Autor Thema: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels  (Gelesen 6060 mal)

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Offline Bad Horse

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[Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« am: 23.09.2012 | 15:38 »
Unsere letzte Hühnerrunde war ganz großes Kino. Hier sind die Diarys dazu.

Zunächst mal ein bisschen Background zur Runde:

Der Name "Hühnertage" kommt daher, dass wir nur weibliche Spieler hatten. ;)

Wir haben SL-los gespielt, mit den Entscheidungskarten aus Itras By. Wir hatten ein Deck von neun Karten, dreimal "Ja", dreimal "Nein" und dreimal "Der Konflikt eskaliert". Die wurden immer dann verwendet, wenn wir nicht sicher waren, wie eine Szene ausgehen soll.
Zu den Karten muss noch mal jemand anderes etwas sagen - ich weiß nicht mehr genau, was da im Einzelnen drauf stand.

Wir hatten die Charaktere im Vorfeld erstellt und verknüpft. Hier eine kurze Vorstellung:
- Victor Sauvageaux, der Ältere (Nocturama); auch Victor Le Grand (VLG) genannt: Der Patriarch der Familie Sauvageau. Zweimal verheiratet. Erste Ehefrau Lucelle, Mutter seines Sohnes Victor, brachte sich um. Zweite Ehefrau Amber brachte ihre Tochter Audrey mit in die Ehe. Starb bei einem Reitunfall. VLG ist ein Machtmensch, ein kalter Geschäftsmann, mit dem Spitznamen "Der Alligator". Liebt seine Stieftochter, will seinem Sohn irgendwie helfen.
- Victor Sauvageaux, der Jüngere (Bad Horse); auch Victor Le Petit (VLP), Achéron oder Ash genannt: Sohn von VLG. Wurde als Kind von seiner Mutter psychologisch missbraucht. Hört den Teufel, der ihn verspottet und quält. Trinkt und nimmt Drogen, lebt meistens als Semi-Obdachloser im French Quarter. Macht Musik. Versteht seinen Vater nicht. Liebt seine kleine Stiefschwester Audrey (als Schwester).
- Audrey Sauvageau (Patti): Tochter von VLGs zweiter Ehefrau Amber und Timothy LeClerc. 17 Jahre alt, unschuldig. Befreundet mit Soléne, von der sie Singen gelernt hat. Möchte Sängerin werden. Liebt ihren Stiefvater und ihren älteren Bruder (als Bruder).
- Timothy LeClerc (Joryn): Audreys Vater. Säufer, der sich nie gut genug für seine Frau gefühlt hat. Verschwand aus Audreys Leben, als sie 9 oder 10 war. Fand vor zwei oder drei Jahren zu Gott. Wurde von dem Teufel losgeschickt, um das Herz, das die Familie Sauvageaux vor ihm beschützt, zu stehlen - unter dem Vorwand, dass das ein böses Artefakt sei, dass Audrey schaden würde.
- Soléne LeGuir (Niniane): Loa, die ihr Herz vor 200 Jahren an einen Vorfahr der Sauvageauxs verschenkt hat und nie wieder bekam. Das Herz schützte den Vorfahr und seine ganzen Nachfahren vor dem Teufel, mit dem der Vorfahr einen Pakt hatte. Sie will ihr Herz zurück, aber es muss ihr von einem Sauvageaux geschenkt werden. Sieht aus wie ein junges Mädchen. Besitzerin des "Le Chat Noir", eines Edelclubs. Mutter von Antoine.
- Antoine Dowling (Timberwere): Sohn von Soléne. Wuchs bei einer Adoptivfamilie auf. Entwickelt in letzter Zeit übernatürliche Fähigkeiten und sucht daher nach seiner leiblichen Mutter. Mitglied einer Straßengang.

Auftakt war die Feier zu Audreys Schulabschluß, die im "Le Chat Noir" stattfand. Audrey hatte einen Auftritt als Sängerin geplant und ihren Bruder Ash überredet, sie auf der Violine zu begleiten. Soléne war ohnehin da, weil das ihr Club ist, VLG wollte natürlich seine Tochter singen hören. Timothy LeClerc war von Audrey eingeladen worden, weil sie sich mit ihm versöhnen wollte. Und Antoine tauchte auf, weil er seine Mutter suchte...

Alles andere hat sich im Spielverlauf eigentlich sehr organisch ergeben - die Szenen flossen ineinander über, es war nie schwierig, die nächste Szene zu framen, und die Charaktere haben sich sehr schön miteinander verstrickt. Wir haben ungefähr sechs oder sieben Stunden gespielt, unterbrochen von mehreren Pausen. Zur kulinarischen Begleitung gab es Gumbo und diverse Alkoholika (Chartreuse, Rosenlikör, Southern Comfort... nur den Absinth haben wir nicht aufgemacht).

Im nächsten Post findet ihr erstmal die grobe Zusammenfassung, die ich während der Runde geschrieben habe. Dann kommen die einzelnen Diarys der Mitspieler, die sich natürlich um ihren eigenen Charakter drehen.

Eine kurze Warnung: Die Geschichte ist krass und ziemlich bitter. Es kommt Kindesmißbrauch und eine Vergewaltigung darin vor - in den Diarys nur angedeutet, aber vielleicht zu deutlich für jemanden, der damit Probleme hat.. Wir freuen uns natürlich über Kommentare, aber bitte seht davon ab, uns zu erzählen, dass das kranker Scheiss oder ähnliches war.
« Letzte Änderung: 26.09.2012 | 20:29 von Bad Horse »
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #1 am: 23.09.2012 | 15:41 »
Hier mal der Mitschrieb (der liest sich allerdings nicht so gut, weil das mehr ein "und dann... und dann..." ist.  :)

New Orleans

Szene Eins – Vignetten

Solene bereitet den Club professionell vor.
Audrey trägt ein champagnerfarbenes Kleid, ist nervös und singt sich ein.
Ash ist nicht in den Club gekommen und spielt jetzt davor auf der Violine (hat auch schon Geld bekommen)
Antoine fährt in seinem klapprigen Auto vor und steigt aus.
Victor fährt in der Limousine vor und sieht Ash.
Tim kommt mit dem Bus und versucht, Victor aus dem Weg zu gehen.

Erster Akt

Solene / Audrey: Audrey wartet auf Ash und bittet Solene, doch mal nach ihm zu schauen. Die schickt Renoir raus, einen ihrer Angestellten.
Victor / Ash: Ash erklärt, dass er nicht in den Club kommt, und Victor nimmt ihn mit.
Antoine / Renoir / Ash: Renoir will Antoine in seinen Homie-Klamotten nicht reinlassen, aber Ash meint, der wäre das aus der Klasse – etwas Verwirrung, dann ist Antoine drin
Victor / Solene: Begrüßung
Ash warnt Antoine vor Solene, aber der sucht ja nur die Besitzerin
Solene scheucht Ash zu Audrey
Ash versucht, Audrey vor Solene zu warnen, aber sie hört nicht recht; Audrey droht eine Überraschung an
Antoine fragt Solene nach der Besitzerin und reagiert schwer befremdet, als sie sagt, dass sie Solene LeGuir ist. Als er erzählt, dass er ihr biologischer Sohn ist, läuft Solene auch erstmal davon.
Antoine erzählt Tim von seinem Problem, dass Solene so jung aussieht. Tim meint, dass er auch jemanden nach langer Zeit wiedertreffen wird. Die beiden setzen sich zusammen an einen Tisch. Antoine versucht, seine Nervosität durch Coolness zu überspielen.
Audrey ist erstmal nervös, aber nach einem aufmunternden Blick von Victor fängt sie an, begleitet von Ash.
Nach dem ersten Lied eine Rede von Audrey, in der sie ihren Papa (VLG) und ihren Dad (Tim) erwähnt und sich bedankt. Dann singt sie eins von Ashs Liedern.
Victor wirft Tim einen verächtlichen Blick zu, Tim versucht, Victor zu ignorieren.
Ash hat das Lied nicht so gut bekommen, er sitzt hinter der Bühne und brabbelt ein bisschen. Audrey versucht, ihn zu beruhigen und knurrt den „Teufel“ an. Ash stößt sie weg und erklärt ihr, sie soll nicht mit „ihm“ reden. Dann rennt er weg.
Audrey meint in die Luft, sie würde ihn gern mal in die Finger kriegen, und spürt eine leichte Berührung am Am.
Solene und Antoine reden, erst sehr förmlich, dann etwas vertraulicher. Antoine druckst herum, aber er will zwei Sachen gern wissen – sie gehen in ein Separée, und Antoine meint, ihm wären komische Sachen passiert. Typen waren ihm auf den Fersen, dann war er plötzlich unsichtbar. Er hat gemerkt, dass ihn jemand anlügt, einfach gewusst. Soléne reagiert sehr cool, und Antoine wird wütend, weil er nicht weiß, was los ist. Solene hält ihn magisch fest, aber er kann sich losreißen und schmeißt sie durch den Raum, dann rennt er davon.
Audrey kommt ins Zimmer, sieht Solene ohnmächtig herumliegen und fühlt ihren Puls. Als sie keinen findet, holt sie erstmal Victor. Solene wacht in der Zwischenzeit auf und wehrt Victors Versuch, einen Krankenwagen zu rufen, ab. Er bietet ihr einen privaten Dienst an, um das Problem zu klären.
Solene scheucht die beiden aus dem Separée. Audrey ist ziemlich erschrocken, bleibt aber bei ihren Freundinnen auf der Feier.
Ash erzählt während dessen Tim, dass Audrey mit dem Teufel gesprochen hat. Außerdem erzählt er, dass der Teufel mit ihm spricht.
Victor geht zu Tim und erklärt ihm, dass er besser aus Audreys Leben verschwinden sollte. Tim bleibt freundlich und bietet keine Angriffsfläche.
Ash schaut nach Solene und will wissen, ob sie für den Teufel arbeitet. Sie reagiert etwas beleidigt. Auf seine Frage, warum sie mit ihm geschlafen hat, meint sie, dass sie etwas von ihm will, etwas Wertvolles. Aber wohl nicht seine Seele. Dann fängt er wieder an, mit dem Teufel zu reden, und stimmt irgendeiner Sache zu.
Als er gehen will, trifft er Victor, der will, dass er nach Hause kommt. Ash will eigentlich nicht, stimmt aber schließlich zu, weil er irgendwo gleichzeitig seinen Vater und dem Teufel hört.
Audrey geht zu Tim und redet mit ihm. Er entschuldigt sich, sie ist nicht sonderlich nachgiebig. Er erzählt, dass er die letzten zwei Jahre in einem Kloster verbracht hat und jetzt Gärtner ist. Victor kommt dazu, und Audrey schlägt vor, dass er sich doch um den verwilderten Garten kümmern soll. Victor stimmt unerwartet zu und lädt Tim als Hausgast ein.

Zweiter Akt

Ash und Antoine unterhalten sich auf einer Parkbank über ihre Mütter, den Teufel und darüber, dass Antoine Zeug kann. Beide sind schwer betrunken. Ash hört in Antoines Nähe den Teufel nicht. Seine Hände sind verletzt, seine Geige ist weg – er hat für den Teufel gespielt letzte Nacht, damit der Teufel Audreys Feier nicht stört.

Victor in Solenes Club. Die beiden reden im Büro, dann wird sie zur Katzenfrau und beide fallen übereinander her. Sie beißt ihn, aber er weiß hinterher nicht mehr genau, ob das wirklich passiert ist oder nicht. Jedenfalls tut ihm die Schulter weh.

Am nächsten Tag kommt Ash nach Hause, um sich eine neue Violine zu holen. Tim fängt ihn ab und erzählt ihm, dass der Teufel etwas auf dem Anwesen hinterlassen hat und dass er hinterher Audrey her ist. Ash stimmt zu, dass der Teufel etwas von Audrey will. Er glaubt zunächst, dass Tim es auf ihn abgesehen hat, weil er ja des Teufels ist. Aber Tim überzeugt ihn, dass es um etwas anderes geht. Ash erzählt ihm vom Labyrinth. Dort gibt es etwas Böses.

Audrey bittet Solene um Rat, was ihre beiden Väter angeht. Solene meint, sie muss sich für einen entscheiden, und versucht ihr zu erklären, dass Tim ein alkoholisierter Loser ist, Viktor hingegen ein Siegertyp. Audrey ist nicht so glücklich über die Wahl zwischen Löwe und Nacktschnecke, wie Solene das ausdrückt, und rauscht davon.
Solene entdeckt im Spiegel ihre erste Falte.

Audrey geht, um Ash zu besuchen, und trifft in seiner „Wohnung“ auf Antoine, der dort übernachtet hat. Sie streiten sich ein bisschen wegen des Angriffs auf Solene. Dann trinken die beiden gemeinsam einen Kaffee und unterhalten sich über Tim.

Tim findet in einem Komposthaufen den Sattel von Amber Sauvageaux – mit angeschnittenem Sattelgurt. Er geht natürlich davon aus, dass es Victor war.
Als Victor kommt, um Tim mit zur Alligator-Jagd zu nehmen, schreit Tim ihn an, dass er Amber umgebracht hätte. Es gibt einen handfesten Streit, Tim stößt Victor eine Heugabel in die Schulter, Victor entreißt ihm die Heugabel und schlägt sie ihm über den Schädel.

Ash taucht auf und will wissen, was passiert ist. Victor erzählt es ihm, Ash glaubt nicht, dass Victor Amber nicht getötet hat und bringt Tim erstmal weg. Mit dem Mercedes. Im Auto erzählt Tim, dass hier vermutlich der Teufel die Finger im Spiel hatte. Ash vermutet, dass der Teufel vielleicht am Siegelring seines Vaters hängt.

Audrey kommt nach Hause, als der Arzt Victor gerade zusammennäht. Victor erzählt ihr, was passiert ist, und sie ist erstmal entsetzt, dass Victor Tim verletzt hat. Victor gelingt es, sie zu überzeugen, dass es nicht ausschließlich seine Schuld hat, aber sie ist zu verwirrt, um etwas anderes zu tun als Klavier zu spielen.

Antoine besucht Solene. Die beiden reden relativ ruhig miteinander, und Solene erzählt ihm, dass ihr Körper 220 Jahre alt ist. Dann zeigt sie ihm ihre wahre Gestalt und meint, er könnte das auch. Er zeigt erneut die Szene mit den Verfolgern, aber diesmal sieht man, wie er sie zerreißt. Danach bricht er zusammen und heult sich bei seiner Mutter aus. Die nimmt ihn in den Arm und schwört, dass niemand sein Herz bekommen wird.

Ash bringt den Wagen zurück und begegnet Audrey, die gerade schlafwandelt und vom Teufel besessen ist. Er versucht, den Teufel dazu zu bringen, Audrey frei zu geben. Der will aber nicht und zeigt, dass er bereit ist, sie zu verletzen, wenn Ash nicht macht, was er will.
Audrey – der Teufel – bringt Ash ins Labyrinth, in die Nähe des Mausoleums. Er erzählt von dem schlagenden Herz, dass er haben will. Ash versucht, Audrey zum Mausoleum zu bringen, aber es gelingt ihm nicht: Sie ringt ihn nieder und fällt über ihn her. Genau auf dem Höhepunkt kommt sie wieder zu sich.

Antoine will Ash besuchen und trifft Tim. Die beiden unterhalten sich über Audrey, und Antoine fragt Tim, ob er mit ihr ausgehen darf.

Im Labyrinth kommt Audrey zu sich und versteht erst gar nicht, was passiert ist. Ash ist ziemlich fertig, kriegt nichts erklärt – und dann taucht Victor auf. Der schubst Audrey erstmal zur Seite und schlägt Ash zusammen.

Seine Homies gratulieren Antoine dazu, dass er die anderen Typen umgelegt hat. Etwas später taucht er bei Solene auf und lässt sich von ihr erklären, dass sie ein Loa war – bis sie ihr Herz an einen Sauvageaux verschenkt hat. Dann lernt er ein bisschen, seine Kräfte zu beherrschen.

Als Ash sich um Audrey kümmern will, hört er wieder die Stimme des Teufels und rennt davon. Bei sich zu Hause trifft er Tim, dem er ziemlich inkohärent erzählt, dass etwas mit Audrey passiert ist und dass es ihm leid tut. Tim hält ihn davon ab, sich umzubringen, und bringt ihn dazu, zu beten – aber er kennt nur die Gebete, die ihm seine Mutter beigebracht hat.

Später kommt Antoine, und Ash wird etwas ruhiger, weil er den Teufel nicht mehr hört. Ash erzählt, was genau passiert ist, und Tim und Antoine glauben ihm auch, dass es nicht seine Schuld war. Er kann Tim überzeugen, dass das Herz seine Familie tatsächlich beschützt – auch wenn ein Priester Tim etwas anderes erzählt hat.
Schließlich fällt Ash ein, dass Audrey noch auf dem Landgut ist, ganz allein. Antoine rennt sofort los, um nach ihr zu sehen.

Audrey taucht bei Solene auf und erzählt, was passiert ist. Die ist erstmal nicht so einfühlsam und macht sich mehr Gedanken darüber, ob Audrey schwanger ist. Nachdem aber klar wird, dass Audrey das jederzeit wieder passieren kann, opfert sie ihre Lebenskraft, um das Herz zu stärken und altert rapide.
Sie erzählt Audrey von dem Handel mit Victor l’Ancien und meint, dass der Teufelspakt dann gebrochen werden könnte, wenn sich jemand freiwillig opfert. Audrey meint, dass sie das Ash nicht erzählen solle, weil der sich sofort opfern würde.

Antoine findet Audrey nicht. Er geht zum Mausoleum, wo ihn Victor konfrontiert. Die beiden streiten sich um das Herz: Antoine will es seiner Mutter bringen, damit sie nicht stirbt, Victor sieht darin den letzten Funken Hoffnung, den sein Sohn noch hat. Beide kämpfen, Antoine stößt Victor zur Seite und der stürzt schwer. Antoine holt sich das Herz und rennt davon, aber er kann das Labyrinth nicht mehr verlassen.

Tim und Ash, Solene und Audrey tauchen  im Labyrinth auf und alle treffen sich am Mausoleum. Solene verlangt das Herz, Ash meint, dass dann der Teufel die Seele seines Vaters und seine eigene holen würde und das möchte er nicht. Solene verlangt das Herz dringlich, klammert sich an Victor und lässt ihre Kraft los, um ihn zu töten. Er stürzt sterbend zu Boden.

Audrey glaubt, dass sie den Teufelspakt auflösen kann, wenn sie sich opfert, aber Tim hält sie davon ab. Trotzdem ist sie schwer verletzt, und als Solene verspricht, dass sie sie heilen kann, wenn sie ihr Herz bekommt. Daraufhin kriegt Solene tatsächlich ihr Herz, verwandelt sich in einen Loa und heilt Audrey.

Die stürmt zu Victor und seinem Sohn und will sie nicht sterben lassen, aber die beiden überzeugen sie, dass sie nichts tun kann, und Tim bringt sie zusammen mit Antoine weg. Gerade als sie das Labyrinth verlassen, sieht Tim noch den Priester, der mit einem zufriedenen Lächeln aus einem Seitengang kommt und langsam in Richtung des Mausoleums geht.
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #2 am: 23.09.2012 | 16:08 »
Mein Diary ist keine Beschreibung des Spielgeschehens im herkömmlichen Sinne, weil ich der Meinung war, eine Beschreibung der Ereignisse aus Solènes Sicht würde ein wenig die Übersinnlichkeit ihres Charakters zerstören. Also habe ich jemanden anderen erzählen lassen:

La legende du chat noir

Kommt mal her, Kinder. Ja, ganz dicht dran. Du da hinten, du auch. Ich muss euch 'ne Geschichte erzählen, ist wirklich so passiert. Hier, in Big Easy. Ist 'ne traurige Geschichte, ich hoffe, ihr habt Taschentücher dabei, falls ihr mal'n paar Tränchen verdrücken wollt. Oh, und'n bißchen gruselig isses auch, also haltet euch gut fest und betet zur Jungfrau, damit sie uns beschütz'. Aber ich schwör euch, jedes Wort ist wahr, ihr könnt den alten Thibodeaux fragen, drüben in der Charleston Road. Der hat sie auch gesehen, die schöne Frau, wie 'ne schwarze Katze, oder vielmehr 'ne Löwin war sie, so schön und so gefährlich. Du da Kleiner, halt Dir mal die Ohren zu, dass is' noch nix für Dich, aber ihr da, Jungs, ihr könnt das ruhig hören, dass die gute Solène, so hat sie sich genannt, verdammt nochmal die schönste Frau im ganzen French Quarter war. Oh ja, Mann. Wunderschön.
Aber sie war nicht normal, also nicht verrückt, wenn ihr das denkt, sie war nicht.. von dieser Welt. Als ich sie kennengelernt hab', was schon lange lange her ist, verdammt lange, länger als die meisten von euch Kindern denken können, da war sie noch ein junges Mädchen. Süß und rein wie die Jungfrau, aber eine Seele, die war verflucht nochmal gar nicht unschuldig. Sie hatte Feuer in sich, oh Mann, und im Bett ging sie ab.. he Du, ich hab gesagt, Ohren zuhalten! Oder Du gehst sofort zurück zu deiner Mami, aber sag ihr nix hiervon. He, bessere Idee, hol mir was von dem grünen Zeug, dass der alte Jerome braut, hier ist'n Dollar, und noch einer für Dich.
Und ihr, Ohren wieder auf, denn ich erzähl euch von Solène LeGuir, der schärfsten Frau in ganz Nola. Sie trug nur so'n weisses Kleid, so ein Sommerkleid, als ich sie das erste Mal traf, und ich schwör euch, es war so weiss wie 'n Brautkleid, und sie hat es genauso getragen, obwohls doch nur so'n Hängerchen war, andere Weiber tragen sowas als Unterwäsche, aber sie, sie sah darin aus wie 'ne gottverdammte Königin, und genauso hat sie sich auch benommen. Sie hatte noch nicht mal Schuhe dazu an, aber das war egal, brauchte sie auch gar nicht.
Ich hab sie immer mal wieder gesehen in dem Sommer, aber nich' oft, ich hatte zu tun, hatte Geld zu verdienen, wie ein Besessener hab ich geschuftet, aber hat sich gelohnt. Ich konnt' mir ein Haus kaufen, so'n richtig schmucken Kasten mit allem Drum und Dran, stand da in der Nähe vom See, wo heute die Bonzen hausen, ihr wisst schon, da, wo Katrina nich' hingekommen ist, weil die Leute ihre Seelen an den Teufel verkauft ham, und der schützt die Seinen, auch gegen sowas wie Lady Katrina. Oder sie lassen sich mit anderen Mächten ein, von denen sie nix verstehen, und opfern dafür die, die sie lieben. Wirklich wahr, guck nich' so erschrocken, Kleine, so is' die Welt nu'mal. Und Solène, um ma' wieder zum Thema zu kommn, die wusste das. Aber sie hat trotzdem mitgemacht, und schwupp, eh sie sichs versieht, hat ihr so'n Bonze das Herz gestohlen. Ja, richtig, das Herz, und das ist jetzt nicht so'n romantischer Kram, wie ihr den in der Flimmerkiste seht, sondern so ein Typ hat es ihr weggenommen, weil er sich damit vor dem Teufel schützen wollte. Ein Sprichwort sagt, wenn du dich mit'm Teufel einlässt, veränderst nicht du den den Teufel, der Teufel verändert dich. Genau das ist mit diesem Typen passiert, erst hat er sich mit dem Leibhaftigen eingelassen, um mehr Kohle zu kriegen, und dann hatters mit der Angst zu tun gekriegt und sich an Solène rangemacht, damit sie ihn beschützt. Ich hab ja gesagt, sie war nich' von dieser Welt, sie war'n Loa, und dieser geldgeile Sack hat sich mit 'ner Voodoo-Priesterin verbündet und Solène dazu gebracht, dass sie ihm ihr Herz schenkt. Er hats dann auf seinem Bonzenanwesen versteckt, und die schwarze Löwin war auf einmal 'n nasses Kätzchen. Es hiess, sie wäre immer noch in der Lage, verrückte Dinge zu tun, so'n Magiekram, aber sie war jetzt 'n Mensch. 'N verdammt hübscher Mensch, wenn ich das mal so sagen darf, und sie ist nicht älter geworden, war immer noch son junges Ding, wie damals im Sommer.
Sie hat's aber irgendwie zu Geld gebracht, wie, weiss ich nich', und will ich auch gar nich' wissen, aber sie hatte dann so 'nen Club, „Etablissement“ sagt man dazu, weil's nicht so nach Puff klingen soll. Was? Nein, das Ding hat ihr gehört, kleiner Dummkopf, sie war die Chefin, sie hat da nich' gearbeitet, auch wenn ich gehört hab', dass 'ne Menge Typen ihre gesamte Kohle für eine Nacht mit Le Chat Noir ausgegeben hätten. Aber sie hat das immer nur weggelächelt, weil sie wusste, dasses verdammt gefährlich ist, mit ihr in die Kiste zu gehen. Nur einmal ist sie schwach geworden, und ich weiss noch, so schwach hab ich sie nie vorher und nachher wieder gesehen, und ich hab dann gehört, dass irgendsoein Typ im Mardi Gras ihr ein Kind gemacht hat, frag' mich nich', ich habs nie gesehen. Bis dann dieser Bengel aufgetaucht ist, nach 21 Jahren kam er hier an und hat sich benommen, als würde ihm die Stadt gehörn. Ich hab gleich gemerkt, dass mit dem was nich' stimmt, der hatte so komische Augen, die waren irgendwie wie die von 'ner Katze, ganz und gar nich' menschlich. Der roch so dermaßen nach Ärger, das war nich' mehr feierlich. Eigentlich wollte an dem Abend so 'ne feine Familie in dem Club feiern, irgendso'n reicher Pinkel und seine Kinder. Seine Kleine hatte ihren Highschool-Abschluss in der Tasche und durfte deswegen im Le Chat Noir ein paar Lieder für ihre reichen verwöhnten Freundinnen trällern, und der Sohn hat dazu gefiedelt. Der war auch nich' ganz normal, hat sich für 'nen Rockstar gehalten oder sowas, total irre und auf Drogen, aber die reichen Kids ham ja auch nix besseres zu tun, als sich von Acid bis Opium alles reinzupfeifen, was es zu kaufen gibt.
Jedenfalls, der erste Bursche, der mit den komischen Augen, marschiert in Solènes Büro, und dann hört mans nur noch krachen, und er hat sie gegen das Regal geworfen, der irre Spinner. Natürlich isser danach getürmt, was erwartet man von so einem, und der reiche Pinkel und seine Tochter, son blasses Pflänzchen, haben sich dann um Solène gekümmert. Ich hab gehört, die Kleine war öfter im Club und hat da Singen gelernt von Solène, denn das konnte sie, ohja, 'ne Stimme wie Honig und Bourbon. Ich hab ihr früher gerne zugehört, wow, Kinder, ihr wisst gar nicht mehr, wie das ist, so 'ne Musik zu hören, echten Blues, das gibts heutzutage ja gar nich' mehr mit diesem ganzen elektronischen Kram, der keine Seele mehr hat. Das Gefiedel von dem Junior-Pinkel hat mich 'n bißchen daran erinnert, wobei, da liefs mir da kalt den Rücken runter, das war 'ne andere Art von Seele, 'ne düstere Seite, die übelste Gelüste weckt, an die ich gar nich' mehr denken mag. Besessen, hab ich gedacht, der Typ ist besessen, aber ich wollt' gar nich' drüber nachdenken, wovon oder von wem. Aber die ganze Familie waren komische Typen. Der Alte hatte schon die zweite Ehefrau unter die Erde gebracht, hab' ich gehört, und die Erste soll komplett durchgedreht sein. Die Zweite hat das kleine Vögelchen mit in die Ehe gebracht, aber viel Glück war ihnen auch nicht beschieden, soll 'n Unfall gewesen sein. Ja klar, wers glaubt, Reitunfall, ist doch 'n Klassiker, wenn die Ehefrau nicht mehr spurt, wirds Pferd scheu gemacht und der Witwer ergeht sich in seine Trauer. Hätt' mich nich' gewundert, wenn das Vögelchen bald Ehefrau Nummer Drei geworden wäre.
Anscheinend hat das Zusammenleben mit dem ständig vollgekoksten Junior und dem Alten sie aber auch irre gemacht, ich hab dann gehört, dass sies nicht mit dem Alten, sondern mit dem Jungen getrieben hat. Mitten im Garten, vor so 'nem Mausoleum. Der Alte wiederum hat sich mit Solène eingelassen, armer Irrer. Das er das überlebt hat, war 'n Wunder, wobei, eigentlich auch nich'. Der war nämlich der Nachfahre von dem Scheisskerl, dem Solène ihr Herz geschenkt hatte, ihr wisst doch, der mit dem Teufel einen Pakt eingegangen ist. Und der Teufel wollte sich jetzt holen, was ihm gehört, nämlich die Seelen von dem Alten und dem Junior. Dafür isser vor nix zurückgeschreckt, hat sich sogar an die Tochter rangemacht. Der Junior hatte sogar 'ne Stimme im Kopf, wenn ichs euch doch sage, der konnte mit dem Leibhaftigen reden, echt wahr. Aber ich hör' jetzt besser auf, vom Teufel zu reden, sonst kriegt ihr Angst, und scheisst euch in die Hosen.
Erinnert ihr euch noch an den jungen Burschen, der in Solènes Club aufgetaucht ist? Das war ihr Sohn, ja, genau, der vom Mardi Gras, und der hat rausgefunden, dass er über genauso magische Kräfte verfügt wie seine Ma. Konnte Dinge durch die Gegend werfen und sich in 'ne reissende Bestie verwandeln und so. Und, ganz wichtig, genau wie Solène konnte er den Leibhaftigen in Schach halten. Der Junior, sonst immer so zappelig war wie die kleinen Fische, die Mr Detemple vom Laden anner Ecke ausm Kanal holt, wurde auf einmal brav wie 'n Lämmchen, wenn Antoine – so hiess der Knabe – da war. Aber anstatt sich darüber zu freuen, hat Solène es mit der Angst zu tun gekriegt, denn stellt euch vor, sie wurde plötzlich älter. Ja, ihr habt richtig gehört, sie hat Falten gekriegt und alles, und wenn Du 200 Jahre lang aussiehst wie 'n junges Mädchen, dann fällt dir das auf, und allen anderen auch.
Aber Solène mochte die Kleine, also die Tochter von dem Alten, wirklich, und sie hatte Angst, dass ihr Alter auf die Idee kommt, das Herz einfach auszutauschen und ihren Sohn umbringt, um seins zu kriegen. Also hat sie alles gegeben, und ich mein' wirklich alles. Das hättet ihr sehn müssen, das war zum Gruseln, eben war sie noch jung und schön, und plötzlich steht da 'ne alte Frau, uralt, runzlig mit weissen Haaren und keine Zähne mehr im Mund, und sie wusste auch nich' mehr, wer sie war. Das war da in dem Garten, ihr wisst schon, das Labyrinth auf dem Grundstück von dem Alten, wo er das Herz versteckt hatte. Irgendwie sind da den einen Abend plötzlich alle aufgetaucht: Der Alte, das Vögelchen, der Junior, so'n komischer Typ, der aussah wie'n Gärtner, Antoine und Solène. Jesus, sah die fertig aus. Ich sag ja schon, ist um Jahre gealtert, und mit letzter Kraft hat sie dann versucht, den Alten fertig zu machen, aber das hat dann sie fertig gemacht. Jeder hat gedacht, jetzt geht sie drauf. Aber sie is' nich' draufgegangen, im Gegenteil, als sie da so lag, und es mit ihr vorbei war, da ist sie plötzlcih wieder jünger geworden! Ja, ich schwörs euch, immer jünger, und dann war sie nur noch so 'ne Lichtgestalt, ja, ehrlich, das war ihre wahre Gestalt, bevor sie 'nen Mensch wurde und dem anderen Typen ihr Herz geschenkt hatte.
Sie konnte jetzt auch nich' mehr sprechen, aber sie hat das Vögelchen geheilt, die wollte sich nämlich dem Teufel opfern, damit der Leibhaftige ihren Alten und den Junior verschont. Ich sag ja, die Saat des Wahnsinns ist schon voll aufgegangen in der Kleinen, kein Wunder, wenn der Teufel schon deine Mutter und die erste Ehefrau geholt hat.
Aber jetzt, wo sie das Herz nich' mehr hatten, konnte der Leibhaftige sich endlich holen, was ihm zusteht, und das hat er auch gemacht, ohja, bei lebendigem Leib mit sich in die Hölle gerissen hat er sie, war kein schöner Anblick. Kinder, lasst euch niemals mit dem Beelzebub ein, das endet nie gut. Niemals!
Jedenfalls ist das Vögelchen mit Antoine und dem Gärtner entkommen, aber ich bezweifel' dass die Kleine glücklich geworden ist. Solène hab ich jedenfalls nie wieder gesehen, keine Ahnung, was aus ihrem Etablissement geworden ist.
Aber das ist 'ne andere Geschichte, und das hier ist alles genau so passiert, so wahr ich Victor l'Ancien heisse.
Flawless is a fiction, imperfection makes us whole
The weight that holds you down, let it go
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #3 am: 26.09.2012 | 20:08 »
So, jetzt ich... das wird etwas länger. ;) Ich fange mal mit dem Prequel an:

Devil’s Moth

Die Klimaanlage war mal wieder kaputt, deswegen hatten wir alle Türen und Fenster unseres Proberaums weit aufgerissen. Das brachte natürlich gar nichts, im Gegenteil: Die schwere, feuchte Luft draußen war immer noch warm wie eine Wolldecke und kroch in trägen Wellen in und durch den Raum. Sie brachte das Parfüm des French Quarters mit sich: Süße Kräuter, Magnolien und den dunkel-erdigen Geruch des Sumpfes, der sich überall festsetzte.

Will schraubte an der Klimaanlage herum und summte tonlos vor sich hin, während ich ihm über die Schulter schaute und versuchte, ihm Tipps zu geben – völlig sinnlos, wie immer. Will war ein sturer Hund und überzeugt davon, dass er ein goldenes Händchen für Technik hatte. Das war in den Feldern Nebraskas vielleicht auch so gewesen, aber mit dem ständig feuchten Klima in New Orleans stand er auf Kriegsfuß.
Sandy hatte einige Ventilatoren aufgestellt und drehte sie hin und her, um die optimale Luftströmung zu finden. Neben ihr lag ein aufgeschlagenes Physikbuch mit komplizierten Diagrammen, das sie hin und wieder durch ihre dicken Brillengläser anblinzelte. Sie war hübsch ohne die Brille, aber genau deshalb trug sie sie. Sandy wollte keine Typen, die um sie herumschwärmten. Ich dachte erst, sie wäre schüchtern, aber so langsam kam ich dahinter, dass sie einfach zufrieden mit sich und ihren Büchern war.

Der einzige, dem die Hitze nichts auszumachen schien, war Ash. Er saß auf einem unserer unförmigen Probebeutel – zusammengenähte Zottelfelle in absurden Farben, die wir mit Styroporkugeln und Sand gefüllt hatten – und spielte gedankenverloren auf seiner Gitarre. Wie üblich, wenn er nachdachte, fanden seine Finger die Akkorde von selbst, und er spielte eine komplexe, aber süße Melodie, die mich an Magnolienbäume und einen alten Galgen erinnerte.

Wir waren alle Außenseiter: Will mit seinem breiten Nebraska-Slang und den goldenen Haaren, die aussahen wie ein unordentlicher Strohhaufen. Er war von seiner Farm weggelaufen, weil er Musik machen wollte, weil er die Welt kennen lernen wollte, und weil er seine Augen nicht von den mexikanischen Feldarbeitern und ihren kräftigen, muskulösen Körpern lassen konnte. Er wohnte irgendwo zu Untermiete bei einem älteren Mann, den er „Ma’am“ nannte, und verdiente einen Haufen Geld damit, sich an andere ältere Männer zu verkaufen. Trotzdem wirkte er frisch und unschuldig, so, als wäre er gerade mit dem Pferdewagen in die große Stadt gekommen und als müsste er immer noch nach Heu und Stall riechen.

Sandy lebte davon, alte Bücher zu restaurieren. Sie liebte Bücher und hatte immer Leim und Papierfetzen an ihren Fingern und ihrer Kleidung kleben. Sie las alles, und sie konnte alles, was sie je gelesen hatte, im Kopf behalten. Ich glaube, wir waren alle ein bisschen verliebt ihn sie, aber sie schien es nie zu merken. Vielleicht wollte sie es auch nur nicht wissen.

