitungen einschalten würde. Auch von diesem Angebot erzählte ich Lidia natürlich, und unsere einhellige und entschiedene Antwort war: JA!
So, und jetzt muss ich los – ich bin extra ein bisschen früher aufgestanden, um das alles noch aufschreiben zu können. Wir wollen uns zum gemeinsamen Brunch treffen, und ich bin gespannt, was die anderen alles zu erzählen haben.
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Die schlechte Nachricht mal gleich zuerst: Orcus ist verschwunden. Wir haben ja so eine Art instinktives Wissen um Miami und seine Bewohner – Intellectus nennen unsere Magie-Spezialisten das –, und wenn wir uns darauf konzentrieren, dann wissen wir, dass Orcus bei Adlene in der Gegend verschwunden ist. Das ist dummerweise aber auch genau die Gegend, wo der Outsider-Kopfschmerz sitzt, wo es sich nicht gut hindenken lässt. Ah, verdammt.
Wir müssen unbedingt Lucretia bitten, sich zu melden, wenn Orcus wiederkommt. Aber ganz ehrlich: Große Hoffnung, dass das passieren wird, habe ich nicht.
Als nächstes erzählte Edward, wie ihn Morrigans Schwert zu Alejandra geführt habe, und ich gab Lidias und meine Überlegungen zu dem Thema weiter, dass das höchstens etwas für Jandra sein wird, wenn sie alt genug dafür ist. Ob man das Schwert wohl in einen Amboss stecken könnte, solange, bis Jandra es herausziehen kann? Vermutlich nicht, aber einen Schmunzler war der Gedanke uns wert.
Dann: Robertos zweiter Besuch bei Macaria und das Gespräch mit Orunmila. Der Orisha schien sehr gut informiert über die Tatsache, dass wir da das eine oder andere Problem haben und Fragen stellen wollten.
Die Morrigan kannte er nicht persönlich, auch wenn er den Namen schon gehört hatte, und auch von Adlene hatte er schon gehört: „Er hat viele gefesselt und sich selbst dabei verstrickt“, sei die Aussage zu Adlene gewesen, so Roberto. Er sei auch nicht mehr Adlene, was eine Chance für uns sein könne – eben weil er nicht mehr Adlene sei, der so viel aufgegeben und so viel erhalten habe und der jetzt mehrere Personen in einem Körper sei.
Als zweites Problem berichtete Roberto von dem Denarius und dass wir sie gerne aus der Welt schaffen würden. Hier gab Orunmila allerdings zu bedenken, dass die Münze in diesem Fall nicht aus der Welt geschafft bleiben, sondern wieder auftauchen würde. Aber zumindest für lange Zeit sicher verwahren, das könnte gehen, wenn der Ort ein Gegengewicht zu dem Denarius wäre: rein, heilig und weitab von Menschen. Und da es in der Hölle heiß sei, vielleicht ein kalter Ort. Wir sollten den fragen, der die Wege kenne – sprich Eleggua.
Und nachdem Roberto den Orisha noch einmal explizit vor Adlene und dem Dolch gewarnt hatte, hatte Orunmila auch noch eine kryptische Mitteilung für unseren Kumpel, bevor er verschwand und Macaria ihren Körper wieder überließ: Auf der Hochzeit sollen wir dafür sorgen, dass Shango und Oshun miteinander tanzen. Was auch immer das heißen soll.
Was den kalten, reinen, menschenleeren Ort für den Denarius betrifft, so wäre da wohl am ehesten eine Insel passend - welche, das muss vermutlich wirklich Eleggua sagen. Aber auch das muss bis nach der Hochzeit warten.
Timberwere:
Ricardos Tagebuch: Ghost Story 4
26. März
Oh Mann. Heute abend ist der Junggesellenabschied. Ich hatte ja damit überhaupt nichts zu tun, sondern Pan hat sich in den Kopf gesetzt, dass für seinen Ritter alles wie im klassischen Lehrbuch ablaufen und die Feier daher eine komplette Überraschung für mich sein muss. Ich bin nur froh, dass er den Großteil der tatsächlichen Planung an Alex delegiert hat, dann konnte der wenigstens sicherstellen, dass nichts dabei sein wird, das ich einfach nur hassen würde.
Lidia ist schon los – sie hat natürlich ihren eigenen Junggesellinnenabschied mit ihren Freundinnen, auch Yolanda ist dabei. Sie weiß auch nicht alles, was die Mädels für sie geplant haben, aber sie meinte, etwas von Wellness und einem Tag im Spa und dann einem Abend in der Stadt gehört zu haben. Klingt gut, und ich hoffe, sie hat ein unvergessliches Erlebnis.