Ich war der typische verlorene Junge – Waisenkind, aufgewachsen bei Pflegefamilien, ohne Wurzeln, ohne Zukunft. Ich hatte nicht viel Hoffnung auf irgendwas und gefiel mir hin und wieder in ziellosem Zynismus und allgemeiner Misanthropie, aber das konnte kaum überdecken, wie sehr ich mich nach einer Zuflucht sehnte. Die anderen nahmen meine seltenen Wutanfälle, hysterischen Schimpfreden und die gelegentlichen Drogenexzesse gelassen hin, und so langsam fing ich an, den anderen zu vertrauen.

Ash – Achéron – war wahnsinnig. Er glaubte, dass der Teufel mit ihm sprach und ihn dazu bringen wollte, schlimme Dinge zu tun. Abgesehen von ein paar merkwürdigen, einseitigen Gesprächen schien er aber völlig harmlos, also akzeptierten wir seine Behauptungen als Teil von ihm, wie Sandys Brille oder Wills jungenhaftes Grinsen. Er hatte eine reiche Familie, mit der er genauso wenig anfangen konnte wie sie mit ihm. Ab und zu ging er nach Hause, aber meistens lebte er irgendwo im French Quarter – bei einem Freund, in einer leeren Wohnung, manchmal auch in einer alten Kirche. Im Moment wohnte er im Probenraum, genau wie ich.

Er hatte seinen Namen unserer Band zu verdanken. Eigentlich hießen wir Devil’s Mouth – weil der Teufel Ash die Texte einflüsterte, wie er behauptete. Aber eines Tages kamen Ash und Will auf die Idee, ein Bandplakat zu malen. Völlig bekifft, wie sie beide waren, vergaßen sie das „u“ und schrieben nur „Devil’s Moth“. Das erschien uns allen ein passender Name für Ash, der vorher anders hieß. Aber der alte Name hatte sich nie wirklich wie seiner angefühlt. Sandy war es, die uns erzählte, dass die Totenkopfmotte, die man auch Teufelsmotte nannte, auf Latein Acherontia Atropos heißt. So war Achéron für unseren Sänger und Texter  geboren, und Devil’s Moth für die Band.

Meistens hingen wir im Probenraum herum, rauchten Pott oder tranken Absinth mit absonderlichen Saftkombinationen. Hin und wieder übten wir: Sandy auf ihrem alten Keyboard, Will auf seinem neuen Drumkit, ich auf meinem vertrauten Bass und Ash mit seiner Gitarre. Meistens musste ich singen, obwohl Ash die bessere Stimme hatte. Ich hatte sie ein paar Mal gehört – eine samtweiche Stimme, Honig über Flusskieseln, hell und dunkel zugleich.  Aber er wollte nie singen, und an jenem Abend fanden wir alle heraus, warum.

Wir hatten einen Auftritt in einer schummrigen Kneipe im Quarter. Meistens hingen dort nur abgewrackte Drogensüchtige oder müde Huren herum, aber heute hatte sich eine erstaunlich große Menge junger Menschen in fantastischen Kostümen versammelt. Lange Kleider aus dem vorletzten Jahrhundert, Gehröcke, Zylinder; aber auch Netzstoffe, die die blasse Haut nur unzureichend bedeckten, lackierte Masken, hartes dunkles Leder, tiefroter Samt. Devil’s Moth hatte sich einen Ruf gemacht unter diesen Kindern der Nacht, und heute waren sie gekommen, um uns zu sehen, zu tanzen und zu vergessen, was ihnen an dieser Welt nicht gefiel.

Ash war nervös. Er murmelte unablässig vor sich hin, ab und zu gestikulierte er wild und abgehackt, nur um seine Hände einen Augenblick später wieder hart zu umklammern. Ich dachte, er wäre so aufgeregt, weil er singen musste – ich hatte mir meine Stimme bei einem anderen Konzert ziemlich kaputt geschrien und brachte keinen Ton heraus.
Kurz bevor es los ging, kam er zu mir und stieß leise hervor: „Neil, das ist keine gute Idee… ich sollte nicht singen.“ Seine Augen waren geweitet und irrlichterten seltsam, aber ich schob das auf den Roten Absinth, den wir vorher getrunken hatten.
„Das klappt schon“, krächzte ich und grinste aufmunternd. „Komm schon, du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.“
Ash wurde noch ein bisschen blasser. „Du verstehst nicht, Neil…“, flüsterte er. „Ich… der Teufel…“ Er verstummte jäh und blickte ängstlich zur Seite. „Es wird etwas passieren.“
„Ja“, sagte ich und zwang einen munteren Ton in meine Stimme. Ash war noch nie besonders stabil gewesen, aber heute jagte er mir beinahe Angst ein. Aber wovor?, fragte ich mich selbst. Vor seinem Teufel?  „Wir werden das beste Konzert in der ganzen verdammten Stadt geben, das wird passieren! Komm schon – wenn der Teufel in deiner Stimme wohnt, mein Freund, dann benutz ihn. Lass ihn raus, Achéron, sonst wirst du ihn nie los!“
Mit diesen Worten schob ich ihn auf die Bühne. Er sah mich unsicher an, nickte dann aber und griff zu seiner Gitarre.

Bis heute wünschte ich mir, ich hätte das nicht zu ihm gesagt.

Wir spielten. Und wir waren gut. Verdammt gut. Selbst die falschen Töne wirkten geplant. Wir waren noch nie, noch nie so gut gewesen. Ashs Stimme war am Anfang noch zögernd gewesen, aber nach dem ersten Lied verlor er jede Zurückhaltung und grölte, schrie, schmeichelte und tobte wie eine Furie über die Bühne. Das Licht in dem rauchigen, düsteren Raum schien sich um ihn zu sammeln und ihn zum Leuchten zu bringen. Die Menge jubelte ihm frenetisch zu und tanzte wie besessen.

Nach dem dritten Lied merkte ich, das etwas nicht stimmte. Will hinter uns schlug auf seine Trommeln ein, als wollte er die Welt zerschlagen, Sandy hatte ihre Brille irgendwo verloren und irgendetwas wollte, dass ich meine Finger an meinen Saiten blutig schlug. Das Licht um Ash hatte eine ölige, unwirkliche Färbung angenommen und seine Stimme war tiefer, als sie sein sollte. Der schimmernde Glanz rief ein atavistisches, namenloses Entsetzen in mir wach.

Wir spielten weiter. Meine Finger waren voller Blasen. Will hatte sein Drumkit zerschlagen und schlug jetzt mit Händen, Beinen und Kopf nach allem, was ihm geeignet erschien, ein neues Geräusch zu erschaffen. Sandys Hände rasten über das Keyboard, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch sie ihr Instrument zerstören würde.
Die Menge war wie ein gefangenes wildes Tier, wie ein einziger zuckender Leib. Ich sah ein Mädchen fallen, ein zartes, feenhaftes Ding, und die Menge sprang über sie hinweg. Sie stand nicht wieder auf. Ash – Achéron – stand im Zentrum dieses unnatürlichen Sturms aus Tönen und Wahnsinn. Sein Mund gab wilde Laute von sich, und seine Hände fuhren über den Hals der Gitarre, als würde er mit ihr kämpfen und einen Punkt suchen, an dem er sie verletzten konnte.

In diesem Moment wusste ich, dass es den Teufel wirklich gibt. Ich konnte ihn ganz klar hinter Ashs aufgerissenen Augen lachen sehen. Ich versuchte, gegen ihn anzukämpfen, aber ich war zu schwach, zu klein, zu hilflos. Ich wusste, dass wir alle sterben oder wahnsinnig werden würden.

Plötzlich, ein dumpfer Schlag. Dann Stille. Bevor ich das Bewusstsein verlor, sah ich Ash auf dem Boden knien, seine zerschmetterte Gitarre neben ihm.

Ich träumte wirre, unzusammenhängende Träume. Ein krampfhaft schlagendes Herz. Eine rauchige Frauenstimme. Altes Pergament im Feuer. Und überall der Geruch nach Rotem Absinth.

Das Aufwachen war mühsam. Als würde ich mich durch zähflüssiges Wasser nach oben kämpfen.

Schließlich öffnete ich meine Augen. Ich war einer der ersten, die wieder zu sich kamen. Um uns herum lagen die Scherben und Überreste der Einrichtung. Der Instrumente. Und mehr als ein Körper, der sich nie wieder regen würde. Will, sein goldenes Haar blutverklebt. Er hatte versucht, den Rhythmus mit seinem Kopf gegen eine Betonsäule zu hämmern. Immer wieder.

Ash kauerte immer noch auf dem Boden. Atmete schwer. Sein Mund war blutig. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben, um den Gesang zu durchbrechen.
Mühsam stand ich auf und ging vorsichtig um ihn heraus. Ich konnte das widerliche, ölige Licht immer noch auf seiner hellen Haut sehen. Ich wollte hier nur noch raus, weg aus dem Club, weg von ihm, vor allem weg von ihm. Aber nicht ohne Sandy.

Sie war bewusstlos, aber noch am Leben. Ich hob sie behutsam hoch und trug sie nach draußen, auf meinen schmerzenden, blutigen Händen.

Wir sind nie wieder zurückgegangen zum Probenraum. Oder zu Ash. Ich weiß, dass es nicht seine Schuld ist. Ich weiß, dass er uns alle gerettet hat. Und ich würde gern sagen, dass ich für meinen Freund selbst mit dem Teufel kämpfen würde – aber ich weiß jetzt, dass ich nicht stark genug dafür bin. Es tut mir leid, Achéron. Es tut mir leid.

Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
The best lack all conviction, while the worst are full of passionate intensity.

Korrekter Imperativ bei starken Verben: Lies! Nimm! Gib! Tritt! Stirb!

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #4 am: 26.09.2012 | 20:17 »
A Song to Say Goodbye

Sway

Mein Name ist Achéron Sauvageau.  Ihr könnt mich Ash nennen. Dies ist meine Geschichte.

Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Mutter, dass Vater uns nicht liebt. Das ist meine Schuld, sagte sie, weil der Teufel in mir ist. Der Teufel sagt mir das Gleiche. Seit dem Tag, an dem ich im Labyrinth umherirrte, kann ich ihn hören. Ich glaube, Mutter hörte ihn auch.

Sie hat sich umgebracht, als ich dreizehn war. Danach gehörte ihre Seele dem Teufel. Manchmal lässt er es zu, dass sie mit mir spricht, aber ich höre mit der Zeit auf, ihr zuzuhören. Sie hat so viele Regeln aufgestellt, an die ich mich halten musste, aber keine davon hat mir je gegen den Teufel geholfen. Manchmal glaube ich, sie war wahnsinnig. Manchmal glaube ich sogar, sie ist schuld daran, dass ich wahnsinnig geworden bin.

Nein, da tue ich ihr unrecht. Ich war nicht stark genug, um dem Teufel zu widerstehen. Ich war zu schwach, um den Teufel zu vertreiben.

Aber ich war doch noch ein Kind. Vielleicht hätte mir jemand helfen können. Mutters Regeln und Strafen haben das nie getan. Nicht mal, als sie mich in der Badewanne unter Wasser hielt. Oder als ich die Treppe hinunterfallen musste.

Trotzdem: Sie wollte mir nur helfen. Sie war wenigstens da. Vater war nie da. Sogar als ich nach dem Sturz von der Treppe im Krankenhaus lande, muss er dringend nach New York. Aber er schickt mir einen Teddy. Der Teufel macht sich einen Spaß daraus, durch diesen Teddy zu mir zu sprechen.

Vater hat wieder geheiratet. Seine neue Frau mag mich nicht. Oder ich mag sie nicht. Ich weiß nicht, wie das angefangen hat. Sie will, dass ich zu einem Psychiater gehe. Aber das nutzt überhaupt nichts. Psychiater werden dafür bezahlt, dass sie nicht an den Teufel glauben.

Die neue Frau hat eine Tochter. Meine kleine Schwester. Audrey. Ich mag sie auch nicht, bis ich sie singen höre. Nur ein Kinderlied. Mutter hat nie gesungen. Sie sagte, Musik sei vom Teufel.
Audrey bringt ein Klavier mit. Ich fange an, darauf zu spielen. Das gefällt dem Teufel. Er liebt es, wenn ich Musik mache. Wenn ich für ihn spiele, lässt er mich für eine Weile in Ruhe. Nicht sehr lang, aber eine Weile.

Seither mag ich Audrey. Sie mag mich auch. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht wegen der Musik.

Ich werde älter. Ich finde heraus, dass ich den Teufel nicht mehr so gut höre, wenn ich trinke. Dass ich klarer denken kann, wenn ich Marihuana oder andere Drogen nehme. Ich laufe von zu Hause weg, wieder und wieder. Im French Quarter finde ich immer etwas, was meinen Kopf klarer macht. Manchmal geben mir Menschen Geld, wenn ich Musik mache.
Einmal gibt mir ein Mann sogar ein Akkordeon. Er will mir beibringen, wie man es spielt, wenn ich bei ihm wohne und in seinem Bett schlafe, aber ich finde es allein heraus. Es ist nicht so schwierig.

Vater gefällt das alles nicht. Er will einen Sohn, der so ist wie er. Der sich für Reichtum und Macht interessiert. Er befiehlt mir, in die Schule zu gehen, keinen Alkohol zu trinken, nicht einfach irgendwo im French Quarter zu schlafen. Ich versuche, ihm zu gehorchen. Aber dann wird die Stimme des Teufels zu laut in meinem Kopf und es geht nicht mehr. Ich muss weg. Ich verstehe ohnehin nicht, was ich in der Schule soll.

Vielleicht wäre alles besser gekommen, wenn ich ein gehorsamer Sohn gewesen wäre. Wenn ich versucht hätte, so zu sein wie Vater. Vater war immer so stark. Ich, ich war immer viel zu schwach.

Es ist nicht immer sicher im Quarter. Leute werden überfallen oder verhaftet. Aber ich überlebe, und es gibt Tage, da ist es nicht furchtbar. Ich finde Freunde. Eine Band.

Der Teufel spricht immer noch mit mir. Er liebt meine Musik, meine Stimme. Vor allem meine Stimme. Er will, dass ich für ihn singe. Ich trinke Chartreuse, Absinth, Bourbon, was mir in die Finger kommt. Manchmal höre ich ihn eine ganze Woche nicht mehr.

Manche Sachen kann ich nicht. Ich sehe, wie meine Freunde sich küssen, sich berühren, sich lieben. Es gibt ein Mädchen, das sagt, sie will mich lieben, und ich will es auch, aber der Teufel lässt es nicht zu. Später kommt ein Junge, Will, mit sanften Händen und traurigen Augen. Er berührt mich, nur ganz kurz, und der Teufel schreit so laut, dass Blut aus meinen Ohren rinnt.

Wir geben Konzerte, meine Band und ich, und ich finde meinen Namen. Meine Mutter hat mir Vaters Vornamen gegeben, aber er passt nicht. Sandy findet den Namen einer Motte in einem Buch, und ich weiß, dass er zu mir gehört. Ich weiß auch, dass ich verbrennen werde.

Vor einem Konzert trinke ich echten Roten Absinth. Das erste Mal in meinem Leben. Dann singe ich, und der Teufel nimmt meine Stimme, meine Hände und spielt. Nicht nur mit mir. Mit meiner Band. Mit dem Publikum. Sie tanzen und schreien. Ich weiß, dass er sie alle töten will. Aber nicht mich.
Ich vertreibe ihn, aber es ist schwer, so schwer. Ich hätte nicht singen sollen.

Will, der Junge mit den traurigen Augen, ist tot. Mein Freund. Meine anderen Freunde, meine Band, fliehen vor mir. Sie verabschieden sich nicht. Sie haben Angst.

Mein Leben ist nicht mehr so gut. Ich muss mehr Drogen nehmen, härtere Drogen, um den Teufel zum Schweigen zu bringen. Manchmal nehme ich die falschen Drogen und sehe schrecklich-schöne Dinge. Einmal blicke ich in die Hölle. Danach schlafe ich tagelang nicht mehr.

Ich treffe eine Frau, Soléne. Sie ist so schön. Wir gehen in ein Hotelzimmer. Es riecht nach Lilien, ganz schwer und süß. Ihre Stimme ist wie Rauch und weicher Stoff. Ich hätte sie gern singen gehört, aber sie will etwas anderes. Sie küsst mich. Der Teufel ist ganz leise. Ich berühre sie, leicht, meine hellen Hände auf ihrer dunklen Haut. Sie beißt mich in die Schulter.
Dann ist sie etwas anderes. Nicht mehr menschlich. Katzenaugen, Krallen, spitze Zähne. Ich stoße sie zurück und renne davon. Ich denke, sie will mich fressen. Als ich in dem alten Haus am Fluss ankomme, wo ich wohne, lacht der Teufel mich schallend aus.

Audrey besucht mich. Sie ist fertig mit der Schule und will feiern. Ich soll sie begleiten, mit ihr singen. Ich will nicht singen, aber sie lässt nicht locker. Wenigstens Violine spielen soll ich.
Ich konnte ihr nie einen Wunsch abschlagen.

Der Club heißt „Le Chat Noir“. Der Teufel faucht an meinem Ohr. Oder ist das etwas anderes? Es klingt nicht so richtig wie der Teufel.
Aber ich darf nicht in den Club hinein. Falsches Outfit, sagt der Mann an der Tür. Geschlossene Gesellschaft. Ich versuche, ihm zu erklären, dass ich eingeladen bin, aber er hört mir nicht zu. Sagt, ich soll verschwinden, und droht mit der Polizei.

Audreys Auto steht nirgendwo. Ich bin sehr früh da. Vielleicht muss ich nur warten. Ich packe die Violine aus und spiele. Menschen werfen mir Münzen in den Violinkoffer.  
Auf der anderen Seite der Straße steht ein Mann und sieht mich an. Als wäre ich seine letzte Hoffnung. Er sieht arm aus, und so einsam.

Ich will ein Lied für ihn spielen, als ich merke, dass Vater vor mir steht. Sein Gesicht ist kalt und fern.
„Victor“, sagt er, „deine Schwester wartet auf dich.“ Er sieht durch mich hindurch, als gäbe es einen anderen Sohn namens Victor. Einen, der keine so große Enttäuschung ist.
„Sie haben mich nicht rein gelassen“, nuschele ich leise.
Er schüttelt unwillig den Kopf.
„Warum hast du ihnen nicht gesagt, dass du zur Familie gehörst?“
Meine Antwort wartet er nicht ab. Dreht sich um und geht weg. Gerader Schritt. Ich weiß nicht, ob ich ihm folgen soll, oder ob er lieber will, dass ich verschwinde. Ich wäre beinahe gegangen, aber ich habe es Audrey doch versprochen.

Ich klaube die Münzen zusammen und folge ihm. Der einsame Mann ist woanders, nicht in der Nähe, sonst hätte ich ihm die Münzen gegeben. Sein Blick folgt Vater. Der Teufel sagt: „Den hast du nicht das letzte Mal gesehen. Wenn du ihn das letzte Mal siehst, dann gehörst du mir.“

Ein Auto hält vor dem Club. Laute Musik, dröhnender Herzschlag. Der Motor geht aus, die Musik auch, aber das Herz klopft noch einen Moment weiter.
Ein junger Mann steigt aus, kräftig, schwarz. Ich kenne sein Gesicht. Antoine. Junge aus einer Gang. Ich habe ihm mal ein Paket gebracht. Er will in den Club, aber der Mann an der Tür lässt ihn nicht rein. Ich mag den Mann an der Tür nicht.

„Er geht auf Audreys High School“, sage ich ihm. Es ist gelogen. Mutter hätte mich die ganze Nacht Gebete sprechen lassen, bis meine Stimme rau vor Durst gewesen wäre. Vielleicht noch länger. Ich soll nicht lügen.
Aber Mutter ist tot, und ich höre den Teufel gerade nicht. Nicht mal ein bisschen.

Der Mann an der Tür zögert, aber er lässt Antoine durch. Antoine nickt mir zu. Wir gehen gemeinsam die Treppe hinunter.

Der Club ist leer. Freie Tische überall. Nur Vater sitzt schon da. Hält sich steif und gerade. Wirft mir keinen Blick zu. Hätte ich doch besser gehen sollen?
Dann sehe ich sie. Soléne. Die Katzenfrau. Mein Herz schlägt schneller. Was habe ich da gesehen in dem Hotelzimmer? Sind es nur die Drogen gewesen? Habe ich sie verletzt, als ich sie wegstieß? Ich weiche zurück. Stoße gegen Antoine.
„Sei vorsichtig“, flüstere ich ihm zu. „Sie ist nicht richtig.“
Er sieht mich an. Verwirrt. Er versteht nicht.
„Sie ist kein Mensch“, sage ich eindringlich. Dann denke ich an die Drogen. Kann ich so sicher sein? „Vielleicht“, füge ich hinzu.
Er zuckt die Schultern.
„Ich will nichts von der“, sagt er, aber sein Blick fängt sich an ihrem Dekolleté. „Ich will nur zur Besitzerin.“
Die kenne ich nicht. Dachte ich.

Soléne gleitet auf uns zu. Hohe Schuhe. Wiegender Gang. Ich weiche zurück. Meine Schulter brennt plötzlich, wo sie mich gebissen hat.

„Victor“, sagt sie mit dieser Rauch-auf-Samt-Stimme. „Geh nach oben, deine Schwester wartet schon.“ Sie kennt den falschen Namen. Im Hotelzimmer hat sie mich Achéron genannt.

Ich fliehe zu Audrey. Sie ist nervös. Hat Angst, falsch zu singen. Ich verstehe sie nicht. Oder vielleicht doch. Es ist immer falsch, wenn ich singe.
Sie kennt Soléne. Nennt sie ihre Freundin.
„Sei vorsichtig“, sage ich. „Sie ist… sie ist etwas Seltsames.“
„Was meinst du denn?“, fragt Audrey. Und: „Bist du dir sicher? Sie ist meine Freundin.“
Nein, bin ich nicht. Vielleicht waren es ja nur die Drogen.
„Ich glaube, sie ist kein Mensch“, versuche ich, zu erklären. Aber Audrey sieht nicht aus, als würde sie mir glauben. Sie lacht, um abzulenken, und weil sie Angst hatte, nach draußen zu gehen. Das beruhigt mich irgendwie. Dass auch andere Menschen als ich Angst davor haben, falsch zu singen.
„Schön siehst du aus“, sage ich, obwohl ich von den schimmernden Pailletten auf ihrem Kleid Kopfweh bekomme. Sie lächelt und dreht sich im Kreis, um ihr Kleid zum Leuchten zu bringen. Mir wird schwindlig, aber ich lasse sie es nicht sehen.

Sie geht auf die Bühne. Ich höre das Flüstern des Teufels an meinem Ohr. Fast wäre ich davongelaufen. Aber es ist Audrey, also folge ich ihr.
Sie steht nur da. Ich verstehe erst nicht, warum, aber dann wird mir klar, dass sie Angst hat. Angst, vor den Augen aller etwas Schlechtes zu tun. Ich nehme meinen Mut zusammen und will zu ihr gehen, als der Teufel krächzt: „Sei bloß vorsichtig, kleine Motte, dass du nicht an ihr verbrennst.
Ich bleibe stehen.

Aber Vater sitzt in der ersten Reihe und lächelt ihr zu. Sein Gesicht ist so ruhig und weich, dass ich einen Moment lang denke, er wäre jemand anderes. Aber dann sieht er mich, sein Gesicht wird härter, seine Augen kälter, und ich erkenne ihn wieder. Ich bin erleichtert, aber es tut auch weh.

Audrey atmet durch und fängt an zu singen. Ich falle ein. Das Lied heißt „Sway“. Ich habe es mal im Radio gehört. Der Teufel summt mit, ganz leise. Er kann nur einen einzigen Ton summen, aber der ist grauenhaft. Das zweite Lied. Die Leute sehen entspannt aus. Audreys Stimme gewinnt an Gewicht. Manchmal übertönt sie sogar den Teufel. Ich glaube, das macht ihn wütend.

Der einsame Mann sitzt im Publikum, zusammen mit Antoine. Seine Augen sehen so verletzt aus, als er Audrey anschaut. Er tut mir leid.

Dann tritt Audrey nach vorn. Sie spricht von ihrem Papa und sieht Vater an. Er lächelt. Wieder dieses fremde Gesicht. Ich trete zurück, in die Schatten. Ich will nicht, dass er mich sieht und wieder zu Stein wird.
Audrey dreht sich um und schaut den einsamen Mann an. Sie nennt ihn Daddy und heißt ihn willkommen. Ich erinnere mich, dass ihre Mutter einen anderen Mann hatte, bevor sie Vater kennenlernte. Er war nutzlos, hat mir jemand erzählt. Ein schlechter Mann, ein schwacher Mann.
Er sieht nicht aus wie ein schlechter Mann. Schwach, vielleicht. Aber bevor ich ihn näher betrachten kann, spricht Audrey über mich. Sie bedankt sich bei mir, dass ich mit ihr gespielt habe, und mit jedem Wort spüre ich, wie der Klumpen Angst in meinem Magen größer wird.
„Ich habe eine Überraschung für dich“, hat sie mir vorher gesagt. Mutter hatte auch manchmal Überraschungen. Es endete immer damit, dass sie mich bestrafen musste. Immer.

„Mein Bruder ist ein Künstler“, sagt Audrey. „Er hat ein Lied geschrieben, das ich heute für euch singen werde.“ Nein, Audrey. „Es heißt: Le rêve dernier.“
Ach, Schwester. Was hast du nur getan? Das Lied gehört doch dem Teufel. Wie fast alle meine Lieder, aber dieses besonders. Was denkt sie denn, was das heißt, „Il attend aprés moi a l’heure du laitier/ le roi de marais avec la main fiévreuse?“ Was glaubt sie, wer der König des Sumpfes ist?
« Letzte Änderung: 26.09.2012 | 22:04 von Bad Horse »
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #5 am: 26.09.2012 | 20:17 »

Fast verpasse ich meinen Einsatz. Was soll ich nur tun? Sie sehen mich alle an. Vaters eisige Augen. Will er sehen, wie ich versage? Lauter blonde Mädchen, Audreys Freundinnen. Kichernd und schwatzend. Antoine, sein dunkler Blick im Schatten. Hinten an der Bar, das Raubtier Soléne.
Der einsame Mann. Audreys Daddy. Timothy. Starrt krampfhaft nach oben, um Vaters bohrenden Blicken auszuweichen. Ich verstehe, dass das Eis diesmal nicht mir gilt.

Ich hebe die Violine, als Audrey anfängt, zu singen. Meine Hände beginnen, über den Hals zu huschen, hierhin, dahin zu springen. Aber der Teufel kennt das Lied schon. Es ist doch schon seins. Er sucht eine andere Beschäftigung, spricht über Audrey, über Timothy. Über Will und die süßen, unschuldigen Mädchen im Publikum. Was er mit ihnen machen könnte.
Ich spiele schneller. Wilder. Alles, um den Teufel zurück zu locken. Unerwartete Töne, die sich nahtlos einfügen. Komm zu mir, rufen sie. Hör mir zu.

Schweiß läuft mir in die Haare. Das Publikum verschwimmt vor meinen Augen. Selbst Audreys Stimme ist nur ein dünnes, schwaches Dröhnen. Nur ich und der Teufel. Immer droht er, aufzuspringen, die Musik zu benutzen, Unheil anzurichten und die Worte des Liedes wahr zu machen. Jedes Mal rufe ich ihn zurück. Manchmal kann ich das. Manchmal ist meine Musik stärker als er. Aber der Preis ist hoch, so hoch. Um ihn zu mir zu ziehen, muss ich ihm einen Teil von mir geben. Das Lied hat er schon, was wird er diesmal nehmen?

Du gehörst mir, kleine Motte“, flüstert er. „Bald schon, sehr bald.“ Seine Stimme vermischt sich mit dem Applaus der Menge. Ich stolpere mühsam von der Bühne. Meine Beine zittern. Ich muss mich hinsetzen. Die ganze Zeit plaudert der Teufel davon, was er mit mir machen wird, wenn ich erst in seiner Gewalt bin.

Audrey kommt, als ich mit dem Teufel spreche.
„Nein“, sage ich. „Nein, nein. Hör doch bitte auf.“ Wenn ich genug flehe, lässt er mich nach einer Weile in Ruhe.
Meine Schwester setzt sich neben mich.
„Ash?“, sagt sie. „Was ist denn los mit dir?“
Ich schüttele nur den Kopf. „Der Teufel…  das Lied gehört doch dem Teufel… er ist wütend.“
Sie umarmt mich.
Dann knurrt sie leise: „Lass ihn in Ruhe!“
Sie spricht nicht mit mir. Sie spricht mit dem Teufel. Der lacht sie aus.
Was für ein schönes kleines Lämmchen, so weiß und weich und innen noch ganz roh…“, säuselt er.

Ich stoße sie weg.
„Sprich nicht mit ihm, Audrey“, sage ich. „Du darfst nicht mit ihm sprechen!“
Sie weiß nichts von der Gefahr. Sie will mich nur beschützen.
„Wenn ich den Teufel nur einmal in die Finger bekäme…“, droht sie.
Du wirst schon sehen, was dann passiert, Lämmchen“, droht der Teufel zurück.

Ich renne davon und nehme den Teufel mit. Ich weiß nicht, wie ich das mache, aber manchmal hat er keine Wahl, als mir zu folgen. Taumelnd gelange ich zur Bar und nehme mir eine Flasche Bourbon. Ich setze mich zu dem einsamen Mann. Zu Timothy. Audreys Daddy. Vielleicht kann er sie beschützen.

„Audrey hat mit dem Teufel gesprochen“, sage ich zu ihm.
„Das ist nicht gut“, antwortet er. Er glaubt mir. Ich sehe, dass er den Teufel selber schon kennt.
„Es tut mir leid“, sage ich. „Es ist meine Schuld… der Teufel spricht mit mir, und sie wollte mir helfen.“

Bevor Timothy mir antworten kann, fällt ein kalter Schatten über uns. Vater. Er ist gekommen, um mit Timothy zu reden. Mich sieht er nicht an. Gut. Ich trinke noch einen tiefen Schluck Bourbon und gehe. Der Teufel ist leiser geworden, und es gibt noch eine Frage, die ich stellen muss.

Ich finde Soléne weiter hinten im Club. Ihr Büro ist verwüstet. Das Bücherregal ist umgestürzt, als wäre jemand dagegen geworfen worden. Sie räumt auf. Ihr Gesicht ist kühl, aber ihre Finger sind rastlos.

„Ich muss dich etwas fragen“, sage ich, und dann schnell, bevor mich der Mut verlässt: „Arbeitest du für den Teufel?“
Soléne fährt herum. Das Buch, das sie hält, fällt ihr aus den Fingern.
„Wie kommst du darauf?“, faucht sie mich an. Sie ist wütend. Empört. Ihre goldenen Katzenaugen funkeln.
Sie tritt einen Schritt auf mich zu. Ich weiche zurück.
„Tut mir leid“, sage ich leise. „Ich dachte nur… ich habe das nicht verstanden.“
„Was hast du nicht verstanden?“ Ihre rauchige Stimme ist harsch.
Ich zögere. „Warum du mit mir… warum du mit jemandem wie mir schlafen wolltest…“
Sie starrt mich einen Moment lang an, dann lächelt sie langsam. Raubtierlächeln über Raubtierzähnen. Mit wiegendem Schritt kommt sie auf mich zu.
„Es gibt da etwas sehr Wertvolles, was du mir geben kannst“, schnurrt sie. „Etwas, das mir sehr viel bedeutet.“
Ich erstarre unter ihrem Blick. Wie ein hilfloses Beutetier.
„Meine Seele?“, stoße ich hervor. „Die kannst du nicht haben.“
Nein, die gehört mir, kleine Motte.“ Der Teufel ist wieder da.
Soléne lacht nur. „Was soll ich mit deiner Seele? Die kannst du behalten.“ Sie steht direkt vor mir, ich weiche zurück. Hinter mir ist die Wand.
Willst du sie? Ich kann sie dir geben“, bietet der Teufel an. „Wie ein kleines Kätzchen.
Ich schüttele den Kopf. „Nein“, sage ich, aber er hört mir gar nicht zu.
Dann kannst du ihr den Hals umdrehen… weißt du noch, wie viel Spaß das gemacht hat?
„Das ist nie passiert“, murmele ich. Das hat der Teufel erfunden. Ich habe nie einer kleinen Katze den Hals umgedreht. Ich weiß nicht, wie sich das weiche Fell anfühlt, ich habe nie das Knacken der zarten Knochen und das Rauschen des nahen Flusses gehört. Es ist nicht wahr.
Dann spiel für mich, kleine Motte“, zischt er. „Spiel für mich, oder es wird noch passieren. Nicht nur mit diesem kleinen Kätzchen!“  Seine Stimme bewegt sich auf Soléne zu.
Er kann mich nicht dazu bringen, ihr weh zu tun, aber was kann er mit ihr machen? Sie ist kein Mensch, aber macht sie das schwächer oder stärker?
Oder vielleicht magst du sie ja? Willst du sie nehmen? Hier und jetzt? Was wirst du tun, wenn sie dich packt und auf ihren Schreibtisch wirft?“ Der Teufel lacht.
Mir wird übel bei der Vorstellung. Plötzlich will ich nur noch hier weg. Soléne soll mich nicht anfassen.
Panisch nicke ich.
„Einverstanden, einverstanden“, sage ich. „Ich mache, was du willst, aber lass sie in Ruhe. Lass sie alle in Ruhe!“ Draußen sind immer noch Audrey und ihre Freundinnen. Timothy. Und Vater.
Spiel für mich, spiel meine Lieder“, zischte der Teufel. Ich laufe los.

Im Club stellt sich Vater in meinen Weg.
„Ich muss mit dir sprechen, Victor“, sagt er. Kalte Stimme, perfekter Anzug. Manchmal frage ich mich, wie ich sein Sohn sein kann.
„Das ist nicht mein Name“, widerspreche ich, aber nur leise. Mutter hat immer gesagt, dass ein Kind seinen Eltern nicht widersprechen darf.
Vater ignoriert meine Worte. „Ich will, dass du nach Hause kommst.“
Ich bin verwirrt. Nach Hause? Was meint er? Wo soll ich hingehen? Vielleicht will er nur, dass ich den Club verlasse.
„Ich habe kein Zuhause“, sage ich, ohne ihn anzuschauen. Ich wohne in dem verlassenen Haus am Fluss, aber das ist kein Zuhause.
„Du hast immer ein Zuhause“, meint er streng. „Komm heim.“
Du bist in der Hölle zu Hause“, kichert der Teufel. „Komm heim.
„Ich will da nicht hin“, sage ich ängstlich, zu Vater, zum Teufel.
„Junge“, seufzt mein Vater. Sein Gesicht ist ungeduldig. „Ich möchte, dass du nach Hause kommst. Dann können wir über alles reden.“
Junge“, seufzt der Teufel. Seine Stimme klingt wie Vaters Echo. „Ich möchte, dass du für mich spielst. Dann können wir über alles reden.
Ich schüttele stumm den Kopf und versuche, mich an Vater vorbei zu drängen, aber er bewegt sich ein Stück in meinen Weg. Ich will ihn nicht berühren. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je berührt zu haben.
„Stell dich nicht so an. Ich weiß wirklich nicht, was mit dir los ist. Komm einfach.“
Stell dich nicht so an. Ich weiß wirklich nicht, was mit dir los ist. Spiel einfach.
Ich kann die beiden Stimmen nicht mehr unterscheiden. Ich nicke kraftlos.
„Einverstanden“, sage ich zu beiden. „Einverstanden.“
Vater geht aus dem Weg. Ich fliehe hinaus aus dem Club, hinaus in die Nacht, zum Fluss. Weg von den Menschen, soweit ich kann.

Dann spiele ich für den Teufel, bis meine Finger bluten und meine Violine zerbricht.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #6 am: 26.09.2012 | 20:19 »
Le Rêve Dernier

Als es endlich vorbei ist und der Teufel müde und satt vor sich hin summt wie eine alte Fliege, krieche ich zurück in die Stadt. Jemand schenkt mir eine Flasche alten Rotwein, muffig und stinkend, und ich trinke ihn hinunter. Danach ist es besser. Ich kaufe mir eine Flasche Kräuterbrand und trinke ihn, nicht viel langsamer. Langsam hört das Kreischen in meinem Kopf auf. Ich kann wieder gerade laufen, zumindest ein Stück.