Die Mädchen sind bei Mamá und Papá, die auch schon ganz aufgeregt sind, aber gut, ich verstehe es ja – Eltern sind immer aufgeregt, wenn eines ihrer Kinder heiratet, das geht Lidias Eltern ja nicht anders.
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So, ich muss gleich los. Alex sagte was von lockerer Kleidung, dann fahre ich hoffentlich mit heller Hose, Hemd ohne Krawatte und Sneakern einigermaßen richtig.
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27. März. 05:30 Uhr. Gerade zurück. Schlafen. Nachher mehr.
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So. Einigermaßen ausgeschlafen, gegessen, von Lidia erzählt bekommen, wie es bei ihr gestern lief, und ihr von meinem Abend erzählt. Jetzt habe ich Zeit, um aufzuschreiben, was los war.
Kurz gesagt: Es war eine echte South Beach Party am Strand. Eingeladen (bzw. als Auftraggeber mit von der Partie) war natürlich Pan selbst, seine Satyre und Einherjer, und die Jungs, claro. Von den männlichen Guardians war sonst keiner da – mit Cicerón, Ángel und Bjarki bin ich einfach nicht so eng befreundet, und sie sind ja dann zur Hochzeit eingeladen.
Alex, der ja von Pan die Leitung der Party übertragen bekommen hatte, stellte die Einherjer als Security ab.
Sir Anders, als Pans einer verbliebener Sidhe-Ritter, war natürlich ebenfalls anwesend, und Pan sagte zu mir: „Wenn du ihn nicht dabei haben willst, dann musst du ihn auf eine Queste schicken.“
Ich selbst hätte jetzt gar nicht groß etwas dagegen gehabt, wenn Anders auf der Feier geblieben wäre, aber bevor ich das sagen konnte, sprang Alex begeistert auf den Vorschlag an: „Ach, ich darf ihn auf eine Queste schicken?“
Da Pan „Klar!“ antwortete, beauftragte Alex den Sidhe-Ritter, dafür zu sorgen, dass nichts die Party stören würde, und Sir Anders schwor einen heiligen Eid, dass Sir Ricardo seine Feier ungehindert würde genießen können. Wie so oft war sein Ernst ein wenig anstrengend, aber irgendwie auch rührend.
Gleichzeitig zu unserer fand am South Beach auch eine Spring Break-Party von Studenten statt, und natürlich fingen die beiden Feiern an, sich zu vermischen. Und genauso natürlich ging es hoch her. Da war zum Beispiel ein völlig betrunkener Student, der unbedingt ins Wasser wollte, weil er meinte, dort ein Licht gesehen zu haben, und weil jemand gesagt hätte, dort sei eine Meerjungfrau gewesen.
Roberto tanzte und flirtete und schleppte jemanden ab, während Totilas die aufkommenden Streitereien und Konflikte schlichtete, die aufzukommen drohten, weil die Satyre natürlich über die Stränge schlugen. Alex wiederum überließ das Sichern nicht nur den Einherjer, sondern hielt selbst auch Ausschau, ob irgendein Ärger anstand.
Während Alex das vor allem in Richtung Land tat, stand Sir Anders mit dem Schwert in der Hand an der Wasserlinie und sicherte zum Meer hin. Ich konnte sehen, wie Edward hinging und mit ihm redete, oder besser, Sir Anders sagte sehr ernsthaft etwas zu ihm, woraufhin Edward etwas erwiderte, Sir Anders noch einmal etwas sagte und Edward wieder abzog; wohin, das entging mir. Ich selbst stand bei Pan und fühlte mich ein bisschen verloren, weil ich nicht so recht etwas mit mir anzufangen wusste. Pan stand im Zentrum der Aufmerksamkeit, und das war auch völlig in Ordnung, das wollte ich ihm gar nicht abnehmen, und ich fand die Party auch nicht völlig ätzend, aber so richtig ausgelassen amüsieren konnte ich mich irgendwie nicht. Es war okay, aber … naja. Schon so ein bisschen una comemierderia.
Deswegen war ich auch sehr froh, dass Edward irgendwann an meiner Seite auftauchte und ohne Umschweife sagte: „Komm mit.“ Er führte mich ein kleines Stück weg vom Kern der Party, wo er nahe am Ufer einen Grill aufgestellt hatte. Steaks und einen Kasten Bier hatte er auch besorgt, und die Kohlen brannten auch schon. Und so saßen wir da am Strand, grillten, tranken Bier und redeten, und da wurde der Abend dann doch noch sehr fein.
Etwas später sahen wir draußen auf dem Meer tatsächlich ein Licht. Und wir sahen Sir Anders, der auf seinem Surfboard mit seinem Schwert in der Hand in Richtung des Lichtes hinauspaddelte. Ein wenig später ließ er sich ins Wasser herab, tauchte unter – und kam nicht wieder.
Nun gut, Sir Anders ist ein High Sidhe, für die gelten etwas andere Regeln, aber besorgt um ihn waren wir doch.
Also schwammen Edward und ich zu der Stelle, wo Sir Anders verschwunden war. Zu sehen war weit und breit nichts, aber kurz darauf tauchte eine Selkie auf.
„Du bist doch der Junggeselle, oder?“, fragte sie mich.
„Ähm, ja?“, antwortete ich, nicht sonderlich geistreich, weil zugegebenermaßen etwas verwirrt. Aber auch ihre Reaktion war eher eine Frage denn eine Aussage: „Glückwunsch?“
Sir Anders gehe es gut, sagte die Selkie auf unsere Frage. „Es ist alles unter Kontrolle, wir schaffen das.“
„Was ist denn los?“
Aber das wollte sie uns nicht sagen. Sir Anders habe einen heiligen Eid geschworen, dass an diesem Abend und in dieser Nacht nichts an Sir Ricardo herankommen und nichts Sir Ricardos Feier verderben dürfe. Sie war sehr bedacht darauf, dass Edward und ich uns auf gar keinen Fall einmischten, also vergewisserten wir uns ein letztes Mal, dass es Sir Anders gut ging, er unter Wasser atmen konnte und dort unten nicht in tödlicher Gefahr war, dann schwammen wir zurück und widmeten uns wieder unseren Steaks.
Irgendwann, nochmal einige Stunden später, tauchte Sir Anders wieder auf, sah allerdings etwas erledigt aus. Er hatte sein Schwert in der Hand, und seine Kleidung war etwas zerrissen. Nicht, dass das die Feiernden gestört hätte, denn auch, oder gerade, mit zerrissener Kleidung ist der Sidhe-Ritter ja durchaus ansehnlich.
Natürlich gingen wir zu ihm, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei, aber auch er bestand darauf, dass er alles unter Kontrolle habe, und zeigte sich überaus besorgt, ob ich auch eine schöne und vor allem ungestörte Feier hätte. Ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass dem so war.
Inzwischen war es aber auch schon 5 Uhr morgens, und es wurde allmählich hell, also war es langsam an der Zeit, nach Hause zu fahren. Als ich auf mein Handy schaute, sah ich, dass auch Lidia vor ungefähr 10 Minuten eine Textnachricht geschrieben hatte: „Ich fahre jetzt heim.“
Wie oben schon kurz geschrieben: Ich kam so etwa gegen 05:30 Uhr nach Hause – es war ja nicht weit –, dann fiel ich ins Bett. Nicht lange darauf kam auch Lidia heim, und heute schliefen wir bis in die Puppen. Aber das hätte, glaube ich, auch niemand anders erwartet.
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11. April
Heute werde ich sicherlich nicht viel zum Schreiben kommen. Nur so viel: Gleich geht es los!
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15. April
Tío. Wo fange ich an.
Also. Die Hochzeit selbst war, naja, wie man katholische Hochzeiten eben erwartet. Lang und sehr katholisch, mit einer sehr persönlichen und ergreifenden Predigt von Pater Alvaro. Wir hatten für den Anlass einen professionellen Fotografen engagiert, der aus allen möglichen Blickwinkeln Fotos machte. Natürlich waren unsere Familien alle da. Edward und Ines sprachen Fürbitten. Roberto rief die Jungfrau Maria an (also eigentlich Oshun, aber irgendwie ist das ja im Synkretismus der Santería doch auch dasselbe). Außer den Jungs waren die Guardians ebenfalls mit bei der Trauung, außerdem Cherie als Edwards +1; vom übernatürlichen Kontingent noch niemand, die kamen später zur Feier außerhalb der Kirche. Aber mit einem Mal sah ich Enrique in einer der hinteren Reihen sitzen – ich hatte keinerlei Ahnung gehabt, dass Mamá und Papá eine Kontaktmöglichkeit zu ihm haben und ihm bescheid gesagt hatten; ich selbst habe ja keinerlei Adresse von ihm, nicht mal seine E-Mail, aber es freute mich sehr, dass er gekommen war.