Auf einer Parkbank treffe ich Antoine. Er ist betrunken, genau wie ich. Ich setze mich zu ihm. Er starrt meine Hände an.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragt er undeutlich.
Ich zucke die Achseln. „Ich habe für den Teufel gespielt.“ Meine eigene Stimme klingt schwer und belegt. Ich nehme einen Schluck aus dem Kanister mit Moonshine, die ich irgendwo gefunden habe.
„Das ist krass, mit dem Teufel“, entgegnet er. Aber er wirkt nicht ungläubig. Nur abgelenkt.
„Was ist denn los mit dir?“, frage ich. Er wirkt, als wollte er reden.
Will er auch. „Ich habe meine Mutter gesucht… weißt du, ich bin adoptiert.“ Er lacht bitter. „Aber ich habe nicht das gefunden, was ich erwartet habe.“
„Mütter sind schwierig“, stimme ich ihm vorsichtig zu. Ich frage mich, wie ich wäre, wenn ich Mutter nicht gekannt hätte. Wäre ich dann mehr wie Vater?
Er hat eine halbvolle Flasche Whiskey dabei und nimmt abwesend einen Schluck.
„In letzter Zeit sind so komische Sachen passiert“, fängt er zögernd an. „Also… Kram halt, okay?“
„Kram?“ Ich weiß nicht so recht, was er meint. Er weiß es wohl auch nicht.
„Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen sollte“, sagt er. „Du hältst mich nur für verrückt.“
Ich zucke die Schultern. „Ich bin verrückt“, meine ich sachlich. „Ich rede mit dem Teufel, erinnerst du dich?“
Er schaut mich unsicher an. So, als würde ich ihn vielleicht belügen. Dann gibt er sich einen Ruck.
„Also… da war diese Gang, die hinter mir her war“, fängt er an. „Ist ja egal, warum. Die wollten mich fertig machen, und ich rannte, so schnell ich konnte. Aber die waren mehr, und sie ließen nicht locker… ich rannte blindlings, keine Ahnung, wohin, bis ich nicht mehr konnte und mich in eine Einfahrt drückte… keine Chance, dass die mich nicht sehen würden, aber ich hab halt irgendwie gehofft, dass sie woanders lang rennen.“ Er nimmt noch einen Schluck und atmet tief durch. „Aber die standen da direkt vor mir, haben mich gesucht… Alter, ich sag dir, die hätten mich sehen müssen.“ Er schüttelt ungläubig den Kopf. „Haben sie aber nicht. Als wär ich unsichtbar oder so was gewesen.“
Er will noch einen Zug aus seiner Flasche nehmen, aber sie ist leer. Kommentarlos biete ich ihm von dem Moonshine an, und er trinkt einen Schluck. Hustet ein bisschen.
„Ich wusste schon eine Weile, dass ich adoptiert bin“, fährt er fort. „Hat mich nie interessiert, wer meine biologischen Eltern waren… die wollten mich ja nicht.“
Ich erwarte einen Kommentar des Teufels. Dass meine Eltern mich ja auch nicht wollten, dass ich in Wirklichkeit sein und nicht Vaters Sohn bin. Aber es kommt nichts. Da, an der Stelle, an der der Teufel sonst sitzt, ist es ganz ruhig. Kein Geräusch, kein Rascheln, kein Flüstern, nichts. Nur Stille.

Verwirrt nehme ich einen großen Schluck Moonshine. Aber daran liegt es nicht. Ich glaube, es liegt an Antoine.

Er redet immer noch. Ich habe gar nicht zugehört. Unwillkürlich ducke ich mich. Ich muss zuhören, wenn die Leute mit mir sprechen. Sonst werden sie wütend. So wie Vater, mit seinem kalten Blick. Oder Mutter, mit ihren kalten Händen.

„…und dann habe ich herausgefunden, dass meine Mutter einen Club hat, ‚Le Chat Noir‘“, erzählt Antoine gerade. Ich erinnere mich. Er hat gesagt, dass er die Besitzerin sprechen will.
„Dann hab ich nach Soléne leGuir gefragt, und…. Du hast die doch gesehen, die sah doch nicht aus wie meine Mutter, oder?“ Soléne ist seine Mutter? Oh.
Er ist so aufgebracht, dass ich mich nicht auf meine eigenen Gedanken konzentrieren kann. Vorsorglich nehme ich noch einen Schluck Moonshine. Soll ich ihm erzählen, dass ich fast mit ihr… soll ich ihm von dem Hotelzimmer erzählen, oder ist das unangemessen? Ich habe keine Ahnung.
„Ich meine, sie ist so… heiß“, seine Hände zeichnen ihre Körperformen nach. Seine Augen starren mich ratlos an.

Ich nicke. „Ja“, stimme ich zu. „Sie ist sehr schön.“
Er schüttelt den Kopf.
„Ich kann das nicht fassen“, sagt er und nimmt mir den Moonshine weg. „Sie ist so… ich meine… wie geht denn das?“ Er nimmt einen tiefen Schluck, setzt ab und schaut den Plastikcontainer respektvoll an.
„Ich hab doch gesagt, sie ist kein Mensch“, werfe ich zaghaft ein. Einen Moment lang starrt er mich an, und mir wird bewusst, dass er viel größer und stärker ist als ich.
Aber er sagt nur verwundert: „Sie… du hattest recht, sie hat etwas mit mir gemacht, mich festgehalten oder… irgendwie…  aber ich hab sie abgeschüttelt. Weggestoßen. Ich weiß nicht, wieso ich das konnte.“ Er nimmt noch einen Schluck. Scheint ihm zu schmecken.
„Hast du das Büro so verwüstet?“, frage ich. Vorsichtig. Aber auch neugierig. Und ich will auf jeden Fall, dass er da bleibt. Vielleicht ist es der Moonshine, der den Teufel fern hält, aber ich glaube, es liegt an ihm. Was auch immer er ist, der Teufel traut sich nicht in seine Nähe.
Antoine nickt betreten. „Ich wollte da nur weg… ich meine, sie war so…“, seine Hände fahren durch die Luft. Vielleicht will er ein Wort fangen. „…so heiß.“
Wir schweigen einen Moment. Beide in unserer Vorstellung von Soléne gefangen. Ich hätte sie nicht ‚heiß‘ genannt, dazu sind ihre Augen zu kalt, zu herzlos. Aber ich verstehe, was er meint. In ihr schläft etwas, wie ein gefangenes Feuer. Wie eine Glut unter der Asche.

„Wieso kann ich sowas?“, fragt Antoine mich. „Mich unsichtbar machen, Leute durch die Gegend werfen… mit meinen Gedanken… was bedeutet das? Ist das der Teufel?“
„Nein, nicht der Teufel“, sage ich bestimmt. Den kenne ich. Der fühlt sich anders an. Selbst wenn er freundlich sein will, klingt er überhaupt nicht wie Antoine. „Ich denke, du bist auch nicht ganz menschlich.“
„Ich bin ganz normal“, antwortet er schnell. Wie aus der Pistole geschossen. Als hätte er das schon oft gesagt.
„Deine Augen sind anders“, sage ich. Das fällt mir jetzt gerade auf, unter dem Mondlicht, mit dem Moonshine in meinem Bauch. Ohne die Stimme des Teufels an meinem Ohr. Es ist alles so friedlich. Ich lehne mich vorsichtig zurück und entspanne meine Schultern. Ein merkwürdiges Gefühl.
Antoine spürt diese Ruhe nicht. „Was meinst du, meine Augen sind anders?“, fragt er nervös, aufgebracht.
„Sie sind golden. Wie Bourbon.“

Ich muss an den ersten Bourbon denken, den ich getrunken habe. Vater hat ihn stehen lassen. Ein Anruf, etwas Wichtiges, rief ihn fort. Mutter war vor kurzem gestorben. Ich war vierzehn. Meine Ohren klingelten vom gellenden Geplapper des Teufels, aber für den Augenblick war er fort. Fasziniert streckte ich die Hand nach dem Glas aus. Die tiefgoldene Farbe zog mich an. Ich nahm einen Schluck. Er brannte sich wie Feuer durch meine Kehle. Meine Augen tränten, dann wurde mein Blick klarer. Noch ein Schluck, und das Geklingel in meinen Ohren wurde leiser. Als ich das Glas ausgetrunken hatte, war es verschwunden. Alles war ganz still und klar.
Das war das erste Mal, dass ich Vater bestahl. Ich nahm die halbvolle Flasche mit. Damals hielt sie fast einen ganzen Monat vor.

„Golden?“, fragt Antoine. „Meine Augen sind braun.“
„Nein, sie sind golden“, widerspreche ich. „Und die Pupille ist lang und geschlitzt. Wie bei einer Katze.“
Antoine schüttelt heftig den Kopf. Ich frage mich, warum. Er weiß doch längst, dass ich recht habe.
Er zieht ein langes, scharfes Messer aus der Tasche. Für einen Moment schrecke ich zurück, aber was soll er mir schon tun? Der Teufel ist nicht hier.

Aber er will mich nicht angreifen. Er will nur seine Augen betrachten. Das tut er eine Weile, dann greift er den Moonshine und trink mit großen Schlucken.
„Krass“, sagt er ungläubig und lässt sich neben mich auf die Bank fallen. „Alter.“

Wir sitzen eine Weile da und leeren gemeinsam den Container. Ich merke, dass Antoine leise einschläft. Das ist kein guter Ort dafür. Die Polizei macht hier morgens ihre Runden und sperrt alle Leute ein, die auf den Bänken schlafen. Mich auch, wenn sie mich finden.

Ich rüttle ihn sanft wach. Ich sollte ihn nach Hause bringen, aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Eigentlich will ich ihn auch gar nicht weggehen lassen. Es ist selbstsüchtig von mir, aber es ist so still in mir, wenn er da ist. Also nehme ich ihn mit zu mir. Ist ja nicht weit weg. Ich rede mir ein, dass das auch für ihn gut ist.

In dem Haus am Fluss gibt es nur eine Matratze. Ich führe ihn hin. Er kuschelt sich in meine alten Decken und murmelt irgendetwas vor sich hin, was ich nicht verstehe. Macht nichts. Ich zögere. Ich würde so gern neben ihm liegen.
Ganz, ganz langsam und vorsichtig lege ich mich hin. Warte auf die Stimme des Teufels, die mich verhöhnt. Oder auf Antoines Hand, die mich zurückstößt. Nichts davon passiert. Ich liege neben ihm. Er seufzt leicht, dreht sich im Schlaf herum und legt seinen Arm über meine Brust. Ich schließe die Augen. Nur einen Moment will ich so liegenbleiben. Nur einen Augenblick.
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #7 am: 26.09.2012 | 20:20 »
Ich wache auf. Die Sonne scheint durch die Nebelschwaden, die vom Fluss her in das Haus kriechen. Ich habe nichts geträumt. Nur geschlafen. Oder habe ich etwas geträumt? Mir ist, als wäre da eine Melodie in meinem Kopf. Ein Lied. Ansonsten ist es still. Kein Teufel, keine Mutter, niemand. Nur ich, und vielleicht ein Lied. Ich muss ganz leise lachen, weil es so schön ist.

Antoine liegt neben mir und schläft noch. Sein Gesicht sieht ganz ruhig aus. Er riecht nach Schweiß, Moonshine und ein bisschen nach Raubtier. Am liebsten würde ich ihn küssen, aber ich traue mich nicht. Wahrscheinlich würde er das nicht wollen. Stattdessen streiche ich ihm sanft über sein Gesicht.

In meinem Inneren steigen wilde Phantasien empor: Wir könnten zusammen weggehen, er und ich. Irgendwohin, wo der Teufel uns nicht findet. Gemeinsam auf einem Feld arbeiten. In einer Bar. Abends spiele ich Musik, für ihn, für andere. Ich kann sogar singen. Wir wären Freunde. Vielleicht sogar Liebhaber…
Mein Verstand zuckt zurück. Ich weiß, dass das nicht sein kann. Antoine ist keiner von denen, die einen anderen Mann als Liebhaber wollen.  Und der Teufel würde mich nicht einfach gehen lassen. Selbst wenn – was würde dann aus Audrey werden? Aus Vater? Es ist nur ein Traum, den ich habe. So ein schöner Traum.

Das Zittern meines Körpers reißt mich aus meiner Spinnerei. Es geht mir nicht gut. Liegt vermutlich an dem Moonshine. Oder am Heroin. Ich sollte das nicht nehmen. Aber gestern zu Audreys Feier wollte ich doch klar im Kopf sein. Hat nicht so recht funktioniert, aber ich glaube, ich habe es einfach zu früh genommen.
Wie paradox: Gerade jetzt, wo mein Verstand sie nicht braucht, ruft mein Körper nach den Drogen.

Ich versuche, mich stattdessen auf das Lied zu konzentrieren, das ich im Schlaf gehört habe. Aber es geht nicht. Etwas fehlt. Unruhig tasten meine Hände nach der Violine, bevor ich mich erinnere: Sie ist gestern zerbrochen. Ich stehe auf, gehe zu meinen anderen Instrumenten. Akkordeon, Gitarre, Banjo, Oboe… nein. Darauf kann ich das Lied nicht finden.

Aber Audrey hat eine Violine. Sie spielt sie nicht, aber Vater hat ihr immer alle Instrumente gekauft, die sie haben wollte. Mir hat er nie eins gekauft. Ich sollte dafür arbeiten, damit ich lerne, dass man in dieser Welt nichts geschenkt bekommt.
Die meisten meiner Instrumente habe ich geschenkt bekommen, wenn auch nicht von ihm. Nur die Violine hatte ich gestohlen.

Audreys Violine liegt im Herrenhaus. Wie soll ich dahin kommen, ohne dass der Teufel mich wieder findet? Antoine schläft immer noch. Ich will ihn nicht mitnehmen. Besser, Vater kriegt ihn nicht zu Gesicht. Außerdem schläft er immer noch so ruhig.

Es ist noch etwas Heroin da. Ich habe gestern nicht alles gebraucht. Vielleicht kann es mich heute wenigstens ein bisschen vor dem Teufel schützen. Ich kann alle Hilfe brauchen, die ich kriege. Also nehme ich einen Schuss, nicht alles, nicht so viel. Meine Hände, die die ganze Zeit gezittert haben, sind ganz ruhig, als ich es aufkoche.

Das Heroin macht auch, dass meine geschundenen Hände nicht mehr so weh tun. Gut. Ich werde sie brauchen, wenn ich Audreys Violine habe.

Bevor ich gehe, decke ich Antoine ordentlich zu. Ich stehe einen Moment vor ihm, unsicher, ängstlich, aber schließlich küsse ich ihn. Auf die Wange. Nur ganz leicht. Nur ein Hauch, aber ich kann seine Wärme an meinen Lippen spüren. Die Wärme fährt mir in den ganzen Körper, stärker als das Heroin.

Ich gehe am Fluss entlang. An einem Steg sitzt der alte Mann, der immer die Kinder mit seinen Geschichten erschreckt. Er wirft mir einen bösen Blick zu. Ich weiß, dass er mich nicht leiden kann. Keine Ahnung, warum. Ist mir heute auch egal.

Meine Schritte werden langsamer, als ich das Herrenhaus erreiche. Ich will da nicht hin. Aber ich brauche die Violine.

Im Garten treffe ich Timothy. Audreys Daddy. Er trägt eine alte Schürze und arbeitet an einem Beet. Ich erinnere mich an Vaters eisigen Blick gestern. Was hat er vor?

„Hallo, Victor“, sagt Timothy. „Kann ich mal mit dir reden?“
„Ich… ja. Aber… mein Name ist Achéron. Ash.“ Es ist das erste Mal, dass ich den Namen auf dem Anwesen sage. Ich habe das Gefühl, dass ich Timothy vertrauen kann. Vielleicht liegt es an dem verlorenen Blick in seinen Augen. Etwas in ihm ist zerbrochen, schon lange, und ich weiß genau, wie sich das anfühlt.
„Du weißt vom Teufel, nicht wahr?“ Er sieht mich durchdringend an.
Ich nicke.
„Es ist etwas vom Teufel auf diesem Anwesen…“, sagt er vorsichtig. „Etwas Böses, das Einfluss auf euch alle ausübt.“
Mir wird kalt. Er redet von mir. Mutter hat immer gesagt, dass ich vom Teufel bin.
Wieder nicke ich.
„Ich bin hier, um es zu zerstören“, erklärt Timothy. „Willst du mir helfen?“
Ich starre ihn an. Er ist hier, um mich zu töten. Jetzt. Aber… mein Lied ist noch nicht fertig.
„Bitte“, sagt er eindringlich. „Es bringt Audrey in Gefahr… willst du sie nicht auch beschützen?“
Audrey. Ja. Er hat recht. Meine Schultern sinken herab. Ich habe Angst, zu sterben. Aber es ist auch eine Erleichterung. Weiß Vater, dass Timothy hier ist, um mich zu töten?
„Ja“, sage ich leise, weil er auf eine Antwort wartet. Ich ziehe mein T-Shirt herunter. Mein Hals liegt frei. „Mach es schnell, bitte.“ Meine Stimme zittert trotz allem. Irgendetwas in mir hängt noch am Leben.
Aber Timothy hebt die schwere Gartenschere in seiner Hand nicht. Er sieht mich nur an.
„Was meinst du?“, fragt er.
„Ich… ich bin das Böse, das du suchst“, erkläre ich ihm. Ich bin erleichtert. Vater hat ihn nicht geschickt, sonst hätte er doch gewusst, dass ich es bin. „Wenn du mich töten willst, um Audrey zu beschützen, dann tu es.“
Timothy weicht zurück. Er lässt die Schere fallen.
„Nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Das bist nicht du, Junge.“ In seinen Augen liegt ein merkwürdiger Glanz. Was ist das? Mitgefühl? Seltsam. Audrey hat manchmal genau denselben Ausdruck, wenn sie mich anschaut.
Ich hebe die Schere auf und halte sie ihm hin.
„Doch, ich bin… der Teufel spricht mit mir, und er sagt, dass ich ihm gehöre.“
„Junge, der Teufel lügt.“ Tim schüttelt den Kopf. „Das Böse hier bist nicht du. Aber du spürst es… vielleicht würdest du den Teufel nicht mehr hören, wenn es weg wäre. Das wäre für euch alle besser.“
Meine Gedanken rasen. Kann es sein, dass er recht hat? Dass es wirklich nicht an mir liegt? Mutter hat immer gesagt… aber Mutter hat viel gesagt, und nicht alles davon war wahr.
„Großmutter… Großmutter hat mir von dem Teufelspakt erzählt, den Victor L’Ancien geschlossen hat“, erwidere ich zögernd. „Meinst du, es hat etwas damit zu tun?“ Mein Vorfahr hat vor langer Zeit seine Seele und die Seelen seiner Kinder und Kindeskinder für Reichtum und Macht verkauft.
Timothy nickt. „Ich denke schon. Vielleicht hat er etwas hinterlassen… kannst du mir helfen, es zu finden?“
„Ich weiß nicht…“ Ich habe keine Ahnung, was das sein könnte.
„Aber du hilfst mir?“, drängt Timothy weiter.
Mir kommt eine Idee. „Vielleicht… vielleicht ist es im Labyrinth. Das Labyrinth ist ein Ort des Bösen.“

Es ist ein altes Heckenlabyrinth. Ich glaube, Victor L’Ancien hat es gebaut. Es ist riesig, zumindest kam es mir immer so vor. Im Labyrinth gibt es das Mausoleum, in dem er und alle anderen Sauvageaus begraben liegen. Und die Laube. Die Laube ist schrecklich. In der Laube habe ich den Teufel das erste Mal gehört.

Ich war noch ein kleines Kind, drei oder vier Jahre alt. Mutter hat mich in die Laube gebracht, weil ich gegen eine Regel verstoßen hatte. Dort sollte ich beten, bis sie wiederkommt. Aber sie kam nicht wieder. Und kam nicht. Als es dunkel wurde, fing ich an zu weinen. Es war so unheimlich. Ich hatte solche Angst. Ich blieb nicht da, wie sie gesagt hatte. Ich rannte los. Aber ich fand keinen Ausweg. Egal, wohin ich lief – immer wieder landete ich bei der Laube.
Schließlich hörte ich auf, davonzulaufen. Schlief in der alten Schaukel ein. Träumte von schrecklichen Dingen. Schreckte ständig hoch.

Mutter kam auch am zweiten Tag nicht.
Als es wieder dunkel wurde, hörte ich eine Stimme. Ich lief los, um sie zu finden. Schrie, dass ich hier wäre. Aber die Stimme lockte mich nur in die Irre. Verhöhnte mich. Erzählte mir, dass meine Mutter nie wieder kommen würde. Dass ich jetzt ihr gehören würde. Für immer.

Am dritten Tag kam Mutter zurück. Ich war krank. Der Teufel hatte mich angefasst, und sein Fieber fraß mich auf.
Seither höre ich den Teufel. Ich bin nie wieder in das Labyrinth gegangen. Audrey wollte dort immer spielen, aber ich bin nie mitgegangen.

„Das Labyrinth ist ein böser Ort“, wiederhole ich. „Aber ich kann da nicht hineingehen.“
Timothy lächelt freundlich. „Das macht nichts“, sagt er. „Du hast mir schon geholfen.“ Dann dreht er sich um, packt seine Schere wieder und macht sich auf den Weg. Ich wünsche ihm Glück. Wäre ich nicht so ein Feigling, wäre ich mit gegangen.

Aber ich gehe ins Herrenhaus. Das allein erfordert genug Mut.

Um zu Audreys Musikzimmer zu kommen, muss ich an meinem alten Raum vorbei. Das fällt mir schwer. Es liegt an den Erinnerungen. Der Wandschrank. Die Nische hinter dem Wandschrank. Kahl, staubig, leer. Dunkel. Dort musste ich beten, bis Mutter mich wieder hinaus ließ.

Die Tür steht halb offen, als ich vorbei gehe. Ich kann den Schrank aus dem Augenwinkel sehen. Meine Hände sind nass vor Schweiß.

Ich fliehe ins Musikzimmer und schlage die Tür hinter mir zu. Mein Herz klopft wild, und ich höre ganz leise Mutters Stimme: „Du hast alles falsch gemacht, Victor LePetit. Du musst dafür Buße tun.“

Fast wäre ich auf die Knie gefallen, um zu beten. Aber ich schaffe es zum Klavier. Spiele ein paar Töne. Besser.
Audreys Violine liegt da, wo sie liegen sollte. Ich nehme sie vorsichtig aus der Hülle. Ein edles Instrument, und ich habe einen Moment Angst, dass ich sie kaputt machen könnte. Aber dann erinnern sich meine Hände. Ich nehme sie vorsichtig an die Schulter. Spiele ein paar Töne. Ja, da ist es. Mein Lied.

Es dauert eine Weile, bis ich es richtig habe. Die Melodie, den Text. Ich vergesse die Zeit, den Schmerz in meinen Händen, alles um mich herum. Als der Teufel auftaucht und mit mir reden will, höre ich ihn gar nicht richtig. Das Lied nimmt mich völlig gefangen.
Ich sehe es erst an, als es fertig ist. Plötzlich weiß ich, dass ich es aufschreiben muss. Für Audrey. Damit sie etwas von mir hat, wenn ich nicht mehr da bin.

Das Lied heißt „Goodbye“. Meine anderen Lieder sind alle auf Französisch, aber dieses nicht.
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #8 am: 26.09.2012 | 20:24 »
Goodbye

Als ich den letzten Buchstaben geschrieben, die letzte Note gesetzt habe, höre ich wütende Rufe von unten. Jemand schreit „Mörder, Mörder!“.  Es ist Timothys Stimme.

Ich renne nach unten. Die Violine lasse ich liegen. Ich glaube nicht, dass ich sie noch brauchen werde.

Am Geräteschuppen steht Vater. Sein weißes Hemd hat rote Flecken. Seine linke Schulter blutet heftig.
Er hält eine Mistgabel in der Hand. Timothy liegt auf dem Boden und rührt sich nicht. Ich renne zu ihm. Er hat eine Platzwunde am Kopf und atmet schwach.

„Was hast du getan?“, frage ich Vater, während ich Timothy untersuche.
Vater runzelt die Stirn. „Er hat behauptet, ich hätte Amber getötet!“ Mit einer Hand weißt er auf einen durchgeschnittenen Sattelgurt. Amber war Audreys Mutter. Seine Frau. Sie ist bei einem Reitunfall gestorben. Nur war es kein Unfall. Nicht, wenn jemand ihren Sattelgurt durchgeschnitten hat.

Ich verstehe das nicht. Ich dachte, Vater liebt sie. Oder mag sie, zumindest. Die beiden haben sich nie gestritten, oder wenn doch, dann sehr ruhig und kalt. Nicht wie Mutter. Die hat getobt, geschrien, geweint und nach Vater geschlagen.

„Warum hast du sie umgebracht?“, frage ich ihn.
Er sieht mich aufgebracht an. „Ich habe sie nicht umgebracht!“, erklärt er fest.
„Wer war es denn dann?“, erwidere ich. Vielleicht hat er jemanden beauftragt. Ich erinnere mich, dass er mal gesagt hat: „Ich mache mir daran nicht die Hände schmutzig, dafür habe ich Leute.“
„Ich weiß es nicht!“, ruft er wütend. „Das werde ich schon noch herausfinden.“
Ich versuche, Timothy aufzuwecken, aber es gelingt mir nicht. Er stöhnt nur ganz leise.
Dein Vater wollte ihn umbringen, weil du ihn gern hast“, flüstert mir der Teufel ins Ohr. Ich zucke zusammen.
„Warum hast du ihn niedergeschlagen?“, sage ich leise.
Vater deutet auf seine blutende Schulter. „Er hat mich mit einer Mistgabel angegriffen!“
 „Wolltest du ihn umbringen?“ Ich schaue auf sein Gewehr, das neben ihm liegt.
Er atmet tief durch und gewinnt seine Beherrschung wieder. „Ich wollte mit ihm jagen gehen“, erklärt er fest und sieht mich aus seinen eisigen Augen an. „Ich gehe jetzt hinein und rufe die Polizei an.“ Dann dreht er sich um und geht. Hinter ihm, eine Blutspur auf dem Rasen.

Kurz frage ich mich, ob ich ihm hätte helfen sollen. Er ist verletzt. Aber Vater ist so stark. Er braucht sicher keine Hilfe. Timothy… Timothy ist nicht stark. Er hat den Kampf gegen Vater verloren. Obwohl Timothy die Mistgabel hatte und Vater nicht.

Ich knie mich neben Timothy und hebe ihn auf. Er ist schwer, und ich bin nicht sehr stark. Nie bekomme ich ihn hier weg, bevor die Polizei kommt. Ich kann ihn nicht zum Haus am Fluss tragen.

Mein Blick fällt auf Vaters silbernen Mercedes. Ich kann Auto fahren. Ich weiß, wo er den Ersatzschlüssel hat. Einen Moment zögere ich – er wird wütend auf mich sein. Dann schleife ich Timothy ins Auto, hole den Schlüssel und fahre davon.

Timothy wacht auf, als wir den Fluss erreichen.

„Hast du versucht, Vater zu töten?“, frage ich ihn.
Er zögert. „Da war der durchgeschnittene Sattelgurt… ich dachte, er hätte Amber umgebracht.“
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Ich glaube, er mochte sie ganz gern.“
Timothy legt den verletzten Kopf vorsichtig zurück. „Vielleicht… vielleicht war es der Teufel, der seine Finger im Spiel hatte.“
In meinem Kopf kichert es. Hämisch. Triumphierend.
Wenn ihr wüsstest…“, höhnt der Teufel. „Wenn ihr wüsstet, was passiert ist… ein Vögelchen mit einem Messer…
Ich höre nicht hin. Ich will das nicht wissen.
„Mein Vater hat einen Siegelring“, sage ich schnell, nur um etwas zu sagen. „Der stammt noch von Victor L’Ancien… vielleicht ist es das?“ Ich habe nie etwas an dem Siegelring gespürt, aber der Teufel ist schlau. Er hätte nicht erlaubt, dass ich so etwas spüre.
„Könnte sein“, antwortet Timothy undeutlich. Es geht ihm nicht gut. Vermutlich hat er eine Gehirnerschütterung.

Ich bringe ihn zu mir. Es ist schon Abend. Ich habe lange Zeit mit meinem Lied verbracht. Antoine ist nicht mehr da. Ob ich ihn je wiedersehe?
Es war noch jemand hier. Zwei Tassen Kaffee auf dem Boden. Ich rieche einen Hauch Rosenparfüm. Audrey? Ich lächele. Audrey und Antoine?

Ich lege Timothy auf die Matratze und gebe ihm ein paar Pillen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Schmerzmittel sind. Er schläft ein, sobald er sie genommen hat.

Aber ich muss noch den Wagen zurückbringen. Ich kann Vaters Mercedes hier nicht stehen lassen. Sonst nimmt ihn sich jemand anderes. Aber der Teufel ist zurück und zischt in mein Ohr. So kann ich nicht fahren. Er macht sich einen Spaß daraus, mich zu erschrecken, wenn ich am Steuer sitze. Deswegen habe ich schon einmal einen Wagen gegen eine Wand gefahren. Glück gehabt, dass nur ich drin saß.

Ich nehme den Rest Heroin. Das sollte reichen, um mich bis zum Herrenhaus zu bringen. Ich bin froh, dass Timothy schläft und nicht sieht, was ich da tue. Ich schäme mich, weil ich so schwach bin. Weil ich das brauche. Aber es geht nicht anders. Ich kann Vater nicht seinen Wagen stehlen. Das wäre noch schlimmer.

Die Fahrt zurück verläuft ganz ruhig. Ich will mein Lied summen, aber es bleibt mir im Hals stecken. Ich habe das Gefühl, in eine Falle zu fahren.

Ich stelle den Wagen ab. Als ich das Anwesen verlassen will, sehe ich eine bleiche Gestalt bei den Rosenbeeten. Audrey. Ihre Augen sind abwesend, als sie mit nackten Füßen durch die Dornen tanzt. Sie schläft noch.

Einen Moment lang will ich fliehen. Ich weiß, dass das nicht Audrey ist, die da tanzt. Nur ihr Körper. Aber ich kann nicht schon wieder davonlaufen, wenn jemand von meiner Familie verletzt wird. Also gehe ich zu ihr.

„Audrey“, sage ich leise. „Audrey, du musst zurück ins Bett gehen.“ Es ist spät, und sie trägt nur ein Nachthemd. Ein dünnes Nachthemd. Ich kann ihren Körper durch den Stoff sehen.
Sie dreht sich um und tritt auf mich zu. Ihr Gesicht lächelt, aber es ist ganz falsch. Nicht Audreys Lächeln.
Lass uns tanzen, großer Bruder“, zischt der Teufel durch ihre Lippen. Er streckt ihre Hand nach mir aus und berührt mich an der Brust. „Du willst doch mit mir tanzen, oder?“ Ihr Becken stößt gegen mein Bein.
„Bitte“, sage ich zu ihm. „Bitte, lass sie in Ruhe… sie hat doch nichts damit zu tun.“
Er lacht nur. Es klingt grotesk mit ihrer Stimme. „Sie hat alles damit zu tun, kleine Motte.“ Er drückt ihren Körper enger an meinen und schlingt ihre Arme um meinen Hals. „Komm schon, du willst es doch auch.
Ich versuche, sie abzuschütteln. Ihre Fingerknochen knacken schmerzhaft, als ich an ihren Armen zerre. Ich höre auf, mich zu wehren.
„Was willst du denn von mir?“, frage ich. „Bitte, du kannst es haben… aber lass Audrey gehen.“
Aber er / sie lacht nur. Löst sich aus der Umarmung und hakt sich bei mir ein.
Wir machen einen kleinen Spaziergang.“ Er / sie zerrt mich zum Labyrinth. Ich sträube mich, aber seine Kraft macht Audreys Körper so viel stärker. Ich bettle ihn an, sie gehen zu lassen, aber er lacht mich nur aus und zwingt mich, weiterzugehen. Vielleicht könnte ich mich losreißen und davonlaufen, aber was wird dann aus ihr?

Hätte ich es nur getan.

Wir kommen zum Mausoleum. Ein Stück davon bleibt er / bleibt Audrey stehen.
Da drin“, sagt er und deutet mit Audreys Finger auf die Gruft, „Da drin ist etwas, was ich haben will… bring es mir, kleine Motte. Bring mir das Herz, oder sie wird es bereuen.

Das Herz. Es gibt eine alte Familiengeschichte, die mir meine Großmutter erzählt hat. Victor L’Ancien hat nicht nur einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, nein – er hat den Pakt geschlossen und den Preis dafür niemals gezahlt. Weder er noch einer seiner Nachfahren. Denn er hatte ein magisches Herz, das ihn und seine Familie vor dem Teufel beschützte.
Mehr hat mir Großmutter nie erzählt. Vater wollte nicht, dass sie mir Flausen in den Kopf setzt.

Aber wenn das Herz im Mausoleum ist, kann ich es vielleicht gegen den Teufel benutzen. Ich sehe, dass er die Kraft des Herzens fürchtet.

Ich beginne zu singen. „Le rêve dernier“, das ist das erste Lied, das mir einfällt. Nein, nicht das erste. Aber „Goodbye“ ist für Audrey, nicht für den Teufel.
Für einen Augenblick ziehe ich den Teufel hinter mir her. Einen Moment lang lullt ihn mein Gesang ein. Aber nicht lang genug, bei weitem nicht lang genug. Drei Schritte schaffe ich, bevor Audreys Hand auf meine Kehle schlägt und mich zum Verstummen bringt.

Das wird dir leid tun, kleine Motte“, zischt der Teufel wütend. „Dir und ihr.

Dann wirft er mich zu Boden. Audreys Gestalt über mir, wie ein Schatten. Er /sie reißt mir das Hemd vom Leib und küsst mich mit Audreys Lippen. Ihre Hände tasten nach unten, reißen mir meine Kleider weg.
Sie macht etwas mit mir. Mein Körper reagiert, ohne dass ich es will. Verzweifelt bäume ich mich auf, versuche sie abzuschütteln, aber der Teufel ist viel stärker als ich. Stärker als sie. Ich kann nur daliegen und es geschehen lassen, aber ich will nicht, Audrey, ich will das nicht.

Sie ist über mir und bewegt sich heftig. Hin und her, auf und ab. Ich will mich wehren, aber ich kann nicht. Ich schließe die Augen und lasse es passieren. Tränen laufen aus meinen Augen. Ich weiß, dass das alles meine Schuld ist. Ich wollte sie doch nur beschützen.

Es gibt einen Höhepunkt. Ich spüre, wie der Teufel Audrey verlässt. Sie ist wieder sie selbst. Kommt zu sich, als wir immer noch ineinander sind. Ich spüre ihre Verwirrung, ihre Angst, ihren Schmerz. Aber ich kann die Augen nicht öffnen. Kann ihr nicht helfen.

Sie gleitet von mir herunter. Ich höre ihre Stimme, ihre eigene. Sie macht leise Geräusche. Ich habe ihr weh getan. Ich öffne die Augen. Sie kniet ein Stück von mir entfernt und starrt auf ihr Nachthemd. Rotes Blut in ihrem Schoss. Was habe ich nur getan? Was habe ich ihr nur angetan?

„Es tut mir leid“, sage ich. Meine Stimme bricht. Sie starrt mich aus entsetzten Augen an und weicht ein Stück zurück. Ich krieche von ihr weg.

Hast du dir dein erstes Mal so vorgestellt, kleine Motte?

Der Teufel. Lacht mich aus. Ich komme auf die Knie. Wiege mich hin und her. Murmele ein Gebet, aber es hilft nicht, es hilft nicht. Sein Lachen gellt so laut in meinen Ohren, aber nicht lauter als Audreys leises Weinen.

Plötzlich steht Vater vor mir. Seine eisigen Augen funkeln im Mondlicht.
„Sie ist deine Schwester“, sagt er. Ganz ruhig. Ganz beherrscht.
Ich blicke auf und sehe, dass das Eis in seinen Augen geborsten ist. Die Beherrschung ist nur Schein.
„Ich… ich wollte das nicht“, erwidere ich schwach.
Er packt meine Haare und zerrt mich nach oben. Dann schlägt er mir ins Gesicht.
„Sie“, brüllt er und schlägt zu, „ist“, Schlag, „deine“, Schlag, „Schwester!“ Noch ein Schlag. Dann verlassen ihn in die Worte, und schlägt mich einfach nur.

Schließlich lässt seine Kraft nach. Er blutet wieder aus der verletzten Schulter. Er lässt mich los. Stürmt davon. Seine eisige Beherrschung liegt in Scherben.

Die Schläge haben mir geholfen. Haben das Geifern des Teufels mit Schmerz übermalt. Mühsam komme ich auf die Knie. Er ist einfach davon gelaufen. Hat Audrey hier gelassen.
Ich will zu ihr gehen. Ihr etwas sagen. Ihr helfen.

Aber der Teufel ruft: „Ja, geh zu ihr. Reite sie noch mal!“ Er kichert. „Diesmal darfst du vielleicht sogar oben liegen.

Ich laufe davon. Irgendwohin. Irgendwohin, wo ich das bekomme, was ich verdient habe. Wo ich sterben kann.
« Letzte Änderung: 26.09.2012 | 22:24 von Bad Horse »
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Offline Bad Horse

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #9 am: 26.09.2012 | 20:26 »
Das Haus am Fluss. Ich stolpere hinein. Irgendwo habe ich ein Messer. Soll der Teufel doch meine Seele bekommen. Was davon noch übrig ist.

Timothy ist noch da. Timothy. Audreys Vater. Ich falle vor ihm auf die Knie.
„Es tut mir so leid“, stammele ich. „Ich wollte das nicht… Audrey…“
Er versteht nicht. Hebt mich auf. Sagt irgendwas. Keine Ahnung, was. Aber seine Stimme klingt freundlich. Sanft. Wie Audreys Stimme. Wenn ich krank war, hat sie immer so mit mir gesprochen. Oh, Audrey.

Ich finde das Messer. Ein einfacher Schnitt, und es ist vorbei. Endlich.
Timothy lässt mich nicht. Er nimmt mir das Messer weg. Redet weiter auf mich ein. Schlägt vor, ich soll es aufschreiben.

Als ich ein Kind war, hat Mutter mich immer einen Satz aufschreiben lassen. Zur Strafe. Im Herrenhaus liegen Dutzende, Hunderte Hefte, die ich mit diesem Satz vollgeschrieben habe.
Ich habe ein Heft hier. Fange an zu schreiben:

Ich bin schlecht. Bitte, lieber Gott, hilft mir, damit ich mit meiner Schlechtigkeit niemandem schade.
Ich bin schlecht. Bitte, lieber Gott, hilft mir, damit ich mit meiner Schlechtigkeit niemandem schade.
Ich bin schlecht. Bitte, lieber Gott, hilft mir…


Timothy nimmt mir das Heft weg. Runzelt die Stirn. Schüttelt den Kopf.
„Nein“, sagt er, „das ist ganz falsch. Kannst du ein Gebet?“
Ja, natürlich kann ich ein Gebet. Mutter hat es mir beigebracht. Ich knie mich wieder hin und fange leise an:

Lieber Gott, beschütz mich vor der Sünde.
Lieber Gott, beschütz mich davor, schlecht zu sein.
Lieber Gott, beschütz mich vor dem Teufel.
Lieber Gott, wenn ich sündige,
dann bestraf mich.
Lieber Gott, wenn ich schlecht bin,
dann bestraf mich.
Lieber Gott, wenn ich dem Teufel nachgebe,
dann lass mich sterben.


Ich bin beim zweiten Durchgang, als Tim mich wieder unterbricht.
„Das ist kein richtiges Gebet“, sagt er. „Das ist doch kein richtiges Gebet.“ Dann kniet er sich neben mich und spricht ein anderes Gebet. Eins ohne Strafen. Eins, bei dem ich nicht sterben muss. Ich fange an, zu weinen. Er betet weiter. Für mich.

Es hilft. Einen Augenblick. Dann ist der Teufel wieder in meinem Kopf. Erzählt mir, was ich getan habe. Was ich meiner Schwester angetan habe. Sie ist meine Schwester. Ich reiße an den Wunden, die Vater mir geschlagen hat, bis Tim meine Hände festhält.

Dann ist der Teufel weg. Ganz plötzlich. Antoine ist da.

Ich kann nicht einmal aufstehen. Ich denke an die zwei Tassen Kaffee. Audrey und Antoine.
„Es tut mir so leid“, sage ich. „Ich wollte das nicht.“
 „Was wolltest du nicht?“, fragt er.
„Ich wollte nicht mit Audrey schlafen“, antworte ich. Leise, aber ganz klar.
Antoine weicht zurück und starrt mich an. Seine Fäuste ballen sich. Seine Augen, gerade noch dunkelbraun, werden golden. Katzenpupillen. Die Fingernägel wachsen zu Krallen und ich denke, jetzt zerreißt er mich.
Aber das tut er nicht. Stattdessen geht ein Hurrikan durch das alte Haus am Fluss. Erfasst die Matratze, die Kaffeemaschine, meine Kleider und wirbelt sie durcheinander. Meine Instrumente. Das Akkordeon zerbirst mit einem klagenden Ton. Die Gitarre zerbricht in kleine Holzstücke. Das Banjo knallt gegen eine Wand und zersplittert. Die Oboe pfeift ganz kurz eine wilde Note und zerschellt an der Tür.
Es sind nur tote Gegenstände. Trotzdem tut es mir weh, als sie sterben. Merkwürdig, dass ich das überhaupt noch spüren kann.

„Was ist passiert“, knurrt Antoine. Ich erzähle ihm alles. Er schüttelt den Kopf. Will es nicht glauben. Vielleicht hätte ich ihn einfach anlügen sollen, damit er ein Ende mit mir macht.

Tim spricht mit ihm. Erfährt, dass Antoine wieder bei Soléne war. Seiner Mutter. Dass beide keine Menschen sind. Dass Antoine Leute getötet hat mit seinen Kräften.
Er nimmt das einfach hin. Genau wie er einfach hingenommen hat, was ich mit seiner Tochter getan habe. Aber ich spüre keine Schwäche in ihm. Im Gegenteil. Vielleicht ist das seine Stärke. Dass er Dinge akzeptieren kann. Dass er versuchen kann, Menschen zu retten, ohne Wut. Ohne Hass.

Ich ertappe mich bei dem Wunsch, er wäre mein Vater gewesen.

Sie sprechen weiter, Tim und Antoine. Über das Herz im Mausoleum. Tim glaubt, es wäre vom Teufel. Aber ich sage ihm, dass der Teufel Angst davor hat. Er glaubt mir. Antoine sagt, das Herz gehört seiner Mutter Soléne. Mein Vorfahr hat es ihr gestohlen.
Als wir vom Mausoleum reden, fällt mir ein: Audrey ist noch da. Vater hat sie nicht mitgenommen. Ich konnte nicht zu ihr gehen. Wir haben sie beide ganz allein gelassen.
Ich sage Antoine, er muss gehen und sie holen.

„Du hast sie einfach dort gelassen?“, fragt er. Wütend und ungläubig. Voller Abscheu.

Er dreht sich um und rennt los, um Audrey zu holen. Tim bleibt bei mir. Betet weiter. Für meine Seele. Ich glaube, es ist zu spät, viel zu spät, aber ich lasse ihn beten. Es scheint ihm zu helfen.

Die Zeit vergeht. Tim betet. Ich sitze nur da. Erinnere mich. Was ich getan habe. Was der Teufel mit mir und Audrey getan hat.

Antoine kommt nicht zurück. Ich stehe mühsam auf. Mein Kopf dreht sich. Meine Beine zittern. Aber ich muss nach ihm sehen. Ich kann dem Teufel nicht noch ein Opfer in den Rachen werfen. Er lacht nur.

Du kannst nichts bewirken, kleine Motte“, summt er in mein Ohr. „Sie werden alle sterben, und es wird deine Schuld sein.

Es ist schon fast Morgen, als wir am Herrenhaus ankommen.

Aus dem Labyrinth hören wir ein merkwürdiges Fauchen und Krachen. Als würde ein Raubtier versuchen, herauszubrechen. Vor uns hilft Audrey einer alten Frau ins Labyrinth. Soléne. Die alte Frau ist Soléne. Antoine hat gesagt, dass sie gealtert ist.

Beim Mausoleum treffen wir alle zusammen. Ich und Tim. Audrey und Soléne. Antoine, der das Herz hat und aussieht wie ein Raubtier. Und Vater. Er steht vor dem Eingang zur Gruft, ein Messer in der Hand. Blutüberströmte Schulter. Platzwunde am Kopf. Hat er versucht, Antoine aufzuhalten, als der das Herz seiner Mutter holen wollte?

Antoine eilt zu seiner Mutter und versucht, ihr das Herz zu geben. Sie jedoch schüttelt mühsam den Kopf.

„Einer von ihnen…“, krächzt sie und deutet auf Vater und mich. „Ein Sauvageau muss es mir geben… Gebt mir mein Herz zurück!“ Fordernd streckt sie ihre magere Hand aus.
Vater zögert. Er ist kurz davor, ihr das Herz zu geben.

„Tu es nicht“, rufe ich ihm zu. „Das Herz ist doch das einzige, was uns vor dem Teufel schützt!“ Ich kann seinen unregelmäßigen Schlag in meinen Knochen spüren. Es pocht an der Stelle, an der sonst der Teufel sitzt. Der Teufel kann mich gerne haben, aber nicht Vater.

Audrey verlässt Soléne Seite und geht auf Vater zu. Im Vorbeigehen streckt sie die Hand nach mir aus. Eine Aufforderung, mit ihr zu kommen. Aber ich weiche zurück. Ich kann sie nicht anfassen. Nicht nachdem, was passiert ist. Es ist genau hier passiert, an dieser Stelle. Ich kann den Abdruck unserer Körper im Gras noch sehen.
Für einen Moment bin ich wieder da. Liege auf dem weichen, feuchten Boden. Ein Stein bohrt sich in meinen Rücken. Meine Kehle rau und leer. Nicht Herr meines Körpers. Hilflos. Ausgeliefert. Ich schließe die Augen und sehe schwarze Kreise, die sich vor meinen Augen drehen.

„…wenn es sein muss, dann werde ich eben sterben.“ Vaters Stimme. Ich komme wieder zu mir. Was ist passiert? Warum will er sterben? Seine Augen sind so hoffnungslos, und er starrt auf das Messer in seiner Hand. Was tut er?

„Nein“, entfährt es mir unwillkürlich. „Wenn einer von uns sterben muss, dann ich.“ Ich gehe zu ihm hinüber. Seine große, starke Gestalt schwankt.

„Du?“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Nein, du musst weiterleben. Du bist noch so jung.“
„Aber wofür soll ich denn leben?“, frage ich ihn. „Nach allem, was passiert ist?“ Ich schaue zu Audrey hinüber. Meine linke Hand berührt unwillkürlich die Wunde, die sein Siegelring in mein Gesicht geschlagen hat.
Er schüttelt wieder den Kopf. „Wofür soll ich denn noch leben?“, erwidert er. Er klingt nicht wie er selbst. So unbeherrscht. So verzweifelt.
„Ich… ich weiß es nicht.“ Aber ich habe nie gewusst, wofür er eigentlich lebt. Für seine Karriere? Für seine Firma? „Aber du… du bist stark genug, du wirst etwas finden“, fahre ich fort. „Ich… ich werde ohnehin nicht mehr lange leben. Bitte, Vater… ich bin so müde.“ Es ist wahr. Als ich das sage, spüre ich auf einmal meinen Körper wie eine bleischwere Marionette, an die meine Seele gefesselt ist. Aber die Fessel ist brüchig geworden.

Vater starrt mich an. Ich kann seinen Blick nicht deuten.
„Ich habe deine Entscheidungen nie respektiert“, sagt er schwer. „Vielleicht wird es Zeit, dass ich damit anfange.“
Dann reicht er mir das Messer.

Ich nehme es. Ich weiß nicht recht, was ich fühle. Erleichterung, sicher. Sterben erscheint mir nicht schrecklich. Ich habe so lange gekämpft. Versucht, stark zu sein, und dabei wieder und wieder versagt. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr existieren, nicht mehr fühlen. Keinen Schmerz mehr. Keine Verwirrung. Nur Ruhe.
Aber… ein Teil von mir ist enttäuscht, dass Vater nicht mehr um mich kämpft. Ein Teil von mir sagt, dass er meine Entscheidungen immer respektiert hat, solange er sie richtig findet. Ein Teil von mir weiß, dass er mich nie geliebt hat, nie lieben wird. Dass er mich deswegen so schnell aufgibt.

Tim hat mir gestern ein Messer weggenommen. Er hat mir gesagt, dass ich meine Seele nicht so einfach wegwerfen darf.

Ich halte Vaters Messer lose in der Hand und denke an Tims Worte.
„Ich kann nicht“, sage ich leise. „Ich kann mich nicht umbringen… dann würde meine Seele dem Teufel gehören. Welchen Sinn hätte das?“
Vater weiß nicht, was er dazu sagen soll. Sein Gesicht… was ist das für ein Ausdruck?

Soléne unterbricht uns.
„Gebt mir mein Herz!“, verlangt sie wieder. „Bitte, gebt es mir, sonst muss ich sterben!“
Ich drehe mich zu ihr um.
„Ich kann nicht“, sage ich. Es geht nicht nur um meine Seele, sondern auch um die von Vater. Vielleicht um die Seelen aller meiner Vorfahren. „Aber… kannst du nicht ein anderes Herz nehmen? Kannst du nicht mein Herz nehmen?“
„Nein“, sagt sie. „Ich brauche mein Herz. Ich will nicht sterben!“
„Aber ich kann es dir nicht geben“, sage ich. Sie tut mir leid, diese alte, alte Frau, die all ihre Kraft braucht, um auf den Füßen zu bleiben. „Versteh doch… hast du eine Seele?“
„Nein, ich brauche keine Seele“, antwortet sie. Sie achtet gar nicht richtig auf mich. Ihr Blick hat sich an Vater festgesaugt. „Nur mein Herz.“

Mit mühsamen Schritten quält sie sich auf ihn zu, einen nach dem anderen. Ich verstehe nicht, warum sie so unbedingt leben will.
Als sie ihn erreicht, stürzt sie. Hält sich an ihm fest. Er greift nach ihr, will sie abschütteln oder aufheben. Ich bin nicht sicher.
Sie zieht sich an ihm hoch. Ihr Gesicht verzerrt sich. Bitterkeit. Hass. Hilflosigkeit. Sie sieht ihn an, als würde sie ihn kennen. Als hätte er sie verraten.

„Gib mir mein Herz zurück, Victor!“, schreit sie. „Du darfst es nicht behalten, dafür habe ich es dir nicht gegeben!“

Ihre dürren Hände umfassen Vaters Handgelenke. Wie Krallen schlagen sich ihre Finger in sein Fleisch. Er schwankt unvermittelt. Bernsteinfarbene Funken tanzen über seine Haut, tanzen in Solénes Augen. Ein ganzes Gewitter von Funken, die die beiden kurz einhüllen.
Dann ein kurzer, scharfer Knall. Der Gestank von Bourbon und nasser Katze. Vater und Soléne sacken zusammen.

„Mein Herz…“, stöhnt sie. „Victor, gib mir mein Herz zurück…“

Ich laufe zu Vater. Er atmet noch, mühsam und schwerfällig. Seine verletzte Schulter blutet wieder, schwerer als zuvor.
Audrey ist neben mir. Sie ist kreidebleich, ihre verstörten Augen riesig in dem hellen Gesicht. Mit einem schnellen Griff entreißt sie mir Vaters Messers und richtet es gegen sich selbst.

„Das wird jetzt aufhören“, ruft sie gequält. „Hörst du, Teufel? Ich werde das jetzt beenden!“

Dann stößt sie zu. Ich bin nicht schnell genug, um sie aufzuhalten.

Aber Tim ist es. Er hat kein Wort bisher gesagt, aber er ist da, und er reißt ihre Hand zur Seite. Das Messer trifft trotzdem, fährt tief in ihre Seite. Sie ist nicht tot, nicht von diesem Stich. Aber es ist keine leichte Wunde, und ein Schwall Blut strömt aus ihrem Körper. Ach Audrey, was hast du nur getan?

Keuchend sinkt sie zu Boden. Redet vom Sterben. Nein, nein, nicht Audrey. Nicht Audrey!

Soléne atmet mühsam. „Gebt mir mein Herz“, stöhnt sie wieder. „Gebt mir mein Herz, und ich kann sie heilen.“

Vater und ich müssen uns nicht einmal ansehen. Wir strecken beide die Hand aus und machen eine Geste mit der offenen Hand in Solénes Richtung. Genau zum gleichen Zeitpunkt. Genau die gleiche Geste. Ich habe diese Geste schon hundert Mal bei Vater gesehen. Ich habe sie selbst schon hundert Mal benutzt. Merkwürdig, dass mir das jetzt auffällt. Ich hätte nie gedacht, dass es etwas gibt, das Vater und ich gemeinsam haben.

Sie bedeutet „Nimm“. Oder „Es ist deins“.

Vaters gekeuchte Worte sind danach beinahe überflüssig. Tim reicht Soléne den pulsierenden Stein. Mit einem Ausdruck absoluter Ekstase ergreift sie ihn und verwandelt sich und ihn in pures, reines Licht.

Einen Moment lang ist alles in ihren Glanz gehüllt, heller und genauso schmerzhaft wie die Sonne. Dann wird sie blasser, eine leuchtende Frauengestalt, die über uns schwebt. Glücklich lächelt. Sich wegbewegt. Aber Audrey liegt noch im Gras und blutet.

„Wir hatten einen Handel, Soléne“, rufe ich ihr zu. „Du musst dich daran halten.“ Nicht, dass ich sie zwingen könnte. Aber sie hat mich gehört.

Soléne – die Lichtgestalt, die einst Soléne war – schwebt auf Audrey zu und hüllt sie kurz in ein sanftes, goldenes Licht ein. Ich sehe, wie die Blutung schwächer wird und versiegt. Schließlich verschwindet die Wunde in Audreys Seite. Soléne schwebt wieder nach oben. Ich weiß nicht, ob sie Antoine noch einen Blick zuwirft. Ich glaube, sie tut es nicht.

Wie ein funkelnder Stern verschwindet Soléne am Himmel. Ich wünschte, ich könnte ihre Freude über die neu gewonnene Freiheit teilen. Aber der Preis dafür war viel zu hoch.

Audrey kommt auf die Füße. Rennt zu Vater und mir, wirft sich auf seinen Körper. Klammert sich an ihn. Packt meinen Arm und hält ihn ganz fest, als wollte sie uns beide vor dem Ertrinken retten.

Vater bewegt sich mühsam und streicht ihr über den Kopf.
„Du musst jetzt gehen“, sagt er leise. „Der Teufel kommt, um uns zu holen.“
Sie klammert sich nur noch fester an uns.
„Nein, nein, ich lasse euch nicht gehen, ihr dürft nicht sterben“, ihre Stimme schwankt. „Nicht so, nein.“
„Bitte, geh“, sage ich zu ihr. „Du kannst dich noch retten.“
Sie schüttelt nur den Kopf. „Nein, ich gehe nicht weg… ich kann euch nicht verlieren…“ Sie sieht Vater an. „Papa, ich will, dass du deine Enkelkinder im Garten toben siehst… ich will, dass du siehst, wie Ash mit den Kleinen spielt…“
„Es ist zu spät“, stöhnt Vater. Sein Atem geht röchelnd. Ich glaube, er liegt im Sterben. „Audrey, du kannst nichts mehr für uns tun… du musst gehen.“
Tränen laufen über ihr Gesicht. „Nein… wenn ihr bleibt, bleibe ich auch… soll der Teufel doch uns alle holen…“
„Audrey“, sage ich eindringlich, „dann ist unser Tod sinnlos… willst du denn, dass wir umsonst gestorben sind?“

Das ist der Augenblick, in dem sie begreift, dass sie mich und Vater nicht retten kann. Dass sie nichts tun kann, gar nichts, um uns zu helfen. Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, wie sie weiterleben soll, aber ich weiß es nicht.

Aber Tim und Antoine sind noch da. Ich hoffe, die beiden können es ihr zeigen.
„Passt auf sie auf“, sage ich zu ihnen, und Vater flüstert neben mir die gleichen Worte. Dann zieht Tim seine Tochter von uns weg. Sie weint laut, ihr Körper schüttelt sich wie im Krampf, aber sie lässt es zu. Sie lässt Vater los. Sie lässt meine Hand los, und dann ist sie weg, zusammen mit Tim und Antoine. Leb wohl, Audrey. Leb wohl.

Vater liegt in meinen Armen. Er hat angefangen, zu weinen, als Audrey weggegangen ist.
„Es tut mir leid“, murmelt er. „Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir.“
Ich weiß erst nicht, mit wem er spricht. Mit Audrey? Mit seiner zweiten Frau, Amber? Mit Mutter?

Aber dann sehe ich, dass er mich ansieht. Mich. Er spricht mit mir.
„Schon gut“, sage ich. Mein Gesicht ist auf einmal nass von Tränen. „Schon gut. Ist schon in Ordnung.“
Seine Hand klammert sich an meinen Arm. Ich weiß nicht, ob er meine Worte versteht. Ich würde ihm gern mehr sagen. Dass es mir leid tut. Dass es nicht seine Schuld ist. Dass ich ihn liebe. Aber ich weiß nicht, wie.

Doch. Ich weiß, wie.

Ich fange an, zu singen. Ein einfaches Lied. Ohne Worte. Nur eine Melodie. Eine Melodie, die meinen Vater und mich einhüllt und die all das sagt, was weder ich noch er in Worte fassen können. Er lächelt durch seine Tränen. Ich glaube, er versteht mich, und ich ihn. Endlich.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Offline Nocturama

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #10 am: 27.09.2012 | 19:25 »
Das zweite Diary aus Sicht eines anderen Charakters. Ich haue hier mal eine Triggerwarnung raus: Es geht in Teilen um Mißhandlung von Kindern, Tiere werden umgebracht und es gibt auch eine unschöne sexuell konnotierte Szene. Es gibt auch eine nicht ganz so unschöne richtige Sexszene, also am besten nicht lesen, wenn einem der Chef über die Schulter sieht.

Der Prolog und die Rückblenden würden im Übrigen nicht erspielt, die habe ich so dazugeschummelt. Victors Erkenntnis wurde beim Spielen ganz einfach auf der Metaebene festgestellt.


***

Prolog: Alligatoren

„Hi Bob, kann ich Sie einen Augenblick stören?“ Pauline steckte ihren Kopf in den Raum und lächelte Bob an. Sie war blond, hübsch, kompetent, geradezu widerlich nett und ein Teil des Stalls von fast identischen Assistentinnen, die sich Mr. Sauvageau hielt. Natürlich ging in der Firma das Gerücht herum, dass es Sauvageau weniger auf die Kompetenz der Mädchen ankam, jedenfalls nicht die Kompetenz im HR- und PR-Bereich, sondern auf die auf dem Schreibtisch oder dem Firmenkopierer. Bob war in der Sache noch unentschlossen. Einerseits wusste er genau, was er selbst mit einem Haufen von ihm abhängiger blonder Assistentinnen machen würde. Andererseits konnte er sich nicht im Geringsten vorstellen, dass sein Chef überhaupt jemals Sex hatte. Der Mann hatte ungefähr so viele Emotionen wie… eine Schlange. Nein, wie ein Stein. Oder einem anderen Ding mit ganz wenigen Emotionen. Bob fiel gerade kein guter Vergleich ein.
Paulines Schuhe quetschten auf dem Boden und rissen Bob aus seinen Gedanken. „Ähm, nein, kein Problem, was gibt es denn, Pauline?“
„Mr. Sauvageau möchte Sie gerne heute Abend einladen“, sagte Pauline, immer noch lächelnd. Es war ein so offenes, ehrliches Lächeln, dass Bob es ihr fast abnahm.
„Einladen?“ fragte er und ein Moment der Panik durchfuhr ihn. Hatte Sauvageau…? Er war ja nicht dumm. Aber nein, beruhigte sich Bob, unmöglich, er hatte seine Spuren perfekt verwischt. Und man lud einen Angestellten doch nicht ein, um ihn zu feuern, oder? Nein, sicher nicht.
„Ja, zur Jagd“, sagte Pauline und ihr Lächeln wankte keine Sekunde.
„Jagd?“ fragte Bob und blinzelte. Er war sich bisher nicht bewusst gewesen, dass sein Chef gerne jagen ging, aber irgendwie passte es zu ihm. Er stellte sich Sauvageau automatisch in roter Jagdkleidung mit einer Meute Bluthunde vor.
„Oh“, Pauline lachte und wedelte mit der Hand, als wolle sie mögliche Bedenken schon im Vorfeld zerstreuen. „Keine Angst, die passende Ausrüstung wird Ihnen natürlich zur Verfügung gestellt. Sie sollten sich nur etwas anderes anziehen.“
Bob zögerte. Warum sollte ihn Sauvageau ausgerechnet jetzt einladen?
Und dann kam ihm die Erkenntnis. Natürlich! Ab und zu hatte Bob in Gesprächen mit Kollegen eingeflochten, dass er ein besseres Angebot hatte, dass er nicht ewig hier bei Sauvageau Enterprises bleiben würde. Das musste der alte Mann irgendwie mitbekommen haben und jetzt wollte er Bob in seiner Firma halten.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Bobs Gesicht. Es schadete nichts, sich Sauvageaus Angebot anzuhören. Vielleicht konnte er so noch mehr herausschlagen.
„Aber gerne“, sagte er und lehnte sich zurück „Das ist sehr nett von ihm.“
„Großartig!“ Pauline klatsche vor Begeisterung in die Hände und gab Bob einen Zettel mit einer Adresse. „Bitte kommen Sie gegen siebzehn Uhr zu dieser Adresse. Mr. Sauvageau wird dort auf Sie warten.“

Zu seinem Erstaunen führte Bob das Navigationsgerät einen überwucherten Feldweg entlang an den Rand des Bayou. Bob hatte angenommen, dass die ganze Jagdsache nur eine Kulisse für das Gespräch sein würde, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Weil er noch ein paar Sachen hatte vorbereiten müssen, hatte er noch nicht mal Zeit gehabt, sich umzuziehen und ihm wurde langsam klar, dass ein Anzug nicht die beste Wahl war für… für was auch immer sie hier vorhatten.
Er ließ sein eigenes Auto hinter Sauvageaus silbernem Mercedes stehen und öffnete die Tür. Die heiße, feuchte Luft quoll in den Wagen. Augenblicklich war er in Schweiß gebadet. Der Geruch nach verrottenden Pflanzen, brackigem Wasser und süßlichen Blumen kroch seine Nasenlöcher hoch. Er hustete. Zu viel Natur. Bob sehnte sich nach seinem klimatisierten Büro mit den kalten, weißen Neonröhren. Hier war alles in Schattierungen aus Grün und Gold und Braun gehalten.
Bobs Fuß stieß gegen etwas Weiches und eine Schwarm Fliegen summte an seinem Gesicht vorbei, schillernd wie kleine geflügelte Smaragde. Ein halbzerfressenes Opossum lag vor seiner Schuhspitze, der Rest wiederbelebt von Käfern und Würmern. Bob unterdrückte ein Würgen und hastete den Weg entlang. Er bereute langsam seine Entscheidung, die Einladung angenommen zu haben.
Am Ende des Feldweges lag eine kleine Wiese. Ein Steg führte hinaus in den Sumpf, auf dem ein weißes Motorboot dümpelte. „Lucelle“ sagte die Aufschrift auf seiner Seite.
Neben einer Hütte, die aussah, als hätte man sie gerade vor einer Minute aus dem Baumarkt hierher verpflanzt, stand Sauvageau. Bob hatte seinen Boss noch nie in etwas anderem gesehen als perfekt sitzenden Anzügen, klassische Dreiteiler mit Einstecktuch und glänzend polierten Schuhen. Jetzt trug er Khakis, Stiefel und ein knöpfte sich gerade ein tarngrünes Hemd zu. Bob musste neidisch zugeben, dass sein bestimmt fünfzigjähriger Boss weniger Fett und wesentlich mehr Muskeln mit sich herumtrug als er selbst. Vielleicht sollte er mal wieder Squash spielen gehen.
Sauvageau zog eine Weste über, eines von diesen Dingern, in denen Munition und ein Messer und ähnliche Sachen steckten. Er hob den Kopf und musterte Bob. Obwohl seine Miene sich kein bisschen veränderte, lag etwas Herablassendes in seinem Blick. Dann verzog sich Sauvageaus Mund zu einem Lächeln, das seine kalten, grauen Augen nicht berührte.
„Mr. Denver, schön, dass Sie hergefunden haben.“ Er klang absolut freundlich, aber da war ein Unterton von unangemessener Amüsiertheit in seiner Stimme, und von frisch poliertem Stahl.
„Nein, nein, ich habe zu danken…“ Irgendwie klang der Satz, als hätte ihn Bob mit einem Fragezeichen beendet.
„Oh nein“, sagte Sauvageau. „Es ist mir immer eine Freude, mit einem Begleiter auf die Jagd zu gehen.“
„Na ja, ich… äh… bin eigentlich kein so richtiger Jäger“, sagte Bob und wischte sich die schweißnassen Haare zurück. Die Hitze schien Sauvageau überhaupt nicht zu stören. Der Mann hatte doch keinen Tropfen warmes Blut im Körper. Die Mücken, von denen schon wieder eine auf Bobs Hals landete und ihn zu verzweifeltem Klatschen brachte, schienen das ähnlich zu sehen.
„Wirklich.“ Sauvageau warf Bobs Büroanzug einen Blick zu. „Aber das macht nichts.“ Er nahm ein Gewehr aus einer Sporttasche zu seinen Füßen, überprüfte und lud es mit geübten Handbewegungen. Es sah groß aus und die passende Munition massiv. Er drückte Bob eines der Gewehre in die Hand. Bob musste mit seinen glitschigen Händen zweimal zugreifen.
Sauvageau lächelte. „Jeder sollte einmal auf die Jagd gehen. Sie werden sehen, hinterher wissen Sie, was für ein Mann Sie sind.“
„Können wir nicht, ich weiß nicht, stattdessen in eine Bar gehen oder so?“ fragte Bob. Sauvageau schien ihn nicht gehört zu haben. Er hob die Tasche hoch, ging hinüber zu dem Boot und sprang hinein.
Bob konnte sich für einen Augenblick nicht bewegen. Sein Instinkt teilte ihm mit, dass er auf gar keinen Fall in dieses Boot steigen sollte. Aber sein Verstand schüttelte den Kopf und sagte ihm, dass er sich lächerlich benahm. Was sollte schon passieren? Sauvageau war älter als er und Bob hatte ein Gewehr.
Also ging Bob auf das Boot zu, aber langsamer, als er gerne gehabt hätte.
„Was jagen wir eigentlich?“ frage Bob, nachdem er es beim dritten Versuch geschafft hatte, in das schwankende Gefährt zu klettern. „Wasservögel?“
„Nein“, sagte Sauvageau, löste die Leine und startete den Motor. „Alligatoren.“
„…was?“ fragte Bob mit schwacher Stimme.
„Ach, kommen Sie.“ Sauvageau warf ihm einen Blick zu, das Lächeln jetzt so breit, dass Bob ein Glitzern von weißen Zähnen erhaschte. „Ein Mann ihres Kalibers hat doch wohl keine Angst vor einem Alligator? Sie haben doch in der Vergangenheit solchen Mut bewiesen.“
Bob verschluckte sich und fing zu husten an. Er wusste es doch. Bob rang um Atem, während sein Verstand ihn wieder beruhigte. Selbst wenn Sauvageau wusste, was Bob in den letzten Wochen getrieben hatte, konnte er nichts beweisen. Bob brauchte sich keine Sorgen zu machen.
Trotzdem klang Bobs Lachen zittrig und schwach. „Ja, äh, nein, ich habe keine Angst vor Alligatoren. Die sind auch nur Tiere, was?“
„Sehr gut.“ Sauvageau steuerte das Boot durch das grüne Wasser, das so dicht von Pflanzen bedeckt war, dass man es für eine Wiese hätte halten können. Bäume streckten ihre Zweige über das Wasser. Ständig musste Bob sich ducken und trotzdem schlugen ihm mehrmals grüne Schlingpflanzen ins Gesicht.
„Hier.“ Sauvageau stellte den Motor aus. Ohne den Lärm der Maschine hielt Bob die Welt für eine Sekunde für still, dann drängte sich das Dröhnen der Frösche und der Gesang der Vögel in den Vordergrund. Wasser platschte. Bäume knarrten. Tausend Geräusche, die Bob von der Sache ablenkten, auf die er sich wirklich konzentrieren wollte: Seinen Boss.
Eine rostige Kette baumelte über dem Wasser und verschwand irgendwo oben in der grünen Decke aus Zweigen und Blättern.
Sauvageau zog die Kette mit einem Bootshaken heran und gab sie Bob. „Halten Sie mal.“ Die Flecken auf dem Widerhaken an ihrem Ende sahen irgendwie nicht nach Rost aus. Sie fielen in großen rotbraunen Flocken auf Bobs Hände. Es roch nach Eisen.
Sauvageau öffnete eine Kühltruhe, die neben der Reling stand, und holte einen blutigen Klumpen hinaus. Bob konnte nicht sagen, zu welchem Tier das Ding gehört hatte. Stücke von Knochen und Organen baumelten aus der fransigen Masse.
Bob musste die Luft anhalten und die Zähne aufeinander beißen, während Sauvageau das Fleisch quälend langsam auf den Haken schob. „Ein Köder. Wobei die Alligatoren es eigentlich bevorzugen, wenn es Lebendköder sind“, sagte er ungefähr so unbeteiligt, als würde er über das Wetter reden.
Endlich steckte der Köder fest und Sauvageau ließ ihn über die Wasseroberfläche schwingen. Blut und Fleischstückchen regneten in das Wasser. Ein weiches Bröckchen landete auf Bobs Arm. Angeekelt schleuderte er ihn davon.
Sauvageau wischte sich die Hände an einem weißen Handtuch ab und ließ es dann ins Wasser fallen. Langsam saugte es sich voller braunes Sumpfwasser und sank unter die Oberfläche.
Sein Boss sagte nichts mehr. Er hielt sein Gewehr in der Armbeuge und starrte auf das grüne Wasser hinaus, auf dem ab und zu rote Blumen erblühten, wenn sich wieder ein Teil des Köders löste.
„Ah“, sagte Sauvageau plötzlich, ein kleines, befriedigtes Geräusch. Bob versuchte, seinem Blick zu folgen, aber er sah nur grün, dunkelgrün, hellgrün und…
Wie in einer Explosion schoss der Alligator aus dem Wasser. Seine Kiefer schnappten nach dem Köder und rissen ein Stück des Fleisches ab.
Dann war er wieder unter der Oberfläche verschwunden.
Ein paar Sekunden zu spät taumelte Bob nach hinten und stieß mit dem Rücken gegen etwas. Er fuhr herum. Sauvageau sah mit seinen kalten Augen auf ihn herab. „Der erste Schuss ist ihrer“, sagte er und ein Mundwinkel zuckte in der Andeutung eines Lächelns.
Bobs Gedanken gingen durcheinander wie die Bilder in einem Kaleidoskop, aber er gehorchte automatisch der Autorität in Sauvageaus Stimme. Er stellte sich an die Reling, entsicherte das Gewehr und zielte. Diesmal sah er, wie der Alligator für einen Nachschlag zurückkam, der schuppige Körper dichter unter der Oberfläche.
Bob drückte ab. Der Rückstoß riss das Gewehr nach oben und, wo auch immer der Schuss einschlug, es war nicht im Alligator. Er nahm die Waffe herunter und sah hinüber zu Sauvageau, der jetzt genau neben ihm stand, das Gewehr an die Schulter gestützt, und auf eine Stelle zielte, die für Bob genau aussah, wie der Rest dieses verdammten Dschungels.
Es knallte. Zappelnd und spritzend tauchte der Alligator auf. Braunes Wasser und rotes Blut sprenkelten die Seite des Bootes. Bob hob einen Arm und wich zurück. Sein weißes Hemd hatte jetzt ein neues Muster.
Sauvageau hatte sich nicht bewegt, aber keiner der Spritzer war auf seiner Kleidung gelandet. Er beobachtete den Alligator mit einem Ausdruck tiefster Befriedigung. „Ach, Mr. Denver, ich wollte Sie noch fragen, wie Sie zu den Unregelmäßigkeiten im Merger mit Tellvast stehen“, sagte er. Bob sah zwischen seinem Boss und dem sterbenden Tier hin und her. Er öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder und sagte dann mit schriller Stimme: „Unregelmäßigkeiten? Ich, äh, ich wusste nichts von, äh, Unregelmäßigkeiten.“
Sauvageau lächelte ein kleines Lächeln. Die Bewegungen des Alligators erlahmten und die rote Wolke um seinen Körper breitete sich immer weiter aus. „Den Haken“, sagte er und streckte eine Hand aus, ohne sich zu Bob umzudrehen. Bob griff nach dem Bootshaken. Das Ding schwankte in seiner Hand wie ein Grashalm im Wind.
Der Alligator zuckte nur noch gelegentlich, als Sauvageau den Haken in ihn stieß und das Tier zum Boot zog. „Helfen Sie mir“, sagte er, aber Bob konnte nur wie erstarrt danebenstehen, als Sauvageau den Alligator an Bord hievte.
Das Tier lag auf dem Rücken, seinen hellen Bauch und Kehle entblößt. Ab und zu verkrampften sich seine Füße oder der Schwanz schabte über den Boden. Die Zähne waren selbst aus der Entfernung beeindruckend.
Sauvageau zog ein Messer aus der Scheide an seiner Weste und hielt es Bob hin. „Geben Sie mir die Ehre“, sagte er.
Bob starrte ihn nur verständnislos an. Er war jetzt klatschnass und sein Herz fühlte sich an, als wäre es nur Sekunden vor dem Infarkt.
„Der Alligator“, sagte Sauvageau und artikulierte jedes Wort so deutlich, als würde er sich mit einem Schwachsinnigen unterhalten. „Es wäre grausam, ihn noch leiden zu lassen.“ Er streckte das Messer noch ein Stück weiter aus, aber Bob machte einen Schritt rückwärts. Sauvageau schüttelte seinen Kopf in einer winzigen Bewegung und Bob schrak zusammen. Sauvageau drückte mit einer Hand die Schnauze des Alligators auf das Deck und schnitt ihm die Kehle auf. Blut quoll hervor und sammelte sich um seine Stiefel.
Der Alligator zuckte noch ein letztes Mal. Das Blut wurde im Rhythmus seines Herzens aus seinem Körper gepresst, langsam und langsamer.
Bob sah Sauvageau an, der seinerseits zusah, wie der Alligator verblutete, und ihm wurde plötzlich glasklar, dass er mit einem Psychopathen in einem Boot mitten im Sumpf stand. Einem Psychopathen, der wusste, dass Bob ihn hintergangen und bestohlen hatte.
Bob hob das Gewehr auf und zielte auf Sauvageau. Sauvageau hob seinen Kopf vom Anblick des stillen Alligators und sah Bob an. Unbewegt. Unbeteiligt.
„Seien Sie nicht lächerlich, Mann“, sagte er, packte das Gewehr am Lauf und stieß es Bob gegen die Brust. Bob taumelte zurück, stolperte und fiel auf den Hintern.
„Ich habe nichts… Sie können mir nichts…“ stammelte er und versuchte, mit seinen glitschigen Händen Halt zu finden.
Sauvageau kam hinter ihm her. Er drückte den Gewehrkolben gegen Bobs Hals und zwang ihn nach unten. Dann stellte er einen schweren Stiefel auf seine Brust. Bob konnte fühlen, wie das Blut an den Sohlen durch den dünnen Stoff drang.
„Bitte“, sagt Bob. „Bitte.“ Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Nicht weinen, dachte er, nicht weinen, aber er konnte nichts dagegen machen. Rotz lief ihm aus der Nase und Spuckebläschen machten seine Stimme undeutlich. „Bitte, ich will nicht…“
„Reißen Sie sich zusammen“, sagte Sauvageau. „Das ist ja erbärmlich. Wenn ich Sie hätte umbringen wollen, hätte ich sicherlich nicht meine Sekretärin zu ihnen geschickt.“
„Bitte…“ sagte Bob.
„Seien Sie still.“ Sauvageau zog das Gewehr ein Stück zurück und Bob konnte leichter atmen. „Und hören Sie mir zu. Ich weiß genau, dass Sie Informationen an Tellvast weitergeleitet und sich dafür sowohl eine anständige Summe wie auch einen schönen neuen Arbeitsplatz gesichert haben.“ Bob blubberte etwas. Wieder tauchte dieses kleine, verächtliche Lächeln in Sauvageaus Mundwinkel auf. „Es spielt keine Rolle, ich davon etwas beweisen kann oder nicht. Ich weiß, was Sie getan haben und das ist völlig ausreichend. Sie sollten verstehen, dass ich so ein Verhalten in meiner Firma nicht tolerieren kann. Verstehen wir uns?“ Bob nickte. „Gut. Gierig ist eine Charaktereigenschaft, die im Geschäftsleben nicht schlecht sein muss, aber leider sind Sie auch dumm. Deshalb werden Sie genau tun, was ich Ihnen sage. Sie lassen Tellvast exakt die Informationen zukommen, die ich Ihnen zur Verfügung stelle. Und wenn die Firma zerfallen ist und ich den Rest aufgekauft habe, können Sie sich einen neuen Job suchen. Ich habe gehört, dass man bei Walmart nicht allzu sehr auf die Qualifikationen schaut. Verstanden?“ Bob nickte. Schweiß und Tränen machten ihn fast blind. „Gut.“ Savageau hob das Gewehr und nahm seinen Fuß von Bobs Brust. Ein blutiger Abdruck blieb zurück.
Bob wischte sich die Augen und rappelte sich auf.
Victor Sauvageau lächelte. „War das nicht lehrreich? Ich denke, Sie haben auf dieser Jagd ein bisschen mehr darüber gelernt, was für Männer wir beide sind.“
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #11 am: 27.09.2012 | 19:28 »
Victor