Es war eine wunderschöne Zeremonie – Lidia strahlte über das ganze Gesicht, und ich konnte mich zwar nicht im Spiegel sehen, aber mir ging es nicht anders.
Und dennoch war irgendetwas – ich selbst spürte es vor lauter Freude und Aufregung nur am Rande, aber die anderen erzählten mir hinterher, dass es für sie viel deutlicher gewesen war: ein Gefühl der Spannung in der Luft, wie vor einem Sturm. Und es war auch sehr windig, in der Kirche konnten wir hören, wie es um das Dach pfiff.
Nach dem Ende der Trauung, als wir alle aus der Kirche defilierten, ging ich erst einmal Enrique begrüßen, samt Umarmung – und Enrique umarmte mich zurück und wünschte uns alles Gute und hielt, zumindest in dem Moment, den Frieden, was mich noch mehr freute.
Zur Feier ging es dann in einer Kutsche, die Alex organisiert hatte. Auf den Bäumen um die Kirche herum saßen ziemlich viele Raben, was Alex zu der Bemerkung verursachte: „Tauben waren aus.“
Die Location, ein weitläufiger Partysaal, war hübsch mit Blumen und Girlanden geschmückt, ähnlich wie die Kirche, und als wir und die Gäste hineingingen, teilten Lidias Freundinnen Luftballons aus. Das ließ mich kurz zusammenzucken (Jaks Ballons lassen grüßen), aber es waren wirklich nur harmlose Luftballons.. Es gab eine Band und eine große Tanzfläche, ein Eisfahrrad, eine Hüpfburg für die Kinder, ein großes Buffet, den Gabentisch; der Fotograf war auch hier mit dabei, und an hübsch dekorierten Stehtischen wurde erst ein Sektempfang gehalten, bevor sich alle hinsetzen gingen. Kurz gesagt: Adalind, die Hochzeitsplanerin, hatte in der vergleichsweise kurzen Zeit einen unfassbar tollen Job bei der Vorbereitung geleistet. Und sie hatte vor allem Lidias Wunsch nach einem Cake de Nata als Hochzeitstorte erfüllt – wunderschön dekoriert und Hochzeitstorten-tauglich, natürlich.
Es gab die üblichen Reden. Es gab einige typische, zum Glück geschmackvolle, Hochzeitsspielchen (zum Beispiel die Postkarten an den Luftballons ausfüllen, bevor diese unter großem Hallo in den Frühlingshimmel von Miami entlassen wurden – gespielte Witze und dergleichen hatte Adalind zum Glück schon im Vorfeld abgebogen). Es gab eine Fotowand, auf der sich ältere Fotos von uns chronologisch von außen nach innen zu einem gemeinsamen, aktuellen Bild in der Mitte hinzogen.
Lidia und ihr Vater eröffneten die Tanzfläche, dann Lidia und ich, dann kamen alle dazu, und das Buffet wurde eröffnet. Lidias Cake de Nata kam prima an, und natürlich mussten wir ein Stück vom selben Teller mit derselben Gabel essen, aber es ist ja nicht so, als würden wir das nicht privat ohnehin manchmal machen, der Verlegenheitsfaktor hielt sich also in Grenzen.
Anfangs machten wir noch gemeinsam die Runde bei den Gästen, aber irgendwann ergab es sich, dass wir getrennt wurden: Lidia und Jandra waren eher mit unseren 'normalen' Gästen beschäftigt, während Monica und ich uns eher bei den übernatürlichen Gästen aufhielten.
Dann kam ein Mann auf mich zu, Mitte Fünzig, schlank und fit, lange, eisengraue Haare, eine Augenklappe mit einer Narbe darunter, von dem ich eben wegen der Augenklappe auch vermutet hätte, dass es sich um Donar Vadderung handelte, wenn er sich nicht beim Hereinkommen schon als dieser vorgestellt hätte, wir dann aber keine Zeit gehabt hatten, näher miteinander zu reden. Jetzt sah es so aus, als wolle er gezielt das Gespräch mit mir suchen – aber in genau dem Moment riss das Nevernever auf. Jak kam hindurch, mit zwei von diesen Dolchen in der Hand. Zwei Menschen folgten ihm, eine junge Latina und ein älterer Schwarzer, die ebenfalls jeweils einen solchen Dolch bei sich hatten, und außerdem die fünf keltischen Gestalten mit dem Halsband, gegen die wir in Morrigans Reich schon einmal gekämpft hatten.