Die Sonne war untergegangen, aber die Schwüle, ein feuchtes, schweres Tuch, lag noch immer auf New Orleans. Was für ein Gewitter auch immer kommen mochte, es ließ auf sich warten.
Im French Quarter waren schon die Lichter angegangen und die Bars begannen, sich zu füllen. Rauchgeschwängerte Jazzclubs, Cafés in Leder und dunklem Holz und Cocktailbars voller feiernder Studenten drückten sich aneinander und warben sich gegenseitig die Gäste ab.
„Le Chat Noir“ lag in einer Seitengasse und bemühte sich nicht sonderlich um Aufmerksamkeit. Eine rote Laterne über der Tür und ein dezentes Schild, an mehr war der Club nicht zu erkennen. Entweder man gehörte zu den Leuten, die die Katze kannten oder man tat es nicht und wenn man es nicht tat, war man auch nicht erwünscht.
Victor Sauvageau kannte den Club. Er musterte das Gebäude durch das Fenster der silbernen Limousine. Der Türsteher, ein Schwarzer in einer leuchtend roten Weste, öffnete ihm die Wagentür und machte eine einladende Geste. Victor schenkte ihm so wenig Beachtung wie der drückende Hitze. Er fragte sich, wie es Audrey geschafft hatte, ihn dazu zu überreden, ausgerechnet hier ihre Abschlussfeier und ihr Konzert abhalten zu dürfen. „Alle machen das Daddy, es so ein exklusiver Club, das wird etwas ganz Besonderes!“ hatte sie gesagt und ihn aus ihren großen blauen Augen angeschaut und, ja, natürlich hatte er ja gesagt. Obwohl Audrey nicht seine leibliche Tochter war, hatte er ihr nie etwas abschlagen können, seit sie mit neun gemeinsam mit ihrer Mutter Amber in sein Leben getreten war.
Amber war tot. Beim Ausritt gestürzt.
Victor nahm die aufblitzende Erinnerung an seine zweite Frau, faltete sie zusammen und legte sie in einer fernen Schublade seines Geistes ab. Jetzt war dafür nicht der richtige Augenblick.
Was seine Tochter nicht wusste, und nicht wissen sollte, war, dass „Le Chat Noir“ mehr als nur ein Nachtclub war. Der vordere Teil war den harmlosen Geschäften vorbehalten, Musik, Drinks, Tanzen, nichts Ungewöhnliches. Ein Ort, an dem man sich mit Geschäftskollegen in einem entspannten Rahmen treffen konnte. Der hintere Teil dagegen bot eine andere Art von Unterhaltung. Charmante Unterhaltung. Unbekleidete Unterhaltung. Sie lohnte sich durchaus, wenn Victor sich auch nicht derart entblößte, sie ihm Club selbst in Anspruch zu nehmen. Wenn, dann bestellte er sich eine Frau seiner Wahl aus dem Club in ein diskretes Hotel.
Ein paar Töne eines Liedes drangen an Victors Ohr. Audrey. Er hätte ihre Stimme überall erkannt. Sie war eigentlich immer am singen, wie eine kleine Nachtigall.
Er lächelte, doch als sich langsam andere Töne unter den Gesang schoben, erstarb sein Lächeln. Es war eine Violine, gut gespielt, aber schnell, panisch, mit plötzlichen Sprüngen und Wendungen, die an den Nerven zerrten.
Victor drehte sich um. Die silberne Limousine fuhr ab und gab den Blick frei auf die andere Straßenseite. Ein Junge saß auf dem Bordstein, den Kopf gesenkt und das Gesicht hinter den Haaren verborgen und fiedelte auf seiner Geige. Im Geigenkasten vor ihm lag Kleingeld.
Victor atmete tief durch. Der verwahrloste Jugendliche war sein Sohn. Er hatte ihn eine Weile nicht mehr gesehen, denn Vic kam nur noch nach Hause, wenn er Geld brauchte. Sein Vater gab es ihm. Er wollte nicht daran denken, wie der Junge sonst seine Finanzen aufbessern würde.
In den letzten Wochen war er noch mehr abgemagert. Er war dünner als Audrey, ein vogelknochiges kleines Geschöpf, das kaum aussah, als könne es sein eigenes Gewicht tragen.
Vermutlich bestand seine ganze Ernährung aus Drogen. Irgendetwas war mit dem Jungen schief gelaufen, irgendwas hatte etwas in seinem Kopf verdreht. Victor wusste nicht, was es gewesen war.
Doch. Er wusste es. Aber auch diese Erinnerung schob er zur Seite und sah sie nicht mehr an.
Vic musste sich nur zusammenreißen. Sich ausnüchtern. Disziplin lernen.
Victor überquerte die Straße und blieb vor seinem Sohn stehen. Es dauerte einen Augenblick, bis der Junge überhaupt bemerkte, dass jemand vor ihm stand. Typisch. Er hatte immer Schwierigkeiten gehabt, andere Leute außer sich selbst auf der Welt zu akzeptieren.
Schließlich hob er den Kopf und begegnete dem Blick seines Vaters. Er zuckte zusammen und die Geige quietschte unmelodisch auf. Für einen Moment starrte er Victor an. Seine Augen hatten so starke Schatten, dass sie wie geschminkt wirkten.
„Sie wollten mich nicht reinlassen“, sagte er dann.
Victor atmete noch einmal durch. „Ich hatte schon gedacht, dass du die Verpflichtung deiner Schwester gegenüber vergessen hast.“
Vic hielt seine Geige fest wie einen Rettungsring. „Sie wollten mich nicht reinlassen…“
„Komm mit“, sagte Victor und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, zur Tür. „Lassen Sie ihn rein, er gehört zu…“ Aber Vic stand nicht mehr hinter ihm, er kam gerade über die Straße gelaufen, die Hände voller Kleingeld, das zwischen seinen Fingern hervorklimperte.
Victor unterdrückte ein weiteres Seufzen. Der Türsteher sah Vic misstrauisch an. Der Junge zwinkerte hektisch und fragte ihn: „Arbeiten Sie hier?“
Victor sah weg. Er wollte nicht mehr als nötig von den Verrücktheiten seines Sohnes wissen. Als er wieder hinsah, ließ der Türsteher mit gequältem Gesichtsausdruck die Münzen in seine Tasche fallen.
Er überließ seinen Sohn seinen Exzentrizitäten und ging voran in den Club. Die ersten Gäste waren schon da, die Dekoration dezent, aber feierlich und die Kellner höflich und zurückhaltend. Die Geschäftsführung hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet.
Aber an die Geschäftsführung wollte er nicht denken.
Denn es gab noch einen anderen Grund, aus dem Victor lieber einen anderen Ort für Audreys Feier ausgesucht hätte und dieser Grund hieß Soléne LeGuir. Soléne war die Besitzerin des Clubs, eine dunkelhäutige Schönheit, die einen Raum nur zu betreten brauchte, um ihn zu beherrschen. Victor hatte sie einmal singen gehört und ihre dunkle, rauchige Stimme hatte sich seine Wirbelsäule hochgeschlichen und sich in seinem Kopf festgesetzt. Keine seiner beiden Ehen war besonders von Leidenschaft gekennzeichnet gewesen. Leidenschaft war generell kein Wesenszug, dem Victor eine besonders hohe Priorität einräumte. Aber Soléne… Er träumte von ihr, er dachte an sie und er wollte sie.
Es war ein Gefühl, als würde jemand mit spitzen Fingernägeln über seine Nerven streichen, als Soléne durch die Menge auf ihn zukam. Sie trug ein schwarzes Kleid, hochgeschlossen und langärmlig, aber so eng, dass man jede Kurve und jede Falte ihres Körpers erkennen konnte. Es juckte Victor in den Fingern, sie zu berühren. Stattdessen ließ er die Reaktionen seines Körpers vereisen und beließ es bei einem Blick. Einem Blick, den Soléne sehr wohl bemerkte.
Ihre Zunge fuhr ihr kurz über die Lippen und sie lächelte. „Mr. Sauvageau“, sagte sie und hielt ihm ihre Hand hin. Absicht, da war er sich sicher. Trotzdem nahm er ihre Hand und hob sie an seine Lippen, ohne dabei den Blickkontakt zu brechen. Soléne lächelte. Ihre Haut schien zu vibrieren wie der Brustkorb einer schnurrenden Katze.
„Ich sehe, Sie haben ganze Arbeit geleistet. Ich bin sicher, meine Tochter wird sehr zufrieden mit diesem Abend sein“, sagte er.
„Vielen Dank, Mr. Sauvageau. Ich freue mich immer, wenn meine Gäste zufrieden sind. Egal. in welchem Bereich.“ Sie blinzelte langsam. „Audrey wartet nur noch auf ihren Bruder.“
„Ja, mein Sohn…“ Victor unterdrückte ein weiteres Seufzen, als er sich umsah. Endlich tauchte Vic, einen jungen Schwarzen im Schlepptau, der aussah wie ein Gangbanger. Vielleicht war das aber auch nur eine von diesen lächerlichen Jugendmoden.
„Da ist er. Bitte sorgen Sie dafür, dass er auf dem Weg zu seiner Schwester nicht schon wieder verloren geht.“
Soléne nickte. Sie sah hinüber zu Vic und ein amüsiertes Lächeln tauchte auf ihren Lippen auf. Es gefiel Victor nicht.
Seinem Sohn gefiel es genauso wenig. Er sah Soléne an wie ein Kaninchen eine Schlange, dann schaute er auf den Boden, an die Decke, überallhin, nur nicht zu Soléne.
„Komm“, sagte sie mit einem deutlichen Unterton von Spott. „Deine Schwester wartet schon auf dich. Sie braucht deine Unterstützung.“
Victor sah zu, wie Vic Soléne in deutlichem Abstand folgte. Er wusste nicht, welcher Impuls lächerlicher war: Die Frau anzufallen, die seinem Sohn Angst machte oder seinen Sohn zu attackieren, den Konkurrenten um ihre Aufmerksamkeit.
Lächerlich. Vielleicht sollte er sie tatsächlich einmal einladen und mit ihr schlafen. Vielleicht würde das helfen.
Die nächsten Minuten verbrachte er mit dem obligatorischen Smalltalk mit den Eltern von Audreys Klassenkameradinnen. Ihre gesamte Stufe schien nur aus Blondinen zu bestehen, die wie überdrehte Hundewelpen herumhüpften. Er musste sich ungefähr hundertmal anhören, dass es ja sooo coool war, dass er Audrey diese Feier erlaubt hatte. Nicht, dass die Eltern wesentlich bessere Unterhaltung boten. Keiner von ihnen war sonderlich intelligent und einige absolut entnervend. Der schwitzende Mr. Gallswood zum Beispiel, der Victor jedes Mal zur Investition in eines seiner zum scheitern verurteilten Geschäfte bewegen wollte oder die silikonbrüstige Witwe von Richter Kennings, die Victor für einen passenden Sugar Daddy hielt, nachdem sie ihr Erbe in Rekordzeit verschleudert hatte.
Es war eine Erleichterung, als das Licht gedämpft wurde und Victor an einem Tisch in der ersten Reihe Platz nehmen konnte. Ein von Scheinwerfern gezauberter Heiligenschein ging über Audrey auf der Bühne an. Sie hatte ihre Hände nervös vor sich gefaltet und ihre Wangen waren gerötet. Die Aufregung stand ihr, fand Victor. Sie fing an zu singen und die ersten Noten zitterten unsicher in der Luft. Victor sah sie an, bis er ihren Blick einfing, dann lächelte er und nickte ihr zu. „Du bist meine Tochter“, wollte er ihr damit sagen. „Keine Angst.“
Sie lächelte zurück und ihre Stimme erstarkte, fand sich in das Lied ein und trug es. Für einen Augenblick sonnte sich Victor im Stolz auf seine Tochter, dann fiel sein Blick auf seinen Sohn. Er hatte wieder den Kopf gesenkt, so dass Victor seine Augen nicht sehen konnte. Sein Bogen tanzte über die Saiten. Er spielte gut, dass war es nicht, aber wie er da stand, im viel zu hellen Licht der Scheinwerfer, schmal und bedürftig, vor aller Welt entblößt…
So konnte es nicht weitergehen. Vic musste nach Hause kommen.
„Danke, danke“, sagte Audrey. Ihre Augen glänzten, als ihre Freundinnen auf und nieder hüpften und ihren Beifall quietschten. „Bevor ich das nächste Lied singe, wollte ich noch etwas sagen. Ich freue mich sehr, dass ihr alle gekommen seid und mir Gesellschaft leistet. Es ist so aufregend, mit der Schule fertig zu sein.“ Das sorgte für erneutes Quietschen von ihren Klassenkameradinnen. „Ich wollte besonders meiner Familie danken. Meinem Bruder…“ Sie drehte sich zu Vic um, der schon halb hinter der Bühne verschwunden war. Audrey zerrte ihn wieder hervor. „Meinem lieben Bruder, der so wunderbar Geige spielt.“ Vic spähte hinter seinen Haaren hervor und schien unter der Aufmerksamkeit des Publikums zu schrumpfen.
„Und meinen beiden Vätern“, sagte Audrey und Victors stolzes Lächeln gefror. „Meinem Papa, Victor, der immer für mich und meine Mum da war und mich unterstützt hat. Vielen lieben Dank, Papa.“ Ihr glücklicher Gesichtsausdruck kam ins Wanken, als sie Victor ansah und seinen Blick bemerkte. Trotzdem fuhr sie fort: „ Und meinem Dad, den ich ewig nicht gesehen habe, aber der nur für mich hierher gekommen ist. Vielen Dank.“ Jetzt sah sie einen Mann an, der ganz hinten am anderen Ende des Raumes saß. Ein unscheinbarer, verbrauchter Typ. Das war also Timothy, Ambers erster Mann. Sie hatte ihm nicht alles über ihn erzählt, aber genug. Wie sie einen miesen Job nach dem anderen machen oder zu ihren Eltern betteln gehen musste, weil er nie länger eine Stelle behalten konnte, wie er jedes Mal versprochen hatte, das es nächstes Mal besser würde, das nächste Mal, und dann doch wieder nur betrunken auf dem Sofa lag und wie Audrey geweint hatte, weil ihr Vater das Geburtstagsgeld der Großeltern mal wieder in einer Kneipe versoff, zusammen mit dem Feiertag der Tochter.
Er sah genau aus wie der Verlierer, den Victor sich immer vorgestellt hatte. Nie wieder würde dieser Mann ein Teil von Audreys Leben werden.
Victor behielt ein stählernes Lächeln auf dem Gesicht. Nur den Schein bewahren.
Wie konnte sie nur. Ihn einladen und hierher bringen, vor allen Leuten. Öffentlich demonstrieren, dass sie nicht seine Tochter war. Er konnte die Blicke spüren. Er sah, wie sich Mrs. Dyer, die nie ein eigenes Leben gehabt hatte und deshalb nur am Leben anderer Menschen teilnahm, zu ihrer Freundin herüberbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Er wäre gerne zu ihr hinübergangen und hätte sie geschlagen, mit der Rückseite der Hand, wo die Knöchel sitzen. Er hätte gerne gesehen, wie sie sich zusammenkauerte und ihm ängstliche Blicke unter erhobenen Armen zuwarf.
Er sah, wie Terrance Juarez ihn aus seinen Schweineaugen musterte und leicht die Oberlippe verzog, als er die Schwäche des Geschäftskonkurrenten bemerkte. Ihn hätte er gerne durch den Wald rennen sehen, durchgeschwitzt und asthmatisch keuchend, bis dann…
Audrey weckte ihn aus seinen Fantasien: „Aber jetzt wollte ich noch etwas ganz besonderes ankündigen. Eine Überraschung. Mein Bruder ist nämlich auch ein ganz toller Dichter und schreibt selbst Lieder und eines von seinen Liedern wollen wir jetzt vortragen.“
Vic sah sie mit geweiteten Augen an und schüttelte seinen Kopf.
„Komm schon“, sagte Audrey. „Zier dich nicht. Deine Lieder sind toll.“
Vic krümmte sich über seine Geige und wich zurück.
Victor fragte sich, warum seine Kinder sich nicht einfach anständig verhalten konnten. War es so schwer, daran zu denken, wie man auf andere wirkte?
Audrey scheuchte Vic an den Rand der Bühne und setzte mit dem Lied ein. Mit ihrer klaren Stimme klang das Lied wie eine Hymne, aber die Worte… Faulige Früchte am Baum. Rote, betäubende Flüssigkeit. Flüstern aus den Schatten. Blutige Innereien. Geier, kreisend, näher und näher…
Victor griff nach seinem Drink. Das war es, womit sein Sohn seine Zeit verbrachte?
Das Lied war zu Ende, der Applaus verwirrt und zögerlich. Audrey verbeugte sich, Vic floh hinter die Bühne.
Er musste seinen Sohn nach Hause holen. Diese Gedanken irgendwie aus seinem Kopf herausbringen. Ihn geraderücken.
Mit mehr Smalltalk und tausend Hinweisen, wie schön Audrey doch singen würde und dass es ein „interessantes“ Konzert gewesen sei, arbeitete sich Victor zur Bar vor. Er wollte stehen.
Sein Blick blieb kurz an Soléne hängen, die mit dem jungen Schwarzen in Richtung des hinteren Bereiches ging. Alleine. Was für ein Kind sie da mitnahm. Es würde ihr nie geben können, was…
„Oh, Mr. Sauvageau.“ Mrs. Dyer drängt sich neben ihn. „Wie nett, das alles hier. Aber schlimm, wenn so was passiert, wie mit Ihrem Kleinen, nicht?“
Victor ließ den Rotwein in seinem Glas kreisen und sah sie an, ohne zu blinzeln.
Dafür blinzelte sie um so mehr. „Na ja, mit den Drogen und so. Sehr traurig, aber was soll man machen? Was ist es denn? Heroin? Er schaut so mager aus…“
Sie legte Victor eine Hand auf den Unterarm. Er schaute ihre Hand an, dann sie und Mrs. Dyer zuckte zurück.
„Ich will ja nur helfen“, sagte sie, öffnete ihr Täschchen und griff hinein. Doch ihre Hand kam leer wieder hinaus.
„Verstehe“, sagte Victor. „Sie sprechen ja aus eigener Erfahrung.“
„Bitte?“ Mrs. Dyers atmete tief ein, um wenigstens ein bisschen größer zu wirken. „Was werfen Sie mir da vor? Drogen? Also wirklich!“ Sie sah immer ein paar Zentimeter an seinen Augen vorbei.
„Benzodiazepine, nehme ich an“, sagte Victor. „Der Tag ist so anstrengend ohne sie. Sie sollten aber nicht bei jedem kleinen Konflikt danach greifen.“ Er warf ihrer Täschchen einen Blick zu. „Denken Sie also das nächste Mal nach, bevor Sie über meinen Sohn reden.“
Das warme Gefühl in seiner Brust, als sie ihre Tasche an sich drückte und zur Damentoilette floh, hatte nichts mit dem Alkohol zu tun.
„Papa!“ Audrey war an seiner Seite aufgetaucht und hatte seinen Ärmel ergriffen. „Komm mit!“
„Audrey, beruhige dich. Was ist denn los?“ sagte er. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre er ihr ohne Anstalten gefolgt, aber das hatte sie sich heute nicht verdient.
„Sie… Sie hat keinen Puls.“ Audrey zerrte an seinem Ärmel. „Was sollen wir denn machen?“
„Wer?“ Er stellte sein Glas auf die Bar.
„Miss Soléne.“
Das reichte. Mit einem großen Schritt hatte er seine Tochter überholt, die sich jetzt von ihm mitziehen ließ.
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #12 am: 27.09.2012 | 19:31 »
Im Büro lagen Papiere auf dem Boden. Das Regal an der Wand war umgefallen und unter einem Haufen Bücher regte sich gerade Soléne. Victor kniete sich neben ihr nieder. Ihr Kleid war hoch gerutscht und entblößte ihre Beine fast bis zur Hüfte. Dunkle, glatte Haut, die einlud, die Hände von der Fußspitze bis zur Hüfte über ihre Kurven fahren zu lassen.
„Bleiben Sie liegen“, sagte er, als Soléne Anstalten machte, sich aufzurichten.
Sie winkte seine Hand davon. „Mir geht es gut. Es ist nichts passiert.“
Es hätte Victor gut gepasst, ihr gegenüber als Retter auftreten zu können, aber er verstand sie nur zu gut. An ihrer Stelle hätte er genauso wenig Schwäche zeigen oder Hilfe annehmen wollen.
Er richtete sich wieder auf und ließ ihr Zeit, sich zu sammeln. „Ich rufe Ihnen einen Krankenwagen. Und die Polizei.“
„Nein!“ Soléne stand auf. „Keinen Krankenwagen, keine Polizei.“ Sie sah ihn mit erhobenem Kinn an, forderte ihn heraus.
„Wie Sie meinen“, sagte Victor und steckte sein Mobiltelefon wieder ein. „Aber Sie wollen diesen Hooligan doch nicht damit davonkommen lassen?“
Sie lachte kurz auf. Kaum zu glauben, dass sie gerade noch ohnmächtig auf dem Boden gelegen hatte. „Sicherlich nicht“, sagte sie. „Ich habe meine eigenen Methoden und ich werde mich selbst darum kümmern.“
Victor nickte. „Dennoch, falls Sie Hilfe benötigen, wenden Sie sich an mich. Ich kenne da einen diskreten Service…“
„Daddy!“
Er hatte ganz vergessen, dass Audrey noch neben ihm stand. „Nichts Illegales“, fügte er hinzu.
„Danke“, sagte Soléne. „Aber ich würde jetzt gerne alleine sein. Mich ein bisschen frisch machen, Sie verstehen?“
„Sicherlich. Komm Audrey, du willst doch sicher noch ein bisschen mit deinen Freundinnen sprechen, oder?“ Er legte einen Arm um die Schulter seiner Tochter und schob sie nach draußen. Genau wie Soléne brauchte er einen Augenblick Ruhe. Vor dem Büro lockerte er seinen Kragen. Selbstkontrolle. Nicht an sie denken.
Sein Blick fiel auf Timothy. Genau das Richtige, um auf andere Gedanken zu kommen.
„Ich weiß nicht…“ sagte Audrey. „Ich will eigentlich nicht…“
„Komm schon, Kind, wie oft hast du schon Gelegenheit für eine Abschlussfeier?“ Er lächelte und manövrierte sie weiter in Richtung der blonden Mädchen. In kürzester Zeit war sie von ihnen umringt, einer kichernden Hühnerschar.
Victor setzte ein schmales Lächeln aus und ging zielstrebig auf Timothy zu.
„Sie sind also Audreys leiblicher Vater“, sagte er und ließ noch einmal seinen kältesten Blick über ihn schweifen.
Tim nickte und lächelte. Er roch nach Alkohol.
Victors Kiefer verkrampften sich kurz. Unglaublich. Hier aufzutauchen, betrunken.
„Ich will Sie nicht langweilen“, sagte Victor. „Deshalb komme ich gleich zum Punkt: Ich will nicht, dass Sie wieder in Audreys Leben treten. Sie sind nicht gut für sie.“
„Ich weiß“, sagte Tim. Er hatte eine leise, sanfte Stimme. Es war entnervend.
„Gut. Halten Sie sich daran“, sagte Victor. Tim wich seinem Blick stetig aus. Irgendwas verbarg der Mann, aber das sollte Victor egal sein, so lange er sich von Audrey fern hielt.
Vic kam gerade hinter der Bühne hervor, seine Geige so an sich gepresst, als könne er sich dahinter verstecken.
„Entschuldigen Sie mich“, sagte Victor und passte seinen Sohn ab. Vic wäre beinahe in ihn hineingerannt.
„Vic“, sagte er zu seinem Sohn. „Ich muss mit dir reden.“
„Ich, nein… ich.“ Vic sah zur Seite und schüttelte seinen Kopf. „Das kann ich nicht. Lass ihn in Ruhe.“
Er war auf Drogen. Natürlich. „Wann kommst du nach Hause?“
Vic versuchte, irgendwie an seinem Vater vorbei zu kommen. „Das ist eine schlechte Zeit, schlecht. Ich kann jetzt nicht. Nein, nein, das mache ich nicht.“
„Victor“, sagte sein Vater und betonte jede Silbe sorgfältig. „Du musst nach Hause kommen. Das ist doch kein Zustand. Du landest noch tot in der Gosse.“
Der Junge ließ seinen Kopf hängen und seine langen Haare zitterten. „So wäre es vielleicht besser.“
„Victor. Komm nach Hause“, sagte sein Vater. Wie hatte es mit ihm so weit kommen können?
Der kleine dunkelhaarige Junge neben seinem Lehnstuhl. „Papa, kann ich bei dir übernachten? Bitte. Mama hat gesagt, der Teufel ist in meinem Bett und wenn ich aufwache…“ Er rang um Atem und konnte nicht weitersprechen.
„Lass den Unsinn, Victor. Es gibt keinen Teufel und ich habe noch zu tun.“ Er ließ seinen Blick auf die Aktenstapel neben sich fallen. Der Merger mit Syndicom stand in drei Tagen an. „Geh zu deiner Mutter. Lass dich von ihr ins Bett bringen.“
Der kleine Junge zuckte zusammen. „Muss ich? Muss ich wirklich?“
Sein Vater sagte nichts mehr. Steif und ab und zu zusammenzitternd als wäre ihm kalt, schlich der Junge aus dem Raum.

Nein. Dafür war jetzt nicht der richtige Augenblick.
„Na gut, wenn es sein muss, ich mache es“, sagte Vic plötzlich. Er starrte an Victor vorbei ins Leere.
„Gut“, sagte Victor und wollte noch etwas hinzufügen, aber sein Sohn war schon an ihm vorbei nach draußen geflohen.
Obwohl er nicht darauf vertraute, dass sein Sohn wirklich kam, erlaubte sich Victor leichten Optimismus. Wenn er den Jungen dazu bringen konnte, sich mit ihm hinzusetzen, ließe sich sicher eine Lösung finden. War das im Grunde nicht das Gleiche, wie einen zögernden Geschäftspartner endlich zum Handeln zu bringen?
Vielleicht war es Zeit, den Abend zu beenden. Audrey stand noch immer zwischen ihren Klassenkameradinnen. Zusammen mit Tim.
So zuverlässig waren also seine Zusagen. Nun, wenn er Victor provozieren wollte, sollte sein Bedürfnis doch befriedigt werden.
Er trat zu den beiden und legte Audrey eine Hand auf die Schulter.
„Papa“, sagte sie und strahlte ihn an. „Ich habe eine tolle Idee. Tim ist Gärtner und der Garten… Na ja, Mama hat sich ja immer darum gekümmert.“ Ihr Strahlen zerfiel kurz. „Und ich dachte, dass er ihn mal in Ordnung bringen könnte.“
Victor sah Tim an. Dieser Wurm wollte sich also seinen Zugang zum Vermögen der Sauvageaus erschleichen? Und auch noch seine Tochter dazu einsetzen? Sie so verletzen wie ihre Mutter? Bitte. Sollte er es versuchen. Aber zuerst musste er an Victor vorbei.
Er drückte die Schulter seiner Tochter und sagte: „Ich habe eine viel bessere Idee. Warum bleibt Tim nicht eine Weile bei uns? Manoir Sauvageau hat genügend leerstehende Räume.“ Und bei seiner Abreise würde Timothy es sich dreimal überlegen, ob er sich noch einmal mit einem Sauvageau anlegte.
„Ich weiß nicht…“ sagte Tim.
„Oh ja, das wäre toll!“ sagte Audrey gleichzeitig.
„Sehr gut“, sagte Victor. „Soll ich Ihnen einen Wagen schicken? In ihrem Zustand sollten Sie nicht mehr fahren.“

Am nächsten Tag besuchte Victor noch vor der Arbeit „Le Chat Noir“. Die Reste der Feier vom gestrigen Abend waren noch zu sehen. Leere Gläser standen auf den Tischen, über der Bühne hing das halb heruntergerissene Banner mit der Aufschrift „Herzlichen Glückwunsch, Audrey“.
Natürlich wäre es nicht nötig, den Check persönlich vorbei zu bringen, aber er war, wie sollte man sagen, hungrig. Er wollte sie sehen.
Soléne war heute einfacher gekleidet und doch genauso aufreizend. Er war sich ziemlich sicher, dass sie keinen Büstenhalter trug.
„Mr. Sauvageau“, sagte sie und lächelte. „Kommen Sie doch in mein Büro. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich schulde Ihnen noch etwas für gestern und ich bezahle meine Schulden gerne sofort“, sagte er und nahm den Check auf seinem Portemonnaie. „Ich habe mir erlaubt, einen kleinen Bonus für den Ärger hinzuzufügen.“
„Aber das war doch nicht ihre Schuld“, sagte sie und winkte einen der Barkeeper hinüber, der gerade die Theke putzte. „Trinken Sie etwas?“
Victor sah auf die Uhr. Viel zu früh dafür. „Gerne“, sagte er. „Geben Sie mir einen Scotch.“
Sie ging voraus ins Büro. Ihre Hüften schwangen hypnotisch von links nach rechts.
„Setzen sie sich doch“, sagte sie und wies auf einen Ledersessel. Der Barkeeper tauchte neben ihm auf, reichte ihm den Scotch und schloss hinter ihnen die Tür.
Soléne nahm den Check entgegen und sah ihn sich an. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, sagte sie.
„Es schadet nichts, großzügig zu sein, wenn man es sich leisten kann“, sagte er. Vielleicht glaubte sie, dass er sie kaufen wollte – und warum auch nicht?
Sie legte den Check in die Schublade, trat vor den Schreibtisch und lehnte sich an die Platte. Schweigend, nur ein feines Lächeln im Mundwinkel, musterte sie ihn. Er erwiderte ihren Blick ohne jede Reaktion. Sie atmete tief durch und strich sich mit zwei Fingern über die Lippen. Dann stieß sie sich vom Schreibtisch ab und kam auf ihn zu.
Und, als hätte man zwei Videobänder übereinander gelegt, flackerte ihre Gestalt. In einem Augenblick stand da eine schöne dunkelhäutige Frau, im nächsten Augenblick war sie etwas Mitternachtsschwarzes, mit gelben Augen und glitzernden Fängen. Dann war es wieder Soléne, die ihn aus dunklen Augen, aus gelben Augen unter langen Wimpern ansah.
Sein Instinkt empfahl Victor, zu laufen, zu fliehen, schnell, schnell, schnell…
Er wurde übertönt von etwas noch viel Urtümlicheres, das sich in Victors Brust regte und als Grollen in seiner Kehle endete.
Und Soléne antwortete.
Victor ließ das Glas fallen, stand auf und ging auf Soléne zu, drängte sie zurück, bis sie wieder gegen den Schreibtisch stieß. Er packte sie im Nacken und küsste sie. Ihr Körper wölbte sich gegen seinen.
Seine Zunge verfing sich an einem Fangzahn und der Geschmack von Blut füllte seinen Mund. Soléne fauchte und stieß ihn zurück. Lange Fingernägel, scharfe Klauen rissen ihm das Hemd auf. Dann wanderten sie tiefer und zerrten seinen Gürtel auf.
Victor legte seine Hand auf ihren Halsansatz und zwang sie auf die Schreibtischplatte. Sie zischte, zappelte und hob ihm ihre Hüften entgegen. Mit der anderen Hand fuhr er ihr Bein entlang, schob ihren Rock hoch bis zum Bauch. Unter seinen Fingern wechselte sich warme Haut mit prickelnder Hitze ab.
Dann war sie sein, sie gehörte ihm, nur ihm, und in ihrer Kehle löste sich das Stöhnen einer Frau mit dem wollüstigen Grollen einer Katze ab.
Er hielt sie unter sich fest, bis sie sich aufbäumte, ihn umschlang und ihre Zähne in seine Schulter schlug. Schmerz und Lust und Blut und… Oh… Gott…
Victor blinzelte. Er sah in dem großen Ledersessel, den Scotch in der Hand und Soléne stand ihm gegenüber an den Schreibtisch gelehnt. Sie lächelte.
Victor räusperte sich. Sein Mund war trocken, aber ihm war die Lust auf Alkohol vergangen. „Gut, wenn es nichts Weiteres gibt…?“
Soléne schüttelte langsam ihren Kopf, immer noch lächelnd.
Als Victor in sein Auto stieg, zuckte kurz Schmerz durch seine Schulter.

Er hatte sich die Schulter angesehen. Nichts. Er musste sich die pochende Hitze einbilden, so wie er sich den Sex eingebildete haben musste. Trotzdem fühlte es sich an, als würde das Brennen langsam von seiner Schulter zu seinem Herzen wandern und dort Herzschlag um Herzschlag die prähistorische Kreatur in seiner Brust füttern.
Er brauchte Ruhe und nichts war für ihn entspannender als das Gewehr zu halten und für einen Augenblick über Leben und Tod der Beute entscheiden zu können. Er war auf der Jagd.
Und dabei könnte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Den Fremden aus seinem Revier verbannen und dafür sorgen, dass er nie wieder seine Tochter belästigte.

Victor fand Tim neben dem Misthaufen. Er arbeitete nicht, stand einfach nur da, die Mistgabel in der Hand, und starrte auf den Unrat.
„Mr. LeClerc“, sagte Victor. „Ich möchte Sie einladen, mit mir auf die Jagd zu gehen.“
Tim drehte sich zu ihm um. Seine Augen waren von einem fiebrigen Glanz überzogen. Schon wieder betrunken.
„Nein, danke“, sagte er.
Victor erlaubte sich ein abfälliges Lächeln. „Ah, ich hätte mir denken können, dass Sie dazu nicht den Mut haben. Vielleicht sollten Sie es mal probieren?“
„Arme, hilflose Kreaturen töten?“ sagte Tim und mit jedem Wort wurde seine Stimme laute. „Ich bin nicht wie Sie, Sie… Mörder!“
Für einen Augenblick glaubte Victor, dass Tim einer dieser entnervenden Tierschützer sei, die einem immer die Ohren von den armen, hilflosen Kreaturen vollweinten. Aber nein, der Hass in Tims Gesicht ging tiefer.
„Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen“, sagte Victor, zog sein Jackett aus und legte es auf die Mauer.
„Sie haben sie umgebracht!“ Tim schleuderte eine Gabel voll Mist in Victors Richtung. Instinktiv hob er einen Arm und schützte seine Augen.
„Ich weiß, wie du sie angesehen hast! Gehst du mit ihr ins Bett, der kleinen Schlampe?“ Die dunkelhaarige Frau schleuderte eine Vase durch den Raum. Ihr Mann wich dem Geschoss aus. Wasser und Porzellansplitter regneten auf den Boden.
„Sei nicht albern. Du kannst nicht erwarten, dass ich nie mit anderen Frauen rede.“
Sie brach in Tränen aus und kauerte sich auf dem Boden zusammen. „Warum liebst du mich nicht? Bin ich nicht hübsch genug? Ich weiß, dass nach der Schwangerschaft mein Bauch nicht mehr so straff geworden ist.“
Er verließ den Raum. Es war erbärmlich. Durch die Tür konnte er seine Frau weinen hören.
Und später, viel später, den Körper auf dem Tisch des Bestatters, die zerfetzten Handgelenke noch immer gut sichtbar.

„Warum haben Sie sie umgebracht? Ich habe sie geliebt!“
Nicht Lucelle. Amber.
Victor hätte am liebsten gelacht. Das war mehr als lächerlich. Warum hätte er Amber umbringen sollen? Sicher, am Anfang war ihre Ehe nicht mehr als ein Geschäftsarrangement gewesen, sein Geld und sein Schutz für eine Frau in seinem Leben und eine Mutter für Vic, aber am Ende hatte er sie geliebt. Und jetzt beschuldigte ihn dieser Wurm, unter dem sie so hatte leiden müssen, dass Victor sie umgebracht hätte?
„Amber? Sind Sie verrückt geworden?“ Er rollte seine Ärmel nach oben. Bei solchen Umständen konnte man es als Notwehr durchgehen lassen, wenn er den Mann krankenhausreif schlug.
„Warum hast du sie umgebracht?“ Tim machte einen Satz nach vorne.
Zuerst erkannte Victor den Schmerz in seiner Schulter nicht. Er war nur ein kleiner Teil des Brennens. Doch dann sah er hinab auf das Blut, das unter dem Zinken der Mistgabel hervorquoll. Das hätte er Tim nicht zugetraut.
Aber damit war jetzt Schluss. Er riss die Gabel aus seiner Schulter. Blut rann über sein Hemd. Es fühlte sich fast kühl an. Er dreht die Gabel nicht um, holte mit dem Stiel aus und schlug ihn Tim gegen den Kopf.
Er musste die richtige Stelle getroffen haben, denn Tim ging sofort zu Boden und rührte sich nicht mehr. Aber er atmete noch.
Victor stand über ihm und dachte darüber nach, ob er diese Tatsache ändern sollte. Da war er, dieser stille Moment, in dem er die Entscheidung treffen konnte, ob jemand lebte oder starb. Er war noch nicht einmal wütend. Sein Geist war mit der Frage beschäftigt, ob es ihm auf lange Sicht Ärger machte oder Ärger ersparte, wenn er Tim jetzt erlegte.
„Warum hast du ihn umgebracht?“
Victor fuhr herum. Sein Sohn stand hinter ihm und sah Tim an. Sein Gesicht war ein bisschen traurig, aber er wirkte nicht ängstlich.
Und auch nicht überrascht.
„Er ist nicht tot!“ Victor warf die Mistgabel zur Seite. „Er hat mich angegriffen…“ Seine Hand fuhr zu seiner Schulter. Blut klebte an seinen Fingern und jetzt fühlte er auch einen leichten Schwindel.
„Was hast du denn gemacht?“ fragte Vic. „Er war doch nett.“
„Ich habe gar nichts gemacht.“ Victor musste sich an der Mauer abstützen. „Er hat… Er hat irgendwie die verrückte Idee bekommen, dass ich Amber umgebracht hätte.“
„Und warum hast du sie umgebracht?“ Vic sah immer noch melancholisch und ein bisschen neugierig aus.
Victor starrte ihn an. In seiner Schulter begann ein langsamer Puls zu schlagen, in anderem Rhythmus als sein eigenes Herz. „Ich habe sie nicht umgebracht“, sagte er. Sein Gesicht musste schrecklich ausgesehen haben, denn Vic senkte seinen Kopf und wich zur Seite aus.
„Bring ihn weg“, sagte Victor. Er wollte nichts mehr mit Tim zu tun haben und Vic sollte jetzt besser nicht in seiner Nähe sein.
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #13 am: 27.09.2012 | 19:35 »
Der Familienarzt der Sauvageaus verpflegte sie schon seit Jahrzehnten. Er reinigte und nähte die Wunde. Als er gerade den letzten Verband anlegte, hörte Victor Audrey hereinkommen. Wie immer sang sie leise vor sich hin.
Sie verstummte, als sie um die Ecke bog und ihn sah. „Papa! Was ist denn passiert?“
Victor winkte den Arzt fort und ignorierte seinen Einwand, dass er mit der Verletzung in ein Krankenhaus gehöre.
Als sie alleine waren, sagte Victor. „Tim hat mich angegriffen.“
„Was? Aber…“ Sie sank auf einen Sessel und faltete die zitternden Hände im Schoß. „Warum denn? Und wo ist er jetzt?“
„Ich musste mich verteidigen und…“ Er unterbrach sich und tastete nach seiner Schulter. Er wollte ihr nicht in die Augen sehen und sie sehen lassen, dass er über einen Mord nachgedacht hatte. „Dein Bruder hat ihn ins Krankenhaus gebracht.“
„Im Krankenhaus? Aber… Aber warum hat er das denn gemacht? Dich angegriffen?“ Ihre Augen waren groß und flehend und Victor konnte nicht anders, als es ihr zu sagen.
Er seufzte. „Irgendwie ist er auf die Idee gekommen, ich hätte deiner Mutter etwas angetan.“
„Aber… Das verstehe ich nicht. Warum hat er denn das gedacht?“ Sie sprang auf.
„Was weiß denn ich. Er ist ein Säufer. Wer weiß, was er sich denkt.“ Er hätte es nicht persönlich werde lassen dürfen. Ruhig reagieren. Tim Geld geben und ihn wegschicken, wohin auch immer er wollte. Oder, im schlimmsten Fall, ihn aus dem Weg räumen lassen. Die eigenen Hände rein halten.
Seine pochende Schulter widersprach, weckte ihn ihm Fantasien, die Kehle des Rivalen zwischen den Fingern zu zerquetschen.
„Ich muss mit ihm reden.“ Audrey rannte zur Tür.
„Audrey! Warte.“ Victor stand auf und ignorierte den Vorschlag aus seiner Brust, sie einfach in ihr Zimmer zu sperren, bis sich die Situation beruhigt hatte.
Sie blieb an der Tür stehen und er lehnte sich an den Rahmen. Er musste mehr Blut verloren haben, als er gedacht hatte.
„Lass ihn, Audrey. Er ist nicht gut für dich. Er ist gefährlich.“
„Aber warum hat er das gesagt?“ fragte sie.
Er schüttelte seinen Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber ich habe deine Mutter geliebt. Ich hätte ihr nie etwas angetan.“
„Ich will ehrlich mit Ihnen sein“, sagte die blonde Frau. Sie hatte die letzte Stunde das Essen auf ihrem Teller von einer Seite zur anderen geschoben, ohne etwas zu sich zu nehmen. Früher einmal war sie schön gewesen, aber Angst und Entbehrungen hatten ihre Schönheit verbraucht. „Wir wissen ja beide, dass mich meine Mutter hergeschickt hat, damit ich jemanden finde, der mich und meine Tochter aushält.“ Sie hielt inne und wurde rot. „Und inzwischen weiß ich nicht mehr, ob sie nicht recht hat. Meine erste Ehe war eine Liebesheirat und Sie sehen ja, wo mich das hingebracht hat.“ Sie lächelte traurig. „Liebe reicht nicht aus.“
Er dachte an Lucelles Liebesbeteuerungen, immer zu viel, manchmal nahe am Wahnsinn und manchmal mitten drin und wie er gar nichts gefühlt hatte. Vielleicht war es besser, wenn keiner falsche Vorstellungen von der Beziehung hatte. Wenn keiner etwas fühlte.
Und später dann, wie sie auf seine Einladung, eine Zeitlang auf dem Manoir zu wohnen und sich kennenzulernen, die Auffahrt hinaufgekommen war, Audrey an der Hand.
Das kleine Mädchen hatte seine Mutter zu sich heruntergezogen und ihr etwas ins Ohr geflüstert und Ambers Lächeln erhellte ihr Gesicht.
„Ich weiß nicht, frag ihn selbst“, hatte sie gesagt und Audrey hatte ihn angesehen und war herausgeplatzt: „Mama hat gesagt, hier gibt es Pferde!“
Er hatte gelacht. Es war eine ganze Weile her, seit er einfach aus Freude gelacht hatte.
„Wir haben zumindest einen Stall. Möchtest du nachsehen, ob Pferde drin sind?“
Sie hatte genickt. Er hatte seine Hand ausgestreckt und sie hatte sie ergriffen ohne zu zögern. Ihre kleinen Finger in seiner großen Hand und er hatte sich gefragt, warum er nie die Hand seines eigenen Sohnes so gehalten hatte.

„Schon gut“, sagte Audrey leise. „Vielleicht hast du Recht. Ich… ich will jetzt ein bisschen spielen.“ Sie ging in das Musikzimmer und gleich darauf hörte er leise Töne, Anfänge von Melodien, die immer wieder abbrachen und neu ansetzten.
Victor legte sich auf sein Bett und schloss die Augen. Er musste sich ausruhen, ob er wollte oder nicht. Etwas Kraft schöpfen.

Seine Träume waren fiebrige Fetzen, die zum dröhnenden Takt eines Herzens pulsierten. Der letzte Blick aus den Augen der Beute, ihr Schrei erstickt in sprudelndem Blut aus der zerfetzten Kehle; das zischende und fauchende Weibchen zu Boden gedrückt und die kurze Ekstase der Paarung; rote Striemen von den Klauen des Rivalen, doch der Schmerz machte ihn nur noch wütender und sein Genick brach zwischen seinen Kiefern. Dann die Witterung der Beute. Er folgte ihr durch den schweren Geruch der Magnolien, den Hauch von brackigem Wasser und den Rosenduft, so süß, dass er ihn auf der Zunge schmecken konnte. Die Erde war feucht und nachgiebig unter seinen Füßen, als er durch die Dunkelheit des Labyrinths schlich. Die Witterung lockte ihn weiter, jetzt mit dem dumpfen Geruch nach Sex und dem hellen nach Blut durchsetzt.
Dann stand Victor zwischen den Hecken vor dem Mausoleum seiner Vorfahren. Wie ein übrig gebliebener Traumfetzen hing der Geruch nach Blut in der Luft. Sein Magen zog sich zusammen. Ob aus Ekel oder Gier, konnte er schon nicht mehr unterscheiden. Seine Schulter pochte, als würde sich etwas seinen Weg nach draußen brechen.
Audrey kauerte auf dem Pfad und zog ihr blutbeschmiertes Nachthemd zwischen ihren Beinen hervor, um sich notdürftig zu bedecken. Sie weinte und sah ihn verwirrt und hilflos an.
Sie war jetzt nicht wichtig. Victor schob sie zur Seite und sie brach neben der Hecke zu einem schluchzenden Häufchen zusammen.
Sein Ziel lag auf dem Rasen vor dem Grab. Sein Sohn war nackt, sein Gesicht tränenverschmiert und zwischen seinen Beinen die deutlichen Spuren dessen, was hier vor einem Augenblick passiert war. Spindelbeinig und bleich sah er aus, wie ein unterirdisches Insekt, das man ans Tageslicht gezwungen hatte. Er blieb über seinem Sohn stehen und sah auf ihn hinab.
„Ich wollte es nicht“, flüsterte Vic. „Sie war besessen. Ich wollte es nicht.“
Die Kreatur in seiner Brust befahl ihm, das kranke, hilflose Wesen zu zerreißen. Er griff in die Haare seines Kindes und zerrte seinen Kopf zurück. Der Rest seines Verstandes hatte Schwierigkeiten, zu den eindeutigen Impulsen des Tieres aufzuholen. Hatte Vic gerade…? Mit Audrey…? Hatte er sie…?
„Wie konntest du nur“, sagte Victor. „Sie ist deine Schwester.“
„Es tut mir leid.“ Vics Augen sahen genau aus wie die eines Rehs. „Ich wollte es nicht.“
Victor holte aus. „Sie… ist… deine… Schwester.“ Jede Silbe wurde von einem Schlag mit voller Wucht betont.
Schwer atmend hielt Victor inne. Eines der braunen Augen, die noch immer zu ihm hoch starrten, war schon halb zugeschwollen. Blut lief aus Vics Lippe.
Victor öffnete seine Hand. Ein paar dunkle Strähnen blieben zwischen seinen Fingern zurück. Sein Sohn fiel in sich zusammen. „Ich wollte es nicht. Sie war besessen“, sagte er.
Victor stolperte zurück. Der Boden unter seinen Füßen hatte jede Stabilität verloren. Alles falsch. Alles.

Blut tropfte von dem Messer. Er half nicht mehr, der Augenblick zwischen Leben und Tod, er gab ihm keine Ruhe mehr.
Schreie aus dem Garten. Draußen fand er seinen Sohn, tränenüberströmt und die Tochter der Gladstones, die hilflos weinend versuchte, einer kleinen Frau den Kopf wieder anzusetzen. Ihre Puppen lagen auf dem Rasen verstreut, geköpft, erstochen, zerrissen. Das Puppenhaus war beschmiert: Hure. Schlampe. Nutte.
„Ich wollte es nicht! Ich wollte es nicht!“ Vic kauerte sich zusammen. „Er hat gesagt, er tut ihr weh, wenn ich es nicht mache. Er hat…“ Seine Stimme ging in blubbernden Geräuschen unter.
Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, doch noch ehe er reagieren konnte, legte sich eine Hand auf seinen Arm. „Schon gut, Victor“, sagte Lucelle. Ihr Mund war schmal zusammengepresst. „Kindererziehung ist meine Sache. Ich kümmere mich darum.“ Sie streckte ihre Hand aus. „Victor“, sagte sie. Die Finger des kleinen Jungen zitterten, als er ihre Hand nahm. Sie führte ihn fort. Noch einmal schaute er zurück zu seinem Vater, die Augen vor Panik geweitet.

Vor dem Mausoleum stand ein junger Mann. Es war der Schwarze, mit dem Soléne in ihrem Büro verschwunden war und der sie angegriffen hatte.
Nicht, dass das Victor noch besonders interessierte.
Der Junge drehte sich zu ihm um und starrte das blutige Messer an.
Es war mitten in der Nacht  und er kam auf dem Weg von seinem Büro zur Küche am Zimmer seines Sohnes vorbei. Leise drang seine Stimme durch die Tür. „Nein, nein, du lügst. Sie wollten mich.“ Nach einer Pause sagte er: „Das würden sie nicht tun. Du lügst. Du lügst. Sie sind meine Eltern, Eltern machen das nicht wie bei Old Yeller. Sie würden mich nicht einfach…“
Mit einer Hand schob er die Tür ein Stück auf. Sein Sohn war alleine.

Victor wischte mit seinem Einstecktuch das Blut von der Klinge. „Hast du schon einmal das Gefühl gehabt, dass dein ganzes Leben eine Lüge war?“
Er rauchte eine Nachmittagszigarre und sah aus dem Fenster. Audrey saß mitten im Garten zwischen den Rosen. Eine Libelle brummte heran und landete auf ihrer ausgestreckten Hand. Sie nahm das Insekt vorsichtig zwischen zwei Finger. Es hielt absolut still. Mit einer Fingerspitze strich sie über einen der schimmernden Flügel.
Dann riss sie ihn aus. Die Libelle versuchte, mit ihrem verbliebenen Flügel abzuheben, drehte sich aber nur im Kreis. Audrey zuckte zusammen und ließ mit einem Schrei die Libelle fallen. Sie sprang auf, sah verwirrt das Insekt an und fing an zu weinen.

„Hey Mann“, sagte der Schwarze. „Ich weiß nicht, was mit dir nicht stimmt, aber ich muss da rein und was holen.“
„Nein“, sagte Victor. „Ich werde dir das Herz nicht geben. Es ist die einzige Chance, die mein Sohn noch hat.“
Victor nahm einen Stapel verstaubter Zeitungsartikel und Briefe aus dem Regal. „Spricht etwas dagegen, wenn wir diese Dinger dem Stadtarchiv vermachen? Ich bezweifle, dass ich jemals die Zeit haben werde, mich eingehend mit unserer Familiengeschichte zu beschäftigen. Warum sollte das nicht jemand anderes tun?“ fragte er seinen Vater und blätterte rasch durch die Artikel.
„Das sollten wir besser lassen.“ Sein Vater sagte immer ‚wir’, auch wenn er ‚du’ meinte. „Ich fürchte, dass sie ein schlechtes Bild auf unsere Familie werfen könnten.“
Victor hob eine Augenbraue. „Satanismus?“ las er aus einem der Briefe vor.
Sein Vater machte eine wegwerfende Handbewegung. „Gerüchte, natürlich, aus einem abergläubischeren Zeitalter. Aber wollen wir wirklich, dass der Name ‚Sauvageau’ in Zukunft mit derartigen Begriffen in Verbindung gebracht wird?“
„Vermutlich nicht“, sagte Victor. „Allerdings würde mich jetzt doch interessieren, wie diese Gerüchte überhaupt in Umlauf geraten sind.“
„Plötzlicher Reichtum lockt immer Neider auf den Plan“, sagte sein Vater. „Und wenn dann noch eine hässliche lokale Legende hinzukommt, wird jedes Unglück sofort mit übernatürlichen Ereignissen in Zusammenhang gebracht. Denk an meinen Bruder oder was mit deiner Großmutter passiert ist. Beides wäre vor hundert Jahren dem Teufel zugeschrieben worden.“
„Mir war nicht bewusst, dass die Sauvageaus es schon zur Legendenbildung gebracht haben“, sagte Victor.
„Oh, das ist eine sehr alte Geschichte, die inzwischen Gott sei Dank in Vergessenheit geraten ist. Es hieß, dass unser Ahnherr Victor le Ancien“, er wies auf das Ölportrait eines Mannes in Kleidung aus der Zeit des Bürgerkrieges, „einen Handel mit dem Teufel eingegangen sei, um an seinen Reichtum zu kommen. Harte Arbeit ist natürlich weniger spektakulär als Satanismus. Dem Teufel versprach er seine Seele und die seiner Kinder. Doch da Victor kein Interesse daran hatte, den Handel einzuhalten, verführte er eine von diesen Voodoo-Göttinnen und ließ sich ihr Herz schenken. Das Herz konnte den Teufel fernhalten und die Göttin hätte es auch nur wiedererhalten können, wenn Victor es ihr geschenkt hätte. Angeblich liegt das Herz noch in seinem Mausoleum. Ich hatte einmal Gelegenheit es anzusehen und es befindet sich tatsächlich ein Stein darin, der wie ein menschliches Herz aussieht. Ohne Zweifel ist dieser makabere Grabschmuck der Ursprung der Legende.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, eine unnötige Geschichte, die wir aber nicht an die große Glocke hängen sollten. Es gibt immer Menschen, die so etwas wörtlich nehmen.“

„Euch gehört’s nicht“, sagte der Schwarze. „Es gehört meiner Mutter und sie braucht es. Und ich nehm’s mir, ob ihr wollt oder nicht.“
„Nein“, sagte Victor und für einen Augenblick sah es so aus, als würde der Schwarze sein Gesicht vor Wut verziehen. Dann erkannte Victor die Reißzähne, den tiefschwarzen Körper, die Klauen, die sich in seine Brust bohrten. Er musste lachen. Und er hatte Soléne vor ihrem eigenen Blag beschützen wollen.
Er schloss seine Augen und ließ sich fallen. Vielleicht war es nicht das Schlimmste, hier zu krepieren. Schluss machen.
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Offline Nocturama

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #14 am: 27.09.2012 | 19:35 »
Nein. Vic und Audrey waren noch da, so einfach konnte er es sich nicht machen. Er öffnete seine Augen, blinzelte den Schmerz weg und versuchte, Kraft zu sammeln. Er sah den jungen Mann mit dem herzförmigen Stein aus dem Mausoleum kommen und wegrennen.
Er versuchte, sich aufzurichten. Ein neuer Schwall Blut quoll aus den Wunden an seiner Brust und er sank wieder zurück.
Ein paar Sekunden später, tauchte der Schwarze wieder am Eingang zum Labyrinth auf. Er fluchte und drehte wieder um. Aber kurze Zeit später stand er schon wieder vor dem Mausoleum. Er sah sich hektisch um, stolperte zurück und war wieder verschwunden.
Victor musste noch einmal lachen. So einfach war es wohl nicht. Mühsam kam er auf die Knie und zog sich an der Hecke hoch.
Eine Bewegung am Eingang zu Labyrinth. Diesmal war es nicht der Schwarze, oder nicht nur der Schwarze. Audrey, Vic und Tim. die ganze Truppe. Und eine alte Frau, die dunkle Haut grau und faltig, die Haare schlohweiß. Soléne? Kein Wunder, dass sie ihr Junges geschickt hatte.
Vic sah ihn an und erschauerte. Victor konnte es ihm nicht verübeln und nicht nur, weil er voller Blut war und ein Messer hielt.
„Das Herz. Gebt mir das Herz“, sagte Soléne und sah dabei Victor an. Antoine streckte seine Hand aus, aber sie schüttelte den Kopf. „Einer von ihnen muss es mir geben. Ein Sauvageau.“
Victor schüttelte seinen Kopf. Er hatte sich am Mausoleum entlang in Vics Nähe geschoben. Ein glänzend roter Streifen prangte jetzt am hellen Marmor.
„Nein“, sagte er. „Ich verdiene das vielleicht, aber nicht mein Sohn.“
Vic sah ihn aus seinen großen braunen Augen an, denen seiner Mutter so ähnlich, aber zerbrochen wie Spiegel. Mehr als sieben Jahre Pech. „Nein, Vater. Nein“, sagte er. „Ich will nicht, dass du stirbst. Und ich… ich kann nicht mehr. Aber du kannst weiterleben.“
Victor berührte die Wunden an seiner Brust. Es wäre besser, wenn Vic ihn angeschrien hätte, wenn er wütend geworden wäre, aber er hatte aufgegeben, still und leise.
„Was habe ich denn noch?“ sagte Victor. „Nach all dem?“
„Du kannst es ignorieren. Das hat doch früher auch immer funktioniert“, sagte Vic.
Die Anklage hatte Victor verdient.
„Dafür ist es jetzt zu spät“, sagte Victor und zwang sich, seinem Sohn weiter in die Augen zu sehen.
„Es spielt keine Rolle mehr“, sagte Soléne. Ihre Stimme war noch immer tief und rauchig. „Das Herz stirbt und wenn es nicht mehr schlägt, holt euch der Teufel. Gebt es mir. Eure Chance ist längst vorbei.“
Victor sah seinen Sohn an, die tausend Splitter, in die er zersprungen war. Es war zu spät. Zu spät, ihn zu retten. Er hätte damals etwas tun müssen. Nicht alles ließ sich wieder gut machen. Ja. Seine Chance war längst vorbei.
Er richtete sich auf. „Gib mir das Herz“, sagte er zu Antoine und bediente sich ein letztes Mal der Autorität des Firmenpräsidenten und des Familienoberhauptes.
Antoine warf Soléne einen Blick zu und gab ihm dann den Stein. Unter der glatten Oberfläche konnte Victor den Herzschlag spüren. Seine Schulter antwortete schwach.
„Willst du wirklich…“ Seine Stimme versagte. „.Willst du wirklich sterben?“
Sein Sohn nickte.
Victor drehte sich zu Soléne um, die schon näher gekommen war und ihre Finger nach dem Herzen ausstreckte.
„Nein.“ Vic machte eine Bewegung nach vorne und Victor zog seine Hand zurück.
„Der Teufel, er bekommt unsere Seelen“, sagte Vic und schlang seine dünnen Arme um sich. „Ich will das nicht. Ich will nicht, dass er meine Seele bekommt. Er hat schon gesagt, was er damit machen will.“ Victor hätte ihn gerne in die Arme genommen. Ihn gewärmt. Aber was hätte er schon für Wärme zu geben?
„Es ist besser, wenn wir sterben“, sagte Vic. „Bevor der Teufel uns holt.“
„Wartet.“ Tim, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, machte jetzt einen Schritt nach vorne. „Hier muss gar niemand sterben.“
Zu spät. Zu spät. Victor hob das Messer und fasste es an der Klinge. Er hielt es seinem Sohn hin. „Ich habe nie zugehört und ich habe deine Wünsche nie respektiert. Vielleicht sollte ich das jetzt tun…“
Vic nahm das Messer vorsichtig in die Hand. „Ich… ich kann nicht. Das wäre eine Todsünde“, sagte er.
Victor stemmte sich von der Mauer ab. Wenn er seinen Sohn töten musste, um seine Seele zu retten, würde er das tun. Mehr blieb nicht übrig.
Aber Vic drehte sich zu Audrey um und drückte ihr das Messer in die Hand. Sie schüttelte nur stumm ihren Kopf-
„Nein! Es ist mein Herz! Ihr könnt nicht… gebt es mir!“ Soléne sank auf die Knie. Ihre alten Knochen knackten. „Victor“, sagte sie und hob ihre Hände. „Du hast mich einmal geliebt, weißt du nicht mehr? Bitte, gib es mir.“
Victor sah auf sie hinab. „Nein“, sagte er einfach und sie zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen.
„Nein? Nein?“ zischte sie und mit einem Satz war sie in seiner Nähe und umklammerte seine Beine. Licht sammelte sich um ihre Gestalt und das Herz in seiner Hand wurde unerträglich warm. Weißglühende Hitze durchströmte seinen Körper und verbrannte alle Kraft, die er noch gehabt hatte. Ohne einen Laut fiel er zu Boden. Er konnte nicht einmal mehr seinen Sturz abmildern.
So oder so würde es für ihn jetzt nicht mehr lange dauern.
Das Herz rollte aus seiner Hand und Tim vor die Füße. Er hob es auf.
„Hört auf damit! Hört alle auf damit!“ Audrey hatte immer noch das Messer in der Hand. Victor versuchte, aufzuspringen, aber nicht mal ein Finger gehorchte ihm.
Tim griff nach Audrey. Das Messer zuckte herunter. Für einen Augenblick rangen sie miteinander, dann breitete sich Blut auf Audreys weißem Kleid aus.
Victor schloss für einen Augenblick seine Augen. Beide Kinder verloren. Er konnte niemanden beschützen.
„Ich kann sie retten.“ Soléne sah nur noch aus wie ein Haufen Haut und Knochen. Sie hob eine zitternde Hand und zeigte auf das Herz. „Gebt mir das Herz, dann kann ich sie heilen.“
Vic, der seine Hände an die Seiten seines Kopfes gepresst hatte und sich geschüttelt hatte, als könnte er damit die letzten Ereignisse abwerfen, blieb stehen. Er sah seinen Vater an.
Victor nickte schwach. Sein Sohn erwiderte das Nicken.
„Nimm es dir“, sagte Victor. „Ich gebe dir dein Herz. Es gehört dir.“
Tim wich zurück, aber Antoine nahm ihm den Stein ab und reichte ihn seiner Mutter. Sie atmete tief auf, als sie ihn in ihren Fingern hatte. Er zerfloss wie schmelzendes Fett und drang in ihre Hände ein, zog Bahnen aus Licht durch ihren Körper, löste ihn auf in ein urtümliches Glühen, wie es vielleicht schon über prähistorischem Magma geleuchtet hatte. Stücke trieben von ihr fort wie Funken aus einem Lagerfeuer und das Licht nahm ab.
„Nein!“ sagte Vic ungewohnt laut. „Wir hatten einen Handel! Audrey.“ Er wies auf die leblose Gestalt seiner Schwester.
Für einen Moment zogen sich die Funken wieder zusammen. Die Gestalt berührte Audreys Wunde und das Fleisch schloss sich. Das Mädchen keuchte erschrocken auf und fuhr hoch. Ihr Blick wanderte von der Lichtgestalt zu den beiden Victors und sie sank wieder in sich zusammen. „Nein“, flüsterte sie. „Warum habt ihr das gemacht? Ich hätte alle retten können…“
„Aber nicht, wenn du sterben musst. Du kannst doch nicht sterben. Nicht du“, sagte Vic.
Audrey sprang auf. „Aber du? Ich dachte, dass du meinen Kindern auf deiner Violine etwas vorspielst. Dass wir noch ganz oft gemeinsam singen können. Ich dachte, wir…“ Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie ließ sie laufen.
Neben Victor kniete sie nieder. „Und du, Papa, ich habe gedacht, dass du mit deinen Enkeln im Garten spielen würdest. Dass wir alle zusammen sind und glücklich…“ Ihre Stimme zerfaserte. „Was soll ich denn ohne euch machen?“
Victor hob eine Hand. Sie zitterte und hinterließ einen Strich aus Blut auf ihrer Stirn, als er ihr die Haare aus dem Gesicht strich.
Er sah ihr fest in die Augen und für einen Moment verdrängten Hoffnung und Stolz all den Schmerz. „Du bist meine Tochter“, sagte er und legte seine Finger an ihre Wange. „Du schaffst das.“
„Ich bleibe hier“, sagte sie. „Bei euch, wenn er kommt. Wenn er kommt…“ Sie hob ihren Kopf. „Wenn er kommt, dann will ich dem Teufel in die Augen sehen und ihn verfluchen.“
Vic schrak zusammen und schüttelte seinen Kopf. Victor schüttelte auch seinen Kopf, so weit er es noch vermochte.
„Nein“, sagte Vic. „Das darfst du nicht, das darfst du nicht. Er darf nicht auf dich aufmerksam werden. Nicht auf dich.“
Jetzt trat auch Tim hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Komm mit uns“, sagte er leise. „Es ist besser so.“
Für einen Moment presste sie ihre Lippen aufeinander, dann atmete sie stockend aus und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen.
„Passt auf sie auf, bitte“, sagte Vic und sah von Tim zu Antoine.
„Keine Angst“, sagten die beiden Männer fast gleichzeitig. Vic nickte ernst.
Victor beobachtete, wie die drei Gestalten im Labyrinth verschwanden. Er vertraute weder Tim noch Antoine, aber er vertraute Audrey. Er vertraute darauf, dass sie stärker war als ihr Vater.
Die Wunde an Victors Brust hatte aufgehört, zu bluten. Vermutlich war das ein schlechtes Zeichen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Victor machte eine Handbewegung und bat seinen Sohn zu sich hinüber. Vic setzte sich neben ihn auf den Boden und fing leise an zu singen. Er hatte eine schöne Stimme, samtig und zart wie die Flügel eines Nachtfalters. Vorher war das Victor nie aufgefallen.
Mit letzter Kraft richtete er sich auf. Er umarmte seinen Sohn und fragte sich, ob er das überhaupt schon mal gemacht hatte, Vic einfach nur zu halten. Der Junge versteifte sich in seinen Armen, ließ dann aber die Berührung zu. Victor drückte sein armes, zerbrochenes Kind an seine blutige Brust, sein Kind, dass er erst nicht hatte vor dem Monster beschützen wollen und jetzt nicht vor dem Monster beschützen konnte. Sein Gesicht war nass und mit Erstaunen stellte Victor fest, dass er weinte.
Er strich seinem Sohn über den Kopf und sagte: „Es tut mir leid. Es tut mir leid. Verzeih mir.“
Vic unterbrach sein leises Singen. „Schon in Ordnung, Dad“, murmelte er. Dann sang er weiter.
Victor sah auf. Am Eingang zum Labyrinth stand ein Priester und lächelte.
Er sagte: „Endlich.“
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Offline Timberwere

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #15 am: 16.10.2012 | 10:20 »
Ich habe euch noch gar nicht gesagt, wie brilliant eure Diaries geworden sind. Ich habe sie gerade nochmal alle gelesen und war wieder völlig begeistert. Vielen, vielen Dank!

Achso, zu den Karten. Wir hatten folgende:

- Ja, und ... es klappt, aber mehr als du erwartet hattest, vielleicht sogar etwas zu viel.
- Ja, aber ... es klappt, aber mit völlig unerwarteten Konsequenzen
- Ja, aber ... es klappt, aber nur, wenn du ein Opfer dafür bringst
- Nein, aber ... es klappt nicht, aber etwas anderes, das damit nichts zu tun hat, bringt dir einen Vorteil
- Nein, aber ... es klappt nicht, aber die Auswirkungen sind nicht katastrophal
- Nein, und ... es klappt nicht, und es geht noch etwas anderes schief
- Du brauchst Hilfe, damit es klappt
- und 2x "der Konflikt eskaliert".

An meinem eigenen Diary aus Antoines Sicht schreibe ich übrigens noch. Aber es ist nicht vergessen! :)
« Letzte Änderung: 18.10.2012 | 09:24 von Timberwere »
Zitat von: Dark_Tigger
Simultan Dolmetschen ist echt kein Job auf den ich Bock hätte. Ich glaube ich würde in der Kabine nen Herzkasper vom Stress bekommen.
Zitat von: ErikErikson
Meine Rede.
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #16 am: 1.11.2012 | 10:53 »
So, wie versprochen, hier das Diary aus der Sicht meines Charakters. Oder zumindest das erste Drittel (der erste "Akt") davon. Ich schreibe noch daran weiter, aber ich wollte den Anfang schon mal posten, um zu zeigen, dass es nicht vergessen ist.