Als sich der Riss ins Nevernever öffnete, waren Edward und Roberto gerade mit Cherie und Oshun am Tanzen. Totilas sah ich nicht (ich erfuhr später, dass er gerade sein Geschenk zum Gabentisch brachte), und Alex kam gerade mit Sir Anders in den Raum.
Ich sah, dass Jak mit erhobenen Dolchen auf Vadderung zusprang, und stieß einen Warnschrei aus, der Vadderung zur Seite springen ließ, so dass der Stoß des Outsiders ihn nur streifte.
Im selben Moment stellte Roberto sich schützend vor Oshun und bewegte die Hände in dem Muster, das er immer macht, wenn er seinen Blockadezauber wirkt. Aber die junge Latina griff Oshun gar nicht an. Stattdessen rammte sie ihren Dolch in Shango, der gerade ebenfalls auf Oshun zustürmte. Der Schrei, der aus Shangos Kehle drang, war markerschütternd. Roberto versuchte, die Frau von Shango wegzudrängen, aber es gelang ihm nicht. Nun rannte Oshun auf Shango zu, aber als sie ihn berührte, wurden Shangos Schreie lauter, und er begann zu brennen, und auch seine Angreiferin schrie auf und fing Feuer, während sich auf Oshuns Haut Brandblasen bildeten.
Während Alex schnell entschlossen den Feueralarm auslöste, drängte Edward sich zu dem älteren Mann mit dem Dolch durch, und Totilas stellte sich der Ambossgestalt in den Weg.
Ich musste Lidia und die Mädchen hier rausbringen, war mein einziger und drängendster Gedanke. Ich packte Monica an der Hand, die zu leuchten begonnen hatte, und rannte los, Lidia und Jandra finden, aber da kam Jandra schon auf mich zu. Sie hielt ein Kuchenmesser in der Hand und hatte einige Raben hinter sich – sah aber selbst überrascht darüber aus, was sie da eigentlich machte. Als sie bei mir angekommen war, hielt ich sie auf, nahm sie ebenfalls an die Hand und rief: „Raus hier, raus!“
Gemeinsam fanden wir Lidia, die in dem ausbrechenden Chaos auch schon auf der Suche nach uns gewesen war. „Was soll ich tun?“, fragte sie knapp. „Bring' die hijas und die Eltern in Sicherheit, ich komme nach!“ Lidia nickte. „Pass auf dich auf. Ich liebe dich!“ „Ich dich auch!“ Dann scheuchte sie die Mädchen vor sich her, und ich stürzte mich wieder zurück ins Getümmel, während um mich herum die Gäste in wilder Panik zu flüchten begannen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Alex beim Evakuieren half, indem er die Fluchtwege möglichst gut sichtbar und zugänglich für alle machte.
Edward und Totilas waren immer noch im Kampf, und Edwards Gegner pustete ihm gerade irgendetwas ins Gesicht, das Edward zurücktaumeln, husten und sich die Augen reiben ließ. Beinahe blind schlug Edward mit seinem magischen Handschuh zu und zertrümmerte dem Mann förmlich den Arm.
Vadderung hatte indessen einen Speer in der Hand – das musste Gungnir sein, der Speer, der eigentlich niemals sein Ziel verfehlte. Aber Jak ist ein Outsider, und er hatte einen von Odins Raben erstochen, so dass Vadderung verwirrt blinzelte und gerade nicht ganz bei sich schien. Triumphierend stach Jak zu, aber das Bild von Vadderung zerfaserte (eine von Loki geschaffene Illusion?), und der Ase befand sich ganz wo anders.
Auch die Guardians hatten inzwischen natürlich ins Geschehen eingegriffen. Dee brachte den Bürgermeister in Sicherheit, während Cicerón auf den brennenden Shango zurannte und förmlich mit ihm zu verschmelzen begann. Auch Cicerón fing Feuer, aber das schien ihn in dem Moment nicht zu stören. Derweil redete Roberto auf Oshun ein und versuchte, diese aus der Gefahrenzone zu bringen.
Totilas gelang es, seinem Gegner das Halsband zu entfernen. Es dauerte einen Moment, dann rief die Ambossgestalt plötzlich etwas in einer fremden Sprache und schleuderte Totilas von sich. Der hatte sich gerade aufgerappelt und wollte sich wohl wieder in den Kampf stürzen, da tauchte Marshal an seiner Seite auf und sagte etwas zu ihm. Totilas erwiderte etwas, sah nicht glücklich aus, aber dann folgte er Marshal humpelnd nach draußen.