Was die Triggerwarnungen betrifft, so wird es im nächsten Teil ein oder zwei Szenen mit einiger Gewaltdarstellung geben, ansonsten die von Bad Horse und Nocturama schon erwähnten sexuellen Konnotationen, auch wenn die aus Antoines Charaktersicht nur ganz am Rande angerissen werden.

***

Schwarze Katze

Antoine beobachtet die Häuserfront aus zusammengekniffenen Augen. Er schlägt die Tür seines Pickup zu, ohne sich mit dem Schlüssel aufzuhalten. Sondiert die Lage. Irgendwas ist da heute abend los im Le Chat Noir, soviel ist mal klar. Oder warum steht da sonst so ein feiner Pinkel im Frack vor der Tür, mit einer Liste in der Hand und einem feist-arroganten Grinsen im Gesicht? Antoine hat noch kein Wort mit dem Weißbrot gewechselt, kann ihn aber jetzt schon nicht leiden. Arschloch.

Ein paar Meter vom Eingang des Clubs sitzt eine vage bekannte Gestalt auf der Straße. Schmal, nein mehr als schmal. Ausgemergelt, die schwarzen, ungepflegten Haare tief ins kreidebleiche Gesicht hängend. Ash nennen sie den, kurz für Achéron, weiß Antoine, und nickt ihm flüchtig zu. Die Geige, auf der der Typ rumfiedelt, gar nicht mal schlecht rumfiedelt, um genau zu sein, gehört auch dazu. Ash war mal in einer Band, eigentlich sogar auf dem aufsteigenden Ast, auf dem besten Weg zu einem Plattenvertrag, aber dann ist beim letzten Gig der Band irgendwas fürchterlich schiefgegangen. Randale und Tote und all sowas. Ein Bandmitglied hinüber, ein weiteres in der Irrenanstalt, ganz krasser Scheiß. Antoine ist ziemlich froh, dass er da nicht dabei war. Bei so krassem Scheiß ist es aber jedenfalls kein Wunder, dass dieser Ash danach völlig abgestürzt ist. Auch wenn er ja angeblich aus einer stinkreichen Familie kommen soll.

Auf der anderen Straßenseite lungert noch ein weißer Typ rum, älter, bestimmt schon in den Fünfzigern. Eindeutig kein reicher Pinkel: Die billigen Klamotten sind schon etwas abgetragen, aber dafür penibel sauber. Marke „ich hab nix, aber das wenigstens mit Würde.“ Antoine schnaubt unwillkürlich, als er den Kerl abcheckt, dann geht er selbstbewusst auf den feinen Pinkel am Eingang des Chat Noir zu. „Ist das hier der Club von Solène LeGuir? Ich muss mit ihr reden.“
Aber das Weißbrot lässt ihn eiskalt abblitzen. Geschlossene Gesellschaft und so. Arschloch. Hat er doch gleich gemerkt.

Antoine zackert noch mit dem Türsteher herum, hat sich bedrohlich vor ihm aufgebaut und ist kurz davor, rabiat zu werden, da fährt wieder ein Auto vor. Und was für eins. Langgezogene, silberne Limousine, so ein Ding, das gut und gern drei von Pa Raymonds Jahreslöhnen gekostet hat. Der Mann, der aussteigt, passt perfekt zu seiner Karre: Ein Weißer in den späten Vierzigern, vermutet Antoine, maßgeschneiderter, silbergrauer Anzug und Krawatte, die garantiert handgefertigten Lederschuhe auf Hochglanz poliert und kein Haar am falschen Ort.

Der Geck sieht sich um, bemerkt Ash mit seiner Geige. Verzieht einen winzigen Moment lang das Gesicht, so kurz nur, dass Antoine sich fragt, ob er das wirklich gesehen oder sich nur eingebildet hat. Geht auf Ash zu und wechselt einige Worte mit dem Jungen, zu leise, als dass Antoine sie verstehen könnte. Aber eins ist klar, die zwei kennen sich. Und die kennen sich nicht nur, die sind Familie. Ist das mit der stinkreichen Familie also kein Mythos.

Achéron wirkt ganz und gar nicht glücklich bei der Begegnung, antwortet leise und zögernd, folgt dann aber dem anderen – seinem Vater? Vermutlich. Direkt zum Eingang des Clubs, wo Antoine jetzt ein paar Schritte von dem Weißbrot weggetreten ist und Optionen gegeneinander abwägt. Der Gedanke, das Weißbrot aufzumischen, ist zwar verdammt verlockend, wäre aber wohl eher, wie heißt das Wort? Kontraproduktiv. Immerhin will er es sich mit Solène LeGuir nicht gleich verscherzen.

Zu Antoines Überraschung bleibt Ash neben ihm stehen, sieht ihn an und nickt ihm zu. Und wendet sich dann an das Weißbrot: „Der geht auf Audreys High School.“ Das Weißbrot mustert Antoine von oben bis unten, gibt den Weg mit einem missmutigen „Und warum sagst du das nicht gleich?“ dann frei. Antoine schüttelt die Überraschung ab und folgt den beiden Männern hinunter in den Club. Auf der Treppe bekommt er auf sein leises „Danke, Mann“ nur ein vages Handwedeln zurück. Seltsam. Naja. Vielleicht wollte Ash mit der Aktion ja nur seinen reichen Arsch von Vater ärgern. Aber was auch sein Grund gewesen sein mag, Antoine wird sich bestimmt nicht darüber beschweren.

Drinnen bekommt der Junge dann doch den Mund auf. Der Kerl im silbergrauen Anzug, der als erster den Club betreten hat, redet etwas abseits vom Eingang schon mit einer jungen Frau. Und was für einer. Antoine muss an sich halten, um nicht hörbar durch die Zähne zu pfeifen. Die Schnalle ist heiß. Tiefdunkles Gesicht, noch um einige Töne dunkler als sein eigenes. Ebenmäßige, sehr afrikanische Züge, die von der offenen Afro-Frisur, die sie trägt, noch betont werden. Volle, pflaumenrot geschminkte Lippen. Die Augen mit Lidschatten in derselben Farbe betont. Nicht sonderlich groß, aber perfekte Kurven. Perfekte Kurven in einem hochgeschlossenen, enganliegenden, langen schwarzen Kleid, das alles verhüllt und doch alles zeigt. Ein Eindruck katzenartiger Geschmeidigkeit und völliger Ausgeglichenheit. Gelassenheit gepaart mit... etwas. Kraft. Energie. Eine gespannte Feder. Heiß.

Ashs Stimme klingt drängend. „Pass vor der auf“, sagt der Junge, aber Antoine bekommt es erst gar nicht so mit. „Die ist nicht richtig.“ Antoine schüttelt sich kurz, reißt sich von dem Anblick los. „Hmm?“
„Sie ist kein Mensch.“
Einen Moment lang macht Antoine ein irritiertes Gesicht, aber dann winkt er ab. „Die interessiert mich nicht.“ Was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Aber er ist aus einem anderen Grund hier. Und der Junge klingt so panisch, dass Antoine ihn lieber nicht noch weiter aufregen will. „Ich muss nur zur Besitzerin.“

Die junge Frau kommt zu ihnen hinüber, zu Achérons sichtlichem Unbehagen. Etwas wie Panik spricht aus seinen Augen, und beinahe, scheint es Antoine, wäre er umgedreht und abgehauen, bleibt dann aber doch, zuckt nur sichtlich vor ihr zurück. Sie lächelt unergründlich und sagt was von einer Schwester, und der Junge verzieht sich in Richtung der Treppe.

„Ich suche Solène leGuir“, sagt Antoine zu der jungen Frau, die aus der Nähe eine noch viel umwerfendere Wirkung hat als von fern. „Die Besitzerin. Ist sie zu sprechen?“
Die Frau lächelt dasselbe unergründliche Lächeln wie eben zu Ash. „Sie stehen vor ihr. Was kann ich für Sie tun?“
Antoines Kinnlade klappt herunter. Er kann es nicht verhindern. Er ringt nach Worten wie ein frisch gefangener Fisch nach Wasser.
„Sie... Aber... aber... Sie können nicht... Sie sind so...“ Heiß, denkt er, spricht es aber nicht aus.
Sie lächelt wieder dieses Lächeln. „Ich bin Solène leGuir. Wirklich. Was gibt es denn?“
Ein wenig fängt Antoine sich. Sucht nach schonenderen Worten. Findet beim besten Willen keine. Eröffnet es ihr also ganz ungeschminkt.
„Ich heiße Antoine Dowling. Und wenn Sie Solène leGuir sind... dann bist du meine Mutter!“

Das trifft sie. Das trifft sie mindestens ebenso sehr, wie es ihn getroffen hat. Ihre Augen weiten sich. Ihre Hand fliegt zum Mund, den sie öffnet, um etwas zu sagen, ihn dann aber wieder schließt. Einen langen Moment starrt sie Antoine an. Dann murmelt sie etwas von einer „Vorstellung“ und flüchtet.

„So 'ne Scheiße“, flucht Antoine. Er macht die paar Schritte zur Bar und lässt sich einen Bourbon einschenken. Eigentlich darf er noch gar nicht trinken. Scheiß drauf. Als ob ihn das je gekümmert hätte. Und nach dem Schock schon gar nicht.

Den ersten Whiskey kippt er in einem Schluck herunter, den nächsten trinkt er langsamer. Bemerkt dann erst, dass der Typ in den abgetragenen Klamotten auch in den Club gekommen ist und sich jetzt an der Bar an einem Glas festhält. Er sieht definitiv nicht so aus, als wolle er hier sein.
„Sie sehen aus, als wäre Ihnen gerade etwas ziemlich in die Glieder gefahren“, sagt der Typ im Konversationston. Und Antoine ist derart perplex von der Begegnung mit (der scharfen Braut) seiner Mutter, und derart aufgewühlt, dass er dem Fremden tatsächlich erzählt, was los ist.
„Ich sollte hier meine Mutter treffen. Ich bin adoptiert, wissen Sie. Aber...“, er zeigt mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung, in die Solène verschwunden ist, „die ist meine Mutter. Die ist doch viel zu...“ heiß, denkt er wieder. „...jung, um meine Mutter zu sein!“
Der Typ macht ein mitfühlendes Geräusch.
„Ich meine, ich bin zwanzig... Selbst wenn sie mich mit sechzehn bekommen hat, die ist doch nie im Leben sechsunddreißig...“
Antoine bricht ab, als ihm bewusst wird, dass er sich mit seinem Geplapper vollkommen lächerlich macht vor diesem fremden Weißen. Aber der scheint nichts davon lächerlich zu finden, denn er beugt sich ein bisschen vor und nickt ernsthaft.
„Ich bin auch hier, weil ich nach sehr langer Zeit jemanden wiedertreffen werde. Und ich weiß auch noch nicht, wie das sein wird.“

Der Typ hat was an sich. Eine Art resignierte Ruhe strahlt er aus, schwer zu beschreiben, aber Antoine durchaus sympathisch. Vielleicht auch, weil sie beide hier völlig fehl am Platz sind. Denn inzwischen fängt der Club gut an, sich zu füllen, sind neben dem reichen Kerl aus der silbernen Limousine schon jede Menge anderer Leute aufgeschlagen. Eine Menge Teenager-Mädchen, nicht direkt in Prom Queen Finery, aber alle monstermäßig aufgebretzelt für den Abend im Club. Väter im Anzug, Mütter in Abendkleidern. Definitiv außerhalb ihrer Liga.
Völlig selbstverständlich suchen Antoine und der Fremde sich also gemeinsam einen Tisch, am Rand und etwas abseits der feinen Gesellschaft.
„Timothy leClerq“, stellt der Fremde sich vor.
„Antoine.“ Betont cool bringt er das. Überspielt damit das Unbehagen.

Zu viel mehr Gespräch kommen sie nicht, denn es geht los. Die Lichter, ohnehin schon auf gedämpfte Club-Beleuchtung eingestellt, werden noch weiter heruntergedimmt. Aufgeregtes Wispern von den Teenager-Mädchen. Nachsichtiges Lächeln, das Antoine nicht sehen kann, aber sich lebhaft vorstellt, von den Eltern.
(Seine Mutter) Solène leGuir tritt auf die Bühne, wo ein Mikrofon steht, von einem einzelnen Punktstrahler beleuchtet.

Ihre Beherrschung ist zurück. Wenn Antoine nicht wüsste, dass sie vor ein paar Minuten förmlich vor ihm geflohen ist, würde er nicht merken, dass ihr Blick einen Hauch von Unruhe in sich trägt, ihre Stimme ein klein wenig belegter ist als zuvor. Gebannt beobachtet er sie.
„Es ist mir eine große Freude und ich bin sehr stolz, heute eine meiner besten Schülerinnen zu ihrem ersten Auftritt vor Publikum anzukündigen. Und das auch noch zum Anlass ihres High-School-Abschlusses. Meine Damen und Herren, Audrey Sauvageau, an der Violine begleitet von ihrem Bruder.“
Zitat von: Dark_Tigger
Simultan Dolmetschen ist echt kein Job auf den ich Bock hätte. Ich glaube ich würde in der Kabine nen Herzkasper vom Stress bekommen.
Zitat von: ErikErikson
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #17 am: 1.11.2012 | 10:53 »
Eine Bewegung, mehr erahnt als gesehen, in Antoines Augenwinkel. Timothy leClerq ist bei dem Namen „Audrey Sauvageau“ zusammengezuckt. Interessant. Antoine legt den Gedanken zur Seite, denn der Punktstrahler erlischt. Und als er wieder aufflammt, steht am Mikrofon eine Gestalt. Blond. zierlich. Helle Augen, deren genaue Farbe in dem Licht und auf die Entfernung nicht zu bestimmen ist. Ein beigefarbenes Kleid, mit Pailletten bestickt, das das Mädchen eigentlich blass machen müsste, es aber nicht tut, sondern ihr richtig gut steht. Ein paar Jahre jünger als Antoine selbst. Vom Heißheitsfaktor her kein Vergleich mit (seiner Mutter) Solène, aber das Mädchen strahlt etwas aus... Güte. Unschuld. Und in diesem Moment am Mikrofon auch ziemlich viel Unsicherheit.

Im Hintergrund, die Geige in der Hand wie einen Rettungsanker, sitzt Achéron zusammengekauert auf einem Hocker. Das Gesicht ist wie üblich durch die darüber fallenden pechschwarzen Haare kaum zu erkennen. Er sieht seiner Schwester nicht sonderlich ähnlich. Aber vielleicht ist das Haar auch nur gefärbt und die Ähnlichkeit wäre größer, wenn man mehr von ihm zu sehen bekäme.

Audrey Sauvageau steht einen Moment lang nur da, konzentriert sich. Versucht offensichtlich, die Unsicherheit zu überwinden. Der reiche Arsch im silbergrauen Anzug, ihr Vater, nickt ihr zu, ein leichtes Lächeln um die Lippen. Erstaunlich. Als er vorhin aus seiner Nobelkarre ausgestiegen ist, hat es nicht den Eindruck gemacht, als würde er jemals ein Lächeln zustande kriegen.

Bei dem Nicken und dem Lächeln fasst Audrey sich und beginnt zu singen. Sie hat eine klare, süße Stimme, und Ashs Begleitung auf der Geige unterstreicht deren Zartheit noch.
Antoine wirft einen Seitenblick auf Timothy leClerq. Der Typ ist völlig versunken, die Augen wie gebannt auf Audrey, und er hat einen ganz seltsamen Ausdruck im Gesicht, Schmerz gepaart mit ... etwas. Stolz?

Das Mädchen singt ein Lied. Zwei Lieder. Nicht Antoines Stil, der entweder Hip Hop hört, oder dieses britische Trip Hop Zeug, oder, eher ungewöhnlich in seinen Kreisen, Alternative Metal wie Sevendust. Aber irgendwie zieht ihn der Gesang trotzdem in seinen Bann, um so mehr, als Audreys klare Stimme stärker wird, je mehr sie an Selbstsicherheit gewinnt. Antoine ertappt sich dabei, wie er selbst ein Lächeln auf dem Gesicht hat. Timothy leClerq lässt die ganze Zeit über den Blick nicht von ihr, oder zumindest immer gerade dann, wenn Antoine zu ihm hinsieht. Dann kommt Audrey zum Ende des zweiten Liedes. Hält inne und holt tief Luft, als sei sie selbst überrascht davon, wie gut das gelaufen ist, und lächelt. Fängt den Blick ihres Vaters ein („Papá“ nennt sie ihn) und dankt ihm für alles. Klar. Reiche Familie, reiches Mädchen. Eine Kindheit, die alles hatte. Antoine kann es direkt vor sich sehen: die Kleider, das Spielzeug, Reitstunden, Klavierstunden. Ballett. Er denkt immer verächtlich, dass reiche Kinder oft unglückliche Kinder sind, dass die ganzen Besitztümer keine Elternliebe ersetzen. Aber wenn das bei Ash so gelaufen sein mag – zumindest ließ die Begegnung mit seinem Vater vor dem Club sowas durchscheinen – macht seine Schwester diesen Eindruck jedenfalls nicht. Sie wirkt natürlich, unbefangen, völlig gelöst, als sie erst ihrem Bruder und dann ihrem Vater dankt und ihm sagt, dass sie ihn liebt.

Timothy leClerq zuckt etwas bei diesen Worten. Aber als das Mädchen sich gleich darauf zu ihrem Tisch wendet und Timothy direkt ansieht, zuckt Antoines Tischnachbar noch viel mehr. Von ihm spricht Audrey als „Dad“, sagt etwas von „langen Jahren“, und „willkommen!“
Das hat er also gemeint.
Timothy sieht bei allem erkennbaren Stolz auf seine Tochter aus, als wolle er am liebsten im Boden versinken, vor allem, als der reiche Arsch im grauen Anzug einen vernichtenden Blick auf ihn schießt.

Timothy ist definitiv kein reicher Arsch. Vermutlich hat Audreys Mutter ihn wegen des „Papá“ verlassen. Was das schlechte Verhältnis zwischen Achéron und ihm erklären dürfte. Je nachdem, wie alt Ash war, als die Trennung der leClerqs passierte.
Aber da stimmt was nicht. LeClerq hat nicht ein einziges Mal zu Ash hingesehen, war immer nur auf Audrey konzentriert. Anscheinend ist er doch nicht Ashs Vater. Also noch kompliziertere Familienverhältnisse. Manchmal ist Antoine richtiggehend froh, dass seine Familienverhältnisse, von der Tatsache seiner Adoption mal abgesehen, überhaupt nicht kompliziert sind. Ma Joyanne, Pa Raymond, und er. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte das so bleiben können. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er seine biologischen Eltern komplett ignoriert. Aber nein.

Antoines Gedanken werden ins Hier und Jetzt zurückgeholt, als Audrey und ihr Bruder auf der Bühne einen kleinen Disput haben. Sie hat gerade das nächste Lied angesagt, eines, das Ash selbst geschrieben hat, offensichtlich, und einen Moment lang sieht es so aus, als wolle der Junge sich weigern. Aber dann hebt er die Geige, noch immer widerwillig, und seine Schwester beginnt wieder zu singen. Auf Französisch diesmal, anders als die beiden ersten Lieder.
Vom ersten Ton an wird Antoine in die rastlose, düstere Stimmung des Songs gesogen. Er kann kein Französisch; nur das, was man halt in New Orleans so aufschnappt, wenn man hier geboren und aufgewachsen ist, aber nicht richtig. Also versteht er keinen Ton. Nur den Refrain, „le rêve dernier“, „der letzte Traum“, und irgendwo kommt das Wort „mort“ darin vor, „Tod“. Aber trotzdem versteht er das Lied, versteht dessen Inhalt, auf eine ganz seltsame, instinktive Weise, und es stellt ihm die Nackenhaare zu Berge. Weckt den Wunsch in ihm, aufzuspringen und sich in einer Orgie der Gewalt zu ergehen. Sein Messer zu ziehen und Blut unter der Klinge aufspritzen zu sehen, oder besser noch, unter seinen bloßen Händen. Als das Lied mit einem schrägen, dissonanten Ton endet, der dennoch auf perverse Weise passt, schüttelt er heftig den Kopf, um ihn klar zu bekommen, aber es dauert erschreckend lange Sekunden, bis er wieder im Hier und Jetzt angekommen ist.

Achéron ist von der Bühne verschwunden, Audrey steht noch da, sieht auf ihre Schulfreundinnen und deren Eltern herab, Verwirrung im Blick, ebensoviel Verwirrung, wie aus dem Stirnrunzeln und dem spärlichen Applaus des Publikums spricht.
Noch immer in dieser rastlosen Stimmung verfangen, springt Antoine auf. Scheiß auf Höflichkeiten und Abwarten, er muss jetzt mit seiner Mutter reden. Die steht an der Bar, das Gesicht unergründlich – hat ihr dieses letzte Lied gefallen? Hat es sie ebenso verstört wie ihn? Er kann es nicht sagen – und sieht ihn an, als er zu ihr tritt.

Das Gespräch beginnt stockend, förmlich. Wie zwischen zwei völlig Fremden. Aber genau das sind sie ja auch. Antoine weiß nicht genau, wie beginnen, setzt mehrmals neu an. Aber es gibt Dinge, die er wissen, Fragen, die er stellen muss, und das nicht hier draußen, nicht hier, wo jeder zuhören könnte, der nur ein bisschen die Ohren spitzt. Und so nimmt die junge Frau, die seine Mutter ist, ihn mit nach hinten in ihr Büro. Nichts Ungewöhnliches. Schreibtisch, Drehstuhl dahinter, zwei Besucherstühle davor. Regale mit Büchern und Ordnern an den Wänden. Zwei Drucke mit afrikanischen Motiven an der Wand – oder sind es Originalgemälde? Es sieht tatsächlich so aus.

Als sie allein sind, sieht Solène ihn an, mit diesem unergründlichen Blick. „Was möchtest du wissen?“
Es gibt eine ganze Menge Dinge, die Antoine wissen möchte, jetzt, wo er hier ist. Auch wenn er eigentlich immer gedacht hatte, dass ihm das alles egal wäre. Ist es anscheinend aber eben doch nicht. Wer ist mein Vater? Wie hast du dich gefühlt, all die Jahre? Und, jetzt auf einmal, unerwartet, die wichtigste Frage von allen. Warum hast du mich weggegeben?
Aber nichts davon sagt er laut. Stattdessen spricht er das Thema an, weswegen er in den Club gekommen ist, weswegen er überhaupt Informationen über seine leibliche Mutter eingeholt hat.

„Ich kann auf einmal Sachen. Und deswegen hab ich gehofft, du könntest mir helfen.“
Solènes Stimme klingt ruhig, gelassen. „Was für Sachen meinst du?“
„Seltsame Sachen. Sachen, die ich mir nicht erklären kann. Übernatürliche Sachen.“
Sie nickt aufmunternd. „Sprich weiter.“
„Naja... einmal war diese Gang hinter mir her. Lange Geschichte. Jedenfalls haben die mich gejagt. Wenn sie mich erwischt hätten, hätten sie mich fertig gemacht. Also bin ich gerannt. Gerannt, so schnell ich konnte. Aber die haben nicht aufgegeben, und sie haben aufgeholt, waren mir immer dichter auf den Fersen, und irgendwann konnte ich nicht mehr. Also hab ich mich in einen Türeingang gedrückt – völliger Blödsinn, die mussten mich da drin sehen. Haben sie aber nicht. Ich meine, ich stand da in der Tür, und die haben sich wie wild umgesehen und mich gesucht und einfach über mich weggesehen. Als wär ich unsichtbar gewesen oder sowas. Und ein anderes Mal hab ich gemerkt, dass mich einer anlügt. Hab's einfach gewusst.“
Das ist bei einem Deal gewesen, und die Sache wäre sowas von den Bach runtergegangen, wenn er dem Arschloch den Scheiß – den der Typ absolut glaubwürdig rüberbrachte, eigentlich hatte es keinerlei Grund gegeben, ihm nicht zu glauben – abgekauft hätte. Aber das tut jetzt nichts zur Sache.

Antoine zuckt ein wenig verlegen die Schultern. „So Sachen halt. Deswegen bin ich gekommen. Denn meine Eltern sind’s nicht, soviel ist mal sicher. Also hab ich gedacht, vielleicht weiß meine biologische Mutter, was das für ein Scheiß ist. Und beim Amt kannst du ja rauskriegen, wer deine biologischen Eltern sind. Also...“ Ein erneutes Achselzucken. „Also bin ich hier. Finde meine Mutter, und die ist... viel zu jung, um meine Mutter zu sein.“
Solène hat ihm stumm zugehört. Auch jetzt macht sie einen quälend langen Augenblick keine Anstalten zu antworten. Und als sie es dann tut, ist ihre Stimme so ungerührt wie immer.
„Du vermagst Dinge. Und du denkst, ich als deine Mutter könnte etwas damit zu tun haben.“
Antoine nickt, die Augen auf sie gerichtet.
„Und da wunderst du dich, dass ich aussehe, wie ich aussehe?“ Sie klingt kühl, spöttisch gar, und in ihren Augen meint Antoine etwas zu lesen, das ihm verdammt nach Verachtung aussieht.

„Wie kannst du so ruhig bleiben!? Das nehm' ich dir nicht ab!“
Solène lächelt nur, auf diese aufreizende Art und Weise, die ihn völlig wahnsinnig macht, und Antoine springt auf. Er weiß selbst nicht genau, was er eigentlich will. Die Antworten aus ihr herausprügeln? Sicherlich nicht. Aber er ist wütend: Er will endlich wissen, was verdammt nochmal los ist, will sie an den Schultern packen, schütteln, diese unnatürliche Ruhe von ihren Zügen verschwinden sehen.

Irgendetwas – etwas Unbestimmbares, aber irgendwie Animalisches – fliegt über ihr Gesicht. Und Antoine fühlt sich plötzlich festgehalten, kann sich nicht rühren, obgleich Solènes Hände weiterhin locker an ihren Seiten hängen. Sie sieht ihn spöttisch an, zeigt keinerlei Anzeichen von Anstrengung oder dergleichen. Ihre Stimme ist noch immer weich, aber jetzt mit eiserner Härte darunter. Ein Raubtier, das mit zahnloser Beute spielt.
„Und du wunderst dich, dass ich ebenfalls Fähigkeiten habe, und zwar größere als du?“ Sie lacht leise. „Du musst noch sehr viel lernen.“

Antoine faucht wütend auf. Und es passiert... etwas in ihm. Eine Anstrengung. Ein roter Schleier vor seinen Augen. Ein Druck in seinem Kopf, der sich aufbaut. Ein metallisches, lauter werdendes Knirschen, das nur er hören kann, das er sich vermutlich auch nur einbildet, um eine Vorstellung zu haben, die dem nahekommt, was da passiert.
Und dann explodiert die Druckwelle weg von ihm. Der Schreibtisch kippt um, Papiere flattern wild durch die Luft. Solène wird zurückgeschleudert in das Bücherregal an der Wand, fällt. Doch das sieht Antoine kaum mehr, denn er ist frei, und er stürzt aus dem Raum, aus dem Club, vorbei an erstaunten weißen Gesichtern, die Treppe hinauf und vorbei an dem Arschloch von Türsteher hinaus in die schwül-warme Nachtluft. Nur raus. Nur weg.
« Letzte Änderung: 1.11.2012 | 13:56 von Timberwere »
Zitat von: Dark_Tigger
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Zitat von: ErikErikson
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #18 am: 3.11.2012 | 12:45 »
Schön! :)

Ich freu mich schon auf die Fortsetzung.
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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #19 am: 3.11.2012 | 17:49 »
Ich auch. Is voll cool geworden.  :)
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Offline Timberwere

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #20 am: 6.12.2012 | 09:10 »
So, es hat etwas länger gedauert, aber hier ist Teil 2 von Antoines Diary. Ein dritter folgt auch noch, sobald ich ihn zusammengetippt habe. Das könnte allerdings bei der Masse an Arbeit, die ich momentan habe, ähnlich lange dauern wie bei diesem zweiten hier.

***

Schwarzer Kaffee

Ziellos wandert Antoine durch die Straßen. Die zwei Bourbon im Le Chat Noir waren bei weitem nicht genug. Heute nacht muss er sich besaufen. Ist nur die Frage, wo und wie. Auf seine Homies hat er im Moment jedenfalls sowas von keinen Bock. Die würden ihn nur zulabern, blöde Fragen stellen, auf die er selbst keine Antworten weiß. In irgendeinem Laden an irgendeiner Ecke stiehlt er eine Flasche billigen Whiskey. Denn auf eine Interaktion mit irgendeinem alten Ladenbesitzer und darauf, dem seinen gefälschten Führerschein vorzeigen zu müssen, hat er noch viel weniger Bock als auf seine Homies.

Als er den Park erreicht, ist die Flasche zur Hälfte leer. Antoine lässt sich auf eine Bank fallen und starrt in den Nachthimmel, während er nach und nach den Whiskey vertilgt und sich seine Gedanken im Kreis drehen wie außer Kontrolle geratene Jahrmarktsattraktionen.

Irgendwann sieht er auf. Eine Gestalt steht vor der Bank, schwankend, lässt sich dann neben ihn fallen. Achéron. In der Hand hält er eine vielsagende braune Papiertüte, aus der oben ein Flaschenhals ragt. Und auf der etliche braunrote Abdrücke zu sehen sind. Denn Ashs Hände sind blutig, völlig zerschunden.

Antoine blinzelt. „Wasn mit dir passier'?“ nuschelt er.
Der Junge zuckt nur mit den Schultern. „Ich habe für den Teufel gespielt.“ Seine Stimme klingt gleichmütig, als sei das eine völlig normale Alltäglichkeit.
Antoine ist zu aufgewühlt, und zu betrunken, als das ihn eine solche Eröffnung heute nacht noch groß schocken würde.
„Krasser Scheiß. Den Teufel. Alter.“
„Und was ist mit dir?“ Achérons Stimme klingt ähnlich undeutlich wie seine eigene.

Einen Moment lang schweigt Antoine, überlegt, wieviel er preisgeben soll. Aber, verdammt, der Junge hat ihn ins Le Chat Noir gebracht, oder zumindest dafür gesorgt, dass er ohne Ärger reinkam. Ein bisschen Info verdient er.
„Ich hab in dem Club meine Mutter gesucht. Ich bin adoptiert, weißt du.“ Er schüttelt den Kopf, lacht heiser auf. „Ich hab nur nicht das gefunden, was ich erwartet hatte.“
Ash macht ein vage zustimmendes Geräusch, und ehe er es sich versieht, kommt ihm das Geständnis zum zweiten Mal an diesem Abend über die Lippen.
„In letzter Zeit sind so komische Sachen passiert.“ Er starrt den Jungen herausfordernd an. „Kram halt, okay?“
Ash sieht Antoine fragend an. „Kram?“
Verdammt. „Ich weiß gar nicht, ob ich dir das überhaupt erzählen sollte. Du hältst mich eh nur für verrückt.“
Aber davon lässt der Junge sich nicht abschrecken. „Ich bin verrückt“, erklärt er trocken. „Ich höre den Teufel reden, weißt du noch?“

Also erzählt Antoine zum zweiten Mal an diesem Abend die verrückte Geschichte von der Gang, die ihn verfolgt hat. Von der Lüge, die er sehen konnte. Von der Tatsache, dass er adoptiert ist. Vom Schock, in dem jungen Mädchen, das kaum älter wirkte als er selbst, seine Mutter zu finden.
„Ich meine, sie ist so...“ Mit den Händen macht er eine vage Bewegung, deutet Solènes Kurven an. „... heiß.“ Schüttelt den Kopf, zuckt hilflos die Schultern. Stellt fest, dass der Whiskey leer ist, und greift beiläufig nach Achérons Papiertüte, auch wenn er keine Ahnung, hat, was für einen Fusel der Junge da drin hat. Aber darauf kommt es auch gar nicht an. „Ich bekomm mein Hirn da nicht drumrum. Wie kann das gehen? Ich meine, sie ist so...“
Antoine bricht ab und nimmt einen Schluck, verzieht das Gesicht. Billigster Fusel. Egal.
„Ich hab doch gesagt, sie ist kein Mensch“, kommentiert Ash sachlich. Antoine runzelt erst die Stirn, nickt dann aber.
„Du hattest recht – sie hat irgendwas mit mir gemacht. Hat mich festgehalten, irgendwie mit ihrem Geist, aber ich ... hab mich losgerissen. Hab sie weggestoßen. Keine Ahnung, wieso ich das konnte.“
Der Billigfusel schmeckt mit jedem Schluck erträglicher. Wortlos reicht Antoine dem Jungen die Flasche zurück. Ist immerhin seine.
„Warst du das, der das Büro so verwüstet hat?“, fragt der nach einem Moment. Antoine nickt.
„Ich musste einfach nur da raus. Sie... ich... sie war so...“ Wieder fehlen ihm die Worte, wieder fällt er auf das einzige zurück, das seine Empfindungen, wenn auch völlig unzureichend, wenigstens annähernd beschreibt. „... so heiß.“

Antoine legt den Kopf in den Nacken, starrt einen Moment lang ins Nichts.
„Wieso kann ich das? Mich unsichtbar machen, mit meinen Gedanken Leute durch die Gegend werfen... Was ist da los? Ist das der Teufel?“
Der Teufel – bisher war das immer ein abstraktes Konzept. Nenn es den bösen Trieb. Versuchung und Sünde, ja. Himmel und Hölle, ja. Aber eben ... abstrakt. In Antoines Vorstellung, wie er aufgewachsen ist in seiner methodistischen Familie, mit Kirchgang und Sonntagsschule, ist man für die Dinge, die man tut, selbst verantwortlich. Ist das, was man tut, gewissermaßen privat. Nur zwischen sich selbst und dem Herrn der Welt.
Aber Antoine ist betrunken, und ihm sind all diese seltsamen Dinge passiert. Und der Junge hat so überzeugt gewirkt, als er vom Teufel sprach. Inzwischen würde er fast glauben, dass seine Fähigkeiten vom Teufel kommen könnten.

Achéron jedoch schüttelt entschieden den Kopf. „Das ist nicht der Teufel.“ Er trinkt einen Schluck aus seiner Flasche, wiegt dann nachdenklich den Kopf. „Ich glaube, du bist selbst auch nicht ganz menschlich.“
Antoine wirft ihm einen schnellen Blick zu. „Ich? Ich bin ganz normal.“
Aber verdammt. Das stimmt eben nicht. Irgendwas ist anders an ihm, und wenn es irgendwelche Psi-Kräfte sind oder eine Mutation, wie bei den ganzen Comic-Superhelden.
„Deine Augen sind anders“, erklärt Ash unvermittelt.
Antoine starrt ihn durch den Schnapsnebel verwirrt an. „Wie meinst du, anders?“
„Sie sind golden“, kommt die Antwort. „Wie Bourbon.“
Auf unerklärliche Weise macht diese Aussage Antoine wütend. „Meine Augen sind braun!“, erklärt er heftig. Will es nicht glauben. Sieht sich doch jeden Morgen beim Rasieren im Spiegel, und seine Augen sind. Definitiv. Nicht. Golden.
„Nein, golden“, wiederholt Ash stur. „Mit einer senkrechten Pupille. Wie bei einer Katze.“
Antoine schüttelt den Kopf. Kann es nicht glauben. Will es nicht glauben. Und doch... es passt. Irgendwie passt es in diese ganze, verdammte, abgefahrene, kranke Scheiße.
Er muss wissen, ob der Junge recht hat. Also zieht er sein Messer und betrachtet sein Gesicht in der Klinge. Eine Sekunde. Fünf Sekunden, zehn Sekunden. Reglos. Lässt dann das Messer sinken, greift nach der Flasche und nimmt einen tiefen Zug.
„Golden. Krass, Alter.“

Irgendwann ist auch Achérons Flasche leer. Ebenso leer wie Antoines Kopf, in dem die Fragen und die Bilder und die Emotionen nur noch wie in Watte gepackt herumwirbeln. Und müde wird er. Ist schon spät, schon wieder früh, eigentlich. Beinahe wäre er auf der Parkbank eingeschlafen. Bekommt kaum mit, dass Ash ihn hochzieht, mit sich nimmt, irgendwohin, gar nicht weit.
Ein Haus. Eine Tür. Ein irgendwie abgestandener Geruch. Ein Matratzenlager, Decken. Noch etwas träge in ihrem Wattekokon weitersummende Gedanken. Schlaf.

Träume. Träume von Klauen und Zähnen und goldenen, längsgeschlitzten Augen. Der Geschmack von Blut in seinem Mund. Das Gefühl wilder Befriedigung, das ihn durchfährt, der Überlegenheit.
Ein Hauch von Wärme auf seiner Wange, Helligkeit auf seinem Auge. Mit einem Murren kommt Antoine zu sich, will den Sonnenstrahl wegwischen, der durch das staubige Fenster auf sein Gesicht fällt. Muss einen Moment lang überlegen, wo er hier ist und wie er hier hinkommt. Sein Kopf dröhnt.

Achéron ist nicht da. Ein Blick aus dem Fenster sagt Antoine, dass es ungefähr Mittag sein dürfte. Oder vielleicht auch schon früher Nachmittag. Verdammt, er hat zu lange geschlafen. Mühselig rappelt er sich auf. Sieht sich um. Kaffee. Alter, jetzt einen Kaffee.
Die „Wohnung“ ist allerdings weder groß noch irgendwie gescheit eingerichtet. Nicht einmal einen richtigen Esstisch gibt es. Etwas, mit dem er sich einen Kaffee machen könnte, und sei es nur eine Dose mit Instantpulver, findet Antoine in der heruntergekommenen Absteige jedenfalls nicht.
Er späht gerade in einen der Küchenschränke über der fleckigen Arbeitsplatte, da unterbricht ihn eine Stimme von der Tür her: „Unter dem Sink.“

Antoine wirbelt herum, angespannt wie eine Feder, die Linke schon zum Messer fahrend und bereit, jeden rivalisierenden Ganger, der ihn hier gefunden haben sollte, gründlich aufzumischen.
Doch dann entspannt er sich wieder, lässt die Messerhand locker an die Seite fallen.
Es ist Audrey Sauvageau.

Einen Moment lang starren sie sich nur an. „Sie!“, bricht es dann aus Audrey heraus, als sie ihn erkennt. Ihre Stimme klingt anklagend. „Was tun Sie hier?“
Antoine zuckt die Achseln. „Dein Bruder hat mich hier übernachten lassen.“
Das Mädchen runzelt die Stirn. „Einfach so?“
Antoine zuckt wieder mit einer Schulter. „Ergab sich so. Warum?“
Sie faucht beinahe. „Warum? Weil Sie... weil du... Du hast Solène überfallen! Warum hast du Solène überfallen?“
Der Vorwurf lässt ihn bitter auflachen. „Ich sie?! Sie hat mich angegriffen, Schwester!“
Audrey schnaubt ungläubig, mustert demonstrativ seine muskulöse Gestalt von oben bis unten. Ihre Antwort trieft förmlich vor Sarkasmus. „Ja sicher. Weil sie ja auch so viel stärker ist als du Bohnenstange!“
„Ist so.“ Antoine hebt beschwichtigend die Hände. Irgendwie hat er wenig Lust, sich mit diesem Blondchen zu streiten. „Frag sie selbst. Wenn sie nur einen Funken Ehre im Leib hat, wird sie es nicht verleugnen. Sie hat mich festgehalten, und ich hab mich bloß losgerissen.“
„Losgerissen. Und dabei hast du gleich das ganze Büro verwüstet!“
Antoine reibt sich mit verlegenem Gesicht den Hals. „Das war so nicht geplant. Ich wollte nur raus da.“
„Hmmm.“ Audrey ist noch immer nicht ganz überzeugt.
„Aber was meintest du da vorhin von wegen 'unter dem Sink'?“
Audrey sieht zur Kochnische hinüber. „Falls du die Kaffeemaschine suchst. Die steht unter dem Sink. Oben im Schrank sind nur Tassen.“

Ohne lange zu fackeln, macht das Mädchen Kaffee. Als das schwarze Gebräu fertig ist, lassen sie sich auf dem Rand des Matratzenlagers nieder – ein Tisch ist ja keiner da – und stellen die Tassen vor sich auf dem Boden ab. Und reden.
Antoine ist erstaunt, wie leicht ihm das mit dieser Gesprächspartnerin fällt. Sie unterhalten sich über alles mögliche, nur sein Verwandtschaftsverhältnis zu Solène leGuir erwähnt er zunächst nicht. Zu klar ist es, dass Audrey seine Mutter als eine fast gleichaltrige Freundin betrachtet; diese Illusion will Antoine ihr nicht zerschlagen, solange es nicht unbedingt sein muss. Dafür sprechen sie über Timothy leClerq, ihren leiblichen Vater, der früher ein Trinker war. Nie gewalttätig, sagt Audrey entschieden (Zu entschieden? Verdrängt sie da etwas? Nein, entscheidet Antoine, sie meint es ernst, sie versucht nur, ihren Vater zu verteidigen), aber er konnte nie einen Job behalten und trank dann in seiner Depression noch mehr, und dieser Teufelskreis brachte ihre Mutter dazu, Tim schließlich zu verlassen. Knapp zwei Jahre später heiratete sie dann Victor Sauvageau, den reichen Arsch im silbergrauen Anzug, und der wiederum adoptierte auch die neunjährige Audrey. Die nun folgenden Jahre waren wundervoll, erzählt Audrey träumerisch. Obwohl es anfangs keine Liebesheirat gewesen war, entstand doch echte Zuneigung zwischen ihrer Mutter und deren neuem Ehemann, und zwischen diesem und seiner Adoptivtochter – und auch mit Ash, Victors Sohn aus erster Ehe, verband Audrey bald ein echtes Band der Geschwisterliebe, obwohl er irgendwie seltsam war, seit sie ihm das erste Mal begegnete. Aber das war einfach er, sagt Audrey.

Antoine hört zu, wirft ab und zu einen Kommentar oder eine Frage ein, beschreibt seinen eigenen Eindruck von Timothy leClerq, der ihm nämlich gar nicht wie ein akuter Trinker vorkam. Und eigentlich auch nicht wie jemand, der schwach ist. Er mag es, in Audreys Gesellschaft zu sein. Das Mädchen ist, man kann es nicht anders ausdrücken, einfach rundherum nett. Nett und intelligent und aufgeweckt. Sie erzählt ihm noch mehr von sich, von ihrer Familie, und Antoine ertappt sich dabei, wie er ihr mehr von seinem Hintergrund aufdeckt, als er das vorhatte. Sogar davon, wie er mit fünfzehn wie völlig selbstverständlich in der Gang gelandet ist. Sie schluckt etwas, nimmt es aber hin. Und lenkt das Gespräch dann geschickt auf ein etwas unverfänglicheres und bei neuen Bekanntschaften immer fruchtbares Thema: Musik, Film, Bücher. Wie erwartet hat sie in diesen Bereichen deutlich andere Vorlieben als er, aber immerhin, einige kleinere Überschneidungen gibt es.

Als sie auseinandergehen, einige Tassen Kaffee später, ist es schon Nachmittag. Auf der Straße verabschiedet Audrey sich mit einem kleinen, fröhlichen Winken, und zu seinem Erstaunen winkt Antoine genauso fröhlich zurück. Huh. Die Kleine ist richtig süß. Völlig außerhalb seiner Liga natürlich. Aber so durch und durch nett. Die ist keine von denen, die sich von all ihren Unterschieden – in Reichtum, Sozialisierung, gesellschaftlicher Schicht, Hautfarbe – abhalten lassen würde, wenn sie sich was aus ihm machen würde. Wenn sie sich was aus ihm machen würde. Was nach ein paar Tassen Kaffee noch längst nicht gesagt ist. Trotzdem hat Antoine ein Lächeln auf den Lippen, als er langsam Richtung Le Chat Noir wandert, wo erstens sein Auto noch steht und er zweitens nochmal mit seiner Mutter reden muss. Dringend. Und hoffen, dass das Gespräch diesmal nicht in einem verwüsteten Büro endet.

Solène sieht immer noch umwerfend heiß aus, aber auf subtile Weise anders. Erst nach ein paar Minuten fällt Antoine auf, was es ist: Ein paar wenige, winzige Falten sind auf ihrem zuvor so makellos glatten Gesicht erschienen. „Ich bin froh, dass du gekommen bist“, hat sie bei seinem Eintritt zu seiner Erleichterung ruhig gesagt. „Wir müssen reden.“
Jetzt sitzen sie einander in den beiden Besucherstühlen gegenüber, und seine Mutter mustert ihn aus diesen unergründlichen Augen.
„Damit du verstehst, wer du bist, musst du verstehen, wer ich bin“, sagt sie schließlich. „Was denkst du, wie alt ich bin?“
Antoine muss nicht lange überlegen. „Du siehst aus, als seist du ungefähr so alt wie ich. Fünfundzwanzig, maximal. Aber da das nicht stimmen kann, musst du älter sein. Mitte dreißig mindestens. Aber wenn du schon so jung geblieben bist, irgendwie, vielleicht noch älter? Fünfzig?“
Solène lächelt milde. „Dieser Körper“, sagt sie langsam, „hat zweihundertundzwanzig Sommer gesehen.“
Damit hat er nun nicht gerechnet. Blinzelt die Überraschung weg. „Zweihundertzwanzig? Krass, Alter.“

Der Ausruf zaubert ein schwaches Lächeln auf ihr liebliches Gesicht. „Ich bin kein Mensch. Aber das hast du dir nun bereits gedacht. Sieh her.“
Solène erhebt sich anmutig aus ihrem Stuhl, und konzentriert sich kurz. Oder ist es eher anders herum, dass sie die Konzentration fallen lässt, die sie bislang aufbringen musste, um wie ein Mensch auszusehen? Fast kommt es Antoine tatsächlich so vor. Einen Wimpernschlag später hat er jedenfalls nicht mehr Solène leGuir, Clubbesitzerin, vor sich, sondern eine Katze. Riesengroß, mit tiefschwarzem, glänzendem Fell und goldbraunen Augen wie feinem, altem Bourbon. Keine bestimmbare Katzenart. Kein Panther wie der, den er als Junge bei den gelegentlichen sonntäglichen Zoobesuchen mit seinen Eltern immer minutenlang bewundert hat. Auch keine Löwin oder Tigerin mit schwarzem Fell. Stattdessen steht vor ihm der Inbegriff einer Raubkatze, die Verkörperung all dessen, was den Geist der wilden, samtpfotigen Jägerin ausmacht.

„Huh“, entfährt es ihm; für alles andere ist sein Kopf zu leer. Fasziniert starrt Antoine die riesige Katze an, streckt dann vorsichtig die Hand nach ihr aus. Berührt das seidenweiche, glänzende Fell. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, Angst zu haben, noch verspürt er Zweifel oder Unglauben. Wenn er seinen eigenen Augen, seinem Tastsinn nicht trauen kann, wem soll er dann trauen?

Eine Sekunde später hat Solène wieder ihre Menschengestalt angenommen, zu Antoines Erleichterung vollständig bekleidet. „Du bist mein Sohn“, sagt sie sanft. „Du kannst das auch.“
Antoine sieht sie verwundert an, und seine Mutter nickt. „Versuch' es“, ermutigt sie ihn.
Also versucht Antoine es. Schließt die Augen und versucht sich vorzustellen, wie es sein muss, eine Katze zu sein. Die geballte Kraft der Muskeln, die unter dem glänzenden Fell spielen. Die scharfen Sinne, jeder Duft ein Trompetenstoß in seiner Nase. Die empfindlichen Schnurrhaare, die ihm genauestens jede Entfernung anzeigen. Es geht viel, viel einfacher, als er gedacht hätte. Fast sofort kann er spüren, wie die Verwandlung über ihn kommt: Im einen Moment steht er als Mensch vor seiner Mutter, im nächsten als Raubtier.

Wieder erinnert er sich. Sieht er die Szene vor sich, von der er Solène beim letzten Besuch erzählt hat, von der Gang, die ihn verfolgte, und vor der er sich auf unerklärliche Weise in dem Türeingang verstecken konnte. Aber jetzt laufen die Bilder vor seinem Auge anders ab. Versteckt er sich in dem Hauseingang, ja, sehen die Ganger sich suchend nach ihm um, ja. Aber dann, als sei mit der Verwandlung eine Mauer in seinem Kopf gefallen, kommen die bislang verdrängten Erinnerungen zum Vorschein. Der dunkle Schatten des Hauseingangs, aus dem urplötzlich ein schwarzer Alptraum springt, mit gelben Augen und gefletschten Fangzähnen, fauchend und brüllend, beißend  und mit seinen Krallen fetzend, bis von seinen geschockten Verfolgern nur noch eine undefinierbare Masse Fleisch auf dem Erdboden geblieben ist.

Der Schock über diese unerwartet und ungefiltert auf ihn einprasselnden Erinnerungen reißt Antoine in die Menschengestalt zurück. Mit großen Augen, die von dem Büro um ihn her nichts wahrnehmen als das dunkle, verstehende Gesicht seiner Mutter, packt er sie an den Schultern, sieht sie wild an.
„Ich habe sie umgebracht. Ich habe mich verwandelt und sie alle umgebracht!“
Antoine hat noch nie jemanden umgebracht. Nie vor dieser Sache, jedenfalls. Klar, er ist in einer Gang. Und klar, er war auch schon in ziemlich üble Sachen verwickelt. Schlägereien. Messerstechereien. Diebstahl. Autoklau. Sogar bewaffnete Überfälle. Tankstellen-Shops und so. Hat auch schon gesehen, wie Leute umgekommen sind. Aber bis zu dieser einen Nacht hat er noch nie ein anderes Leben genommen.

Von Schuldgefühlen überwältigt, bricht Antoine in die Knie. Tränen strömen ihm aus den Augen, und alles, was er herausbekommt, ist ein unverständliches Stammeln. So geweint hat er noch nie, nicht einmal als Kind, als er vom Baum gestürzt war und sich den Arm gebrochen hatte und Ma Joyanne ihn den ganzen Weg ins Krankenhaus im Arm hielt, vorsichtig, um nicht aus Versehen den Bruch zu berühren.
Nun legen sich wieder Arme um ihn, weich und warm und unendlich tröstend. Solènes Stimme, so weich und warm wie ihre Umarmung und doch durchsetzt von einem stählernen, unbeugsamen Kern. Der Inbegriff einer Mutterstimme, und mit einem Mal tut es nichts, rein gar nichts zur Sache, dass diese Mutterstimme, diese Mutterseele, im Körper einer Zwanzigjährigen steckt. Sie ist seine Mutter.
„Shhhhhhh“, raunt Solène leise. „Shhhhhhhhh. Alles ist gut. Du bist mein Sohn, und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt. Niemand, niemand wird dein Herz bekommen!“
« Letzte Änderung: 25.12.2012 | 02:33 von Timberwere »
Zitat von: Dark_Tigger
Simultan Dolmetschen ist echt kein Job auf den ich Bock hätte. Ich glaube ich würde in der Kabine nen Herzkasper vom Stress bekommen.
Zitat von: ErikErikson
Meine Rede.
Zitat von: Shield Warden
Wenn das deine Rede war, entschuldige dich gefälligst, dass Timberwere sie nicht vorher bekommen hat und dadurch so ein Stress entstanden ist!

Offline Bad Horse

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #21 am: 6.12.2012 | 21:25 »
Schön! :D
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Korrekter Imperativ bei starken Verben: Lies! Nimm! Gib! Tritt! Stirb!

Ein Pao ist eine nachbarschaftsgroße Arztdose, die explodiert, wenn man darauf tanzt. Und: Hast du einen Kraftsnack rückwärts geraucht?

Offline Timberwere

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #22 am: 29.12.2012 | 23:20 »
So, hier die erste Hälfte vom dritten Teil. Die zweite Hälfte (i.e. das große Ende) kommt dann noch.

***

Schwarzes Herz

Der Besuch im Le Chat Noir hat Antoine ziemlich aufgewühlt. Irgendwem muss er erzählen, was passiert ist, sonst platzt er, und da ist Achéron die logische Wahl. Der Junge wird ihm die kranke Scheiße glauben.

Achéron ist nicht da, als Antoine das kleine Haus am Fluss betritt. Achéron nicht, aber dafür Tim leClerq. Das ist Antoine gar nicht mal unangenehm, ist der ehemalige Trinker doch auch ein Typ, mit dem er gut reden kann.
Allerdings nicht über seine Fähigkeiten. Da ist sich Antoine noch nicht sicher, ob und wieviel er dem Mann davon erzählen will.
Aber über Audrey reden sie. Tim scheint gerne in den frühen Jahren zu schwelgen, als Audrey noch klein und seine Ehe noch annähernd glücklich war; die Jahre, ehe seine Trunksucht Frau und Tochter von ihm weg trieb. Und Antoine ist selbst überrascht darüber, wie gerne er von Audrey als kleinem Mädchen hören möchte, wie er über die Anekdoten, die Tim erzählt, herzlich lachen kann, und wie leicht es ihm fällt, sich ein Bild von der vierjährigen Audrey zu machen.

Dass er es sagen wird, weiß er selbst nicht, bis ihm die Worte über die Lippen kommen. Sie haben sich schon voneinander verabschiedet, weil Antoine noch jede Menge Kram zu erledigen hat, und Tim wendet sich schon ab, da ruft Antoine ihm hinterher. „Mr leClerq!“
Der Mann sieht zurück. „Ja?“
„Mr leClerq... sagen Sie...“ Antoine ist uncharakteristisch verlegen. „Mr leClerq... wäre es für Sie okay, wenn ich mit Audrey ausgehen würde?“
Tims freundliches Nicken zaubert wieder ein Lächeln auf Antoines Gesicht. „Alles klar, Mann!“

Einiges an erledigtem Kram später schlägt Antoine bei seinen Homies auf. Die wollen natürlich wissen, wie es gelaufen ist, denn Antoine hatte ihnen ja erzählt, dass er seine biologische Mutter treffen wollte. Über das Warum hat er sich dabei allerdings nicht ausgelassen: Diese ganzen komischen, übernatürlichen Sachen, die ihm da passiert sind, hat er lieber nicht angesprochen.
Hätte er auch gar nicht müssen, wie er nun feststellt. Nachdem er knapp berichtet hat, dass er seiner Mutter begegnet ist und ja, dass es ganz gut danach aussieht, als würden sie wieder eine Beziehung aufbauen können, bringen seine Ganger recht schnell die Sprache auf das andere Antoine-Thema der WocheTM: die unglaublich coole Art und Weise, wie er diese Typen von der anderen Gang umgelegt hat.
Offenbar haben ihn ein paar seiner Kumpels bei der Sache beobachtet; wollten ihm eigentlich gegen die gegnerischen Ganger zu Hilfe kommen, kamen aber nicht dazu, ehe schon alles vorbei war.
Was genau da passiert ist, scheinen sie nicht hundertprozentig mitbekommen zu haben: Einer spricht von Antoines „alles wegrockenden Messerkünsten“, ein anderer fragt ihn, was das für ein abgefahren krasses Haustier gewesen sei und wie er es so abgerichtet gekriegt habe.

Antoine nimmt das Schulterklopfen und die Macho-Sprüche mit einem gezwungenen Grinsen entgegen und tut überlegen geheimnisvoll. Aber innerlich ist ihm fast übel von dem Getue, und mit einem Mal geht ihm die Frage durch den Kopf, ob er wohl noch lange dabeibleiben wird.
Schneller als sonst verabschiedet er sich. Schürzt mit einem vielsagenden Grinsen wichtige Aufgaben vor und macht den Abflug.
Es drängt ihn zurück ins Le Chat Noir. Jetzt, nachdem er den Schock einigermaßen verdaut und der Tatsache ins Auge sehen kann, dass er tatsächlich ein Raubtier in sich trägt, hat er das Bedürfnis, nochmal länger als heute mittag mit seiner Mutter zu reden.

„Wer, was, bist du genau? Warum kannst du dich in eine Katze verwandeln? Warum bist du zweihundert Jahre alt?“
Solène lächelt wehmütig. Ihre Haut ist faltig geworden in den letzten Stunden, und in ihrem Haar kann Antoine zahlreiche weiße Fäden entdecken. Nur ihre Stimme klingt noch immer jung, und doch belastet von der Wucht der Jahrhunderte.
„Dieser Körper existiert seit zweihundertundzwanzig Jahren. Nicht ich. Ich – das, was du meine Seele, mein Wesen, nennen würdest – ist unermesslich alt. Ich bin, oder war, eine Loa, Antoine.“

Was ein Loa ist, weiß Antoine natürlich. Weiß jeder New Orleanser. Loas sind die Gottheiten des Voodoo. Fasziniert, ohne seine Mutter zu unterbrechen, hört er ihr weiter zu.
„Im Laufe der Jahrhunderte habe ich mehr als einmal menschliche Gestalt angenommen, um für eine gewisse Zeit menschliche Emotionen zu verspüren. Mich menschlichen Gelüsten hinzugeben. Die Freuden eines guten Essens. Eines Mittagsschlafes im Schatten eines heißen Sommertages. Der körperlichen Liebe. Vor allem der körperlichen Liebe. Die Gefühle, die einen Menschen beim Liebesakt durchfluten, sind mit nichts zu vergleichen.“
Solène lächelt versonnen, und Antoine, der, als er achtzehn war, mal ein halbes Jahr lang eine feste Freundin und ansonsten ein paar flüchtige Begegnungen hatte, tut es ihr nach. Es ist mit nichts zu vergleichen.

„Vor zweihundertundzwanzig Jahren ist etwas geschehen, das zuvor noch nie geschehen war“, fährt Solène leise fort. „Ich habe mein Herz verschenkt.“
Antoine lächelt. „Deine wahre Liebe gefunden?“
Solène erwidert sein Lächeln traurig. „So dachte ich.“ Sie seufzt. „Ich habe mich geirrt. Aber das erfuhr ich erst, als ich ihm mein Herz bereits geschenkt hatte.“ Seine Mutter schüttelt den Kopf. „Victor Sauvageau benötigte mein Herz lediglich, um die ihm innewohnenden Kräfte zum Schutz gegen den Teufel zu nutzen.“
Antoine blinzelt verwirrt. „Victor Sauvageau? Der Victor Sauvageau?“ Der reiche Arsch im Anzug?, hätte er beinahe gefragt. „Audreys Adoptivvater?“
„Sein Vorfahr. Victor l'Ancien nennen sie ihn. Er war es, der Sauvageaus erstmals zu Reichtum und Ansehen brachte, den Grundstein für das Familienunternehmen legte. Er schloss einen Pakt mit dem Teufel dafür.“
„Huh. Krasser Scheiß. Wieso schließt jemand 'n Pakt mit dem Teufel?“
Solènes Lächeln ist eindeutig ein nachsichtiges Mutterlächeln. „Macht. Reichtum. Liebe... oder einfach nur das begehrte Wesen besitzen zu können. Es gibt viele Dinge, für die Menschen einen solchen Pakt eingehen würden und im Laufe der Jahrtausende eingegangen sind. Wohl dir, wenn du vor einer solchen Versuchung gefeit bist, mein Sohn.“
Ein Achselzucken. „Weiß nicht, ob ich's bin. Ich war noch nicht in so einer Situation. Aber ich hoff's.“

Sie nickt leicht und spricht weiter. „Das Herz einer Loa... es schützte Victor l'Ancien. Es hat auch seine Familie durch die Jahrhunderte beschützt... bis zum heutigen Tag. Bis heute verhindert es, dass die Sauvageaus Victor l'Anciens Teil der Abmachung einhalten müssen. Solange sie mein Herz in ihrem Besitz haben, hat der Teufel keine Macht über sie.“
Mit einer Grimasse sieht Solène an sich herunter, auf die Falten in ihrer zuvor so glatten, makellosen Hand. „Aber du siehst selbst, was geschieht. Ich bin bereits zu lange in diesem Körper gefangen. Ich beginne, meine Kräfte zu verlieren.“
Antoine stutzt. „Du meinst, sie haben dein Herz? Dein richtiges, echtes Herz? Das war wortwörtlich gemeint?“

Sanft nimmt Solène seine Hand und führt sie an ihren Hals, legt seine Finger an ihren Puls. Oder besser dahin, wo ein Puls sein müsste. Denn da ist nichts. Gar nichts. Kein Klopfen, kein Flattern.
Antoine sieht sie aus großen Augen an. „Krass.“
„Es war keine Metapher, nein“, sagt Solène. „Die Familie Sauvageau besitzt mein Herz. Und solange sie es besitzen, muss ich diesen Körper tragen, und solange sie es besitzen, wird dieser Körper altern und sterben.“
Antoine ballt entschlossen die Fäuste. „Dann müssen wir dir dein Herz wiederbeschaffen!“
Seine Mutter lächelt wehmütig. „So einfach ist das nicht. Aber vielleicht fällt uns ja gemeinsam etwas ein.“ Ihr Lächeln wird offener, freier. „Aber komm, lass' uns ein wenig deine neuen Fähigkeiten üben. Du solltest sie beherrschen können, jetzt wo du weißt, wer du bist.“
„Eins weiß ich noch nicht“, erwidert Antoine, in lockerem Tonfall, der den Ernst der Frage nur unzureichend überdeckt. „Wer war mein Vater?“
Solène macht eine wegwerfende Handbewegung. „Jemand. Ein gutaussehender junger Mann, mit dem ich eine ausgiebige Nacht verbrachte. Sonst weiß ich nicht sonderlich viel über ihn.“ Sie lächelt leicht. „Du siehst ihm ähnlich, wenn ich mir das so überlege.“

Da seine Mutter ihm offensichtlich nicht mehr über seinen biologischen Vater sagen kann oder will, lässt Antoine das Thema fallen und macht sich stattdessen unter Solènes kundiger Anleitung ans Üben. Übt seine Verwandlungsfähigkeit an sich selbst. Und alles andere an Benoît, dem Weißbrot, zu Antoines großer Genugtuung.

Es ist schon kurz vor Mitternacht, als Antoine den Club verlässt. Er hat wenig Bock darauf, sich schon wieder von seinen Homies zu seinen krassen, kewlen Powerz gratulieren und womöglich weitere Fragen über sich ergehen zu lassen, und irgendwie erscheint ihm das alte Haus am Fluss als die ganz logische nächste Station, egal wie spät am Abend es sein mag.

Gleich beim Reinkommen merkt Antoine, dass was nicht stimmt. Dass hier irgendeine Kacke ganz gewaltig am Dampfen ist. Tim leClerq ist da, sitzt bei Achéron, hat den Arm um ihn gelegt und redet auf den Jungen ein, der, noch bleicher als sonst, unkontrolliert zittert und sich vor und zurückwiegt. Tims leise Worte stockend nachspricht. Ein Gebet, wie es aussieht.
Auf Antoines vorsichtiges „Was'n hier los?“ sieht Ash auf. Er hat geweint, bemerkt Antoine, und seine rot geränderten Augen sind völlig verzweifelt. Trostlos.
„Es tut mir so leid“, stammelt er. „Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, ich wollte das nicht!“

Antoine sieht von ihm zu leClerq. Der Mann ist verletzt, hat einen Verband um den Kopf. Hat Ash ihn so zugerichtet? Aber würde Tim den Jungen derart beruhigen und trösten, wenn Achéron ihn angegriffen hätte? Vielleicht gerade deswegen, wie Antoine Audreys Vater inzwischen kennengelernt hat. Immerhin ist Ash nach eigener Aussage nicht immer zurechnungsfähig.

„Was wolltest du nicht?“, fragt Antoine.
Ashs Augen nehmen einen noch trostloseren Ausdruck an, wenn das denn überhaupt möglich ist. Resigniert. Bitter. Voll hilfloser Scham. Antwortet nach winzigem Zögern dann leise, aber deutlich.
„Ich wollte nicht mit Audrey schlafen.“

Ein rotes Licht explodiert in Antoines Kopf, zerfasert zu einem pulsierenden Schleier vor seinen Augen. Er spürt, wie die Verwandlung über ihn kommt, ungebeten: wie seine Zähne sich zuspitzen und seine Fingernägel sich zu Krallen auswachsen.
Ash kauert vor ihm, ein zitterndes Opfer. Sieht ihn aus hoffnungslosen Opfer-Augen an, die sagen: Tu's. Ich hab's verdient. Aber Antoine hat sich unter Kontrolle, gerade noch so.
Aber loslassen muss er die Wut, die Energie, die sich in ihm aufgestaut hat und die ihn platzen zu lassen droht. Ein zorniger Schrei, und der Raum wird von einem heftigen Wirbelsturm durchtobt, der vor nichts halt macht, was nicht festgeschraubt ist. Die Türen der Küchenschränke klappen wild auf und zu, Tassen fliegen heraus und zerschellen auf dem Fußboden, genau wie die Glaskanne der Kaffeemaschine. In einer Ecke haben Ashs Instrumente an der Wand gelehnt – jetzt fliegen sie durch die Luft und brechen in Stücke.

Langsam legt sich der Sturm in Antoines Kopf. Mit einem tiefen Atemzug löst er langsam die geballten Fäuste. „Was ist passiert?“

Und Ash erzählt. Erzählt, wie er auf das Anwesen der Sauvageaus zurückgekehrt ist, um das Auto wieder hinzubringen.
„Auto wieder hinzubringen?“, unterbricht Antoine.
Die Frage lässt den Jungen nochmals stocken, aber er setzt dann weiter vorne wieder an. Langsam und ein wenig wirr, aber doch verständlich. Dass er am Nachmittag dazugekommen ist, als sein Vater und Tim leClerq eine Auseinandersetzung hatten, bei der Tim dem älteren Sauvageau eine Heugabel in die Schulter gerammt hat und dabei selbst einen Schlag über den Schädel abbekam. Dass diese Auseinandersetzung stattfand, weil Tim Hinweise darauf gefunden hätte, dass Audreys Mutter Amber nicht einfach nur bei einem Reitunfall ums Leben gekommen sei, sondern dass Victor sie umgebracht habe. Dass dieser erklärt habe, er sei für Ambers Tod nicht verantwortlich, Achéron ihm aber nicht geglaubt und daraufhin das Auto genommen habe, um Tim erstmal in Sicherheit vor seinem Vater zu bringen. Wie er dann später das Auto zurückbringen wollte und Audrey schlafwandelnd im Garten fand, vom Teufel besessen. Wie der Teufel etwas von dem Herzen sagte, dass er haben wolle und dann in Audreys Gestalt über Achéron herfiel und ihn zum Verkehr mit ihr zwang, weil er sie verletzt oder gar umgebracht hätte, wenn Ash sich geweigert hätte. Wie sie genau im Moment des Höhepunktes wieder zu sich kam, und nur wenige Minuten später auch Victor auftauchte. Wie sein Vater Ash zusammenschlug, der sich aber nicht wehrte, weil er es verdient habe.

Das ist der Moment, in dem Achéron wieder leise zu schluchzen beginnt und Tim leClerq alle Mühe hat, ihn wieder halbwegs zu beruhigen. Antoine steht wie vor den Kopf geschlagen da, die Fäuste wieder geballt, wodurch sich seine noch immer zu Krallen ausgefahrenen Fingernägel schmerzhaft in die Handflächen bohren. Aber das merkt er gar nicht.

Es kommt Antoine nicht in den Sinn, Achérons Geschichte anzuzweifeln. Der Junge sagt die Wahrheit, das kann er spüren. Und auch Timothy hegt ganz offensichtlich keinen Zweifel. Der Ältere nickt wissend und verstehend, als würde ihn Ashs Geständnis gar nicht sonderlich wundern. Er scheint auch nicht groß schockiert über Antoines unmenschliche Fähigkeiten, was den wiederum wundert.
Schockiert ist leClerq nicht, aber fragen tut er dennoch, also klärt Antoine ihn auf. Über sich und seine Fähigkeiten und darüber, was er mit der anderen Gang getan hat. Über Solène. Und über ihr Herz. Wie sie es dem Vorfahren der Sauvageaus geschenkt hat und es die Familie seither vor dem Teufel beschützt.

Das wiederum lässt leClerq stutzen und die Stirn runzeln. „Das Herz?“ fragt er erstaunt. „Das Herz ist ein böses Voodoo-Artefakt, das Audrey schaden könnte.“
„Du irrst dich, Mann“, erwidert Antoine, ebenfalls überrascht. „Ich glaube meiner Mutter, wenn sie sagt, dass es die Sauvageaus schützt.“
Auch Ash sieht aus verweinten Augen auf und nickt. „Er hat recht. Es schützt uns vor dem Pakt, den unser Vorfahr mit dem Teufel geschlossen hat.“

Timothy nickt nachdenklich. Er scheint ihnen zu glauben, aber trotzdem noch nicht ganz überzeugt zu sein. Sein Stirnrunzeln vertieft sich. „Aber wie kommt dann dieser Priester darauf, es sei ein böses Artefakt?“
Antoine zuckt die Achseln. „Hat er sich eben geirrt. So Mythen und Geschichten ändern sich ja immer mal über die Zeit. Vor allem, wenn man's selber nicht genau weiß, sondern nur erzählt bekommen hat.“
Timothy nickt wieder. „Das wird es wohl sein. Auch wenn er meinte, von dem Ding drohe Audrey Gefahr.“

„Audrey!“ Der Name lässt Achéron wieder aufsehen. Sein Gesicht ist angespannt und verzweifelt. „Ich konnte nicht zu ihr... danach... Ich hätte... Ich wäre... Du... Antoine, du musst gehen und nach ihr sehen!“
Antoine traut seinen Ohren nicht. „Du hast sie einfach dort gelassen? Einfach so??“
Wütend schüttelt er den Kopf. Und rennt los.
Zitat von: Dark_Tigger
Simultan Dolmetschen ist echt kein Job auf den ich Bock hätte. Ich glaube ich würde in der Kabine nen Herzkasper vom Stress bekommen.
Zitat von: ErikErikson
Meine Rede.
Zitat von: Shield Warden
Wenn das deine Rede war, entschuldige dich gefälligst, dass Timberwere sie nicht vorher bekommen hat und dadurch so ein Stress entstanden ist!

Offline Timberwere

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Re: [Hühnertage] New Orleans - Tage des Teufels
« Antwort #23 am: 16.01.2013 | 15:15 »
Als Antoine auf dem Landgut ankommt, ist von Audrey im riesigen Garten weit und breit nichts zu sehen. Aber weiter hinten auf dem Gelände ist eine grüne Wand zu auszumachen. Eine Hecke. Ein Labyrinth. Vielleicht ist sie ja dort. Aber je näher er kommt, desto weniger denkt Antoine an Audrey, denn aus dem Labyrinth ruft ihn etwas. Ein dumpfes, stetiges Pochen. Ein Sog. Ein Drang. Solènes Herz. Sie sagte etwas von einem Mausoleum in einem Labyrinth, fällt ihm ein.

Mit großen Schritten eilt Antoine zum Labyrinth und mit schnellen Schritten hindurch, ruft ein paar Mal Audreys Namen. Aber spätestens im Zentrum des Irrgartens verstummt das, denn hier ist das stetige Pochen in seinem Geist besonders stark, zieht es ihn wie magnetisch in das wuchtige Gebäude aus hellem Marmor.

Ehe er jedoch hineingehen kann, hört er unregelmäßige Schritte von schräg hinten. Antoine dreht sich um. Ein Weißer in den späten Vierzigern, eingerissener, silbergrauer Anzug und verschmutzte Krawatte, die garantiert handgefertigten Lederschuhe mit Blutstropfen bespritzt und das Haar wirr und zerzaust. Victor Sauvageau. In der Hand ein Messer. Blutig. Antoine starrt auf die Waffe, als habe er noch nie eine gesehen, als sei er noch nie in eine Messerstecherei verwickelt gewesen.

Sauvageau zieht mit einer beiläufigen Bewegung sein Einstecktuch aus der Brusttasche. Wischt damit sorgfältig, aber gleichzeitig völlig mechanisch und abwesend, über die blutverschmierte Klinge. Seine Augen sind wie tot. Nein. Nicht tot. Am Rande des Wahnsinns oder sogar schon darüber hinaus.
„Junge“, sagt er dann. „Hattest du schon einmal das Gefühl, dass alles in deinem Leben eine Lüge war?“ Die Stimme des Mannes wirkt in ihrer reglosen Kühle ungefähr ebenso durchgeknallt wie seine Augen.
„Ey, ich hab keine Ahnung, was mit dir los ist, Mann“, schießt Antoine zurück und zeigt auf das Mausoleum. „Aber ich muss da jetzt rein und was holen.“
„Nein.“ Der reiche Arsch im ehemals feinen Anzug schüttelt den Kopf. „