Alex, der irgendwo einen Feuerlöscher gefunden hatte - natürlich wusste Alex, wo hier die Feuerlöscher zu finden waren, selbst wenn wir anderen keine Ahnung hatten – eilte zu der flammenden Konfrontation zwischen Shango/Cicerón und der Latina und hielt drauf. Unter dem weißen Schaum erstarb das Feuer, und man konnte sehen, dass Cicéron und die junge Frau sich gegenüberstanden und einander anstarrten. Von Shango war nichts mehr zu sehen. Oshun, die offenbar zurückgeschaut hatte, was bei ihrem Liebsten passierte, stieß einen gellenden Schrei der Trauer aus, dann brachte Roberto sie hinaus.
Die junge Latina hingegen war überhaupt nicht amüsiert davon, dass Alex sie soeben gelöscht hatte. Sie spuckte einen Flammenstrahl nach ihm, der unseren Kumpel empfindlich verbrannte.
Edward hatte sich offenbar die Augen freigeblinzelt, denn jetzt schlug er wieder mit seinem magischen Handschuh zu und brach seinem Gegner auch noch den zweiten Arm – aber im Gegenzug blies der alte Mann Edward wieder irgendwas ins Gesicht, das diesen offenbar die Orientierung verlieren ließ, denn er taumelte etwas und hatte plötzlich sichtlich Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu bewahren. Und zu allem Überfluss tauchte jetzt auch noch die Nebelgestalt neben ihm auf.
Ich eilte hin und zog dem Jak-Kultisten Jades Knauf über den Schädel, was diesem offensichtlich spürbar wehtat, ihn nur leider nicht ausknockte. Doch das gab das Edward die Gelegenheit, ihm den Dolch zu entwinden – und er hätte sich auch damit zurückgezogen, wenn ihm nicht die Nebelgestalt in diesem Moment einen üblen Tritt verpasst hätte.
Das war selbst für Edward zu viel. Der Dolch glitt ihm aus den Händen, und Edward ging zu Boden, fiel dabei genau auf die Waffe, zum Glück auf die flache Seite.
Für den Moment schien die Nebelgestalt mich zu ignorieren, also versuchte ich, vor allem Edward, aber auch den Dolch, in Sicherheit zu bringen.
Ich hatte Edward schon einige Meter weit gezogen, da kam – ganz ohne Panik – einer der Gäste auf mich zu. Vorhin zu Beginn der Feier hatte er sich als Hermes vorgestellt. „Ich weiß, du bist hier der Bräutigam, und ich bin hier Gast“, sagte er, „und ich will eigentlich nicht mit dir kämpfen, aber ich will diesen Dolch.“
„Ich will eigentlich auch nicht mit dir kämpfen“, sagte ich.
„Gut, dann gib ihn her.“
„Ich will nicht, dass du ihn einsetzt“, erwiderte ich. „Bei uns ist er besser aufgehoben.“
Aber darauf ließ Hermes sich – natürlich – nicht ein. Nach noch etwas Hin und Her einigten wir uns schließlich darauf, dass der Dolch nicht gegen Miami, nicht gegen Pan und nicht auf dem Stadtgebiet von Miami eingesetzt werden würde. Das schwor Hermes mir, woraufhin ich ihm die Waffe gab und er verschwand. Sprichwörtlich im Nichts, wohlgemerkt. Der Deal gefiel mir gar nicht, aber ich sah in dem Moment keine andere Lösung. Mierda..
Odin war derweil immer noch dabei, mittels Lokis Illusionen mal hier, mal dort aufzutauchen, während Jak ihn jagte. Dann stach der Outsider mit einem Mal ins Nichts. Dort erschien ein rothaariger Mann mit dunklen Augen – derselbe Mann vom Hurricane Relief Carnival. Loki. Und ihm steckte ein Dolch in der Brust. Odin schrie auf: „Bruder!!“ Bjarki und Haley erstarrten, völlig entsetzt.
Jaks Gestalt wurde hagerer, seine Haare röter, sein irres Grinsen verschmitzter. „Herzlichen Glückwunsch“, ließ er gutgelaunt in meine Richtung fallen, dann verschwand er. Wo er gerade noch gewesen war, schwebte einen Moment lang ein Luftballon und platzte dann.
Auch Cicerón und die junge Latina verschwanden, aber ihr Dolch blieb zurück.
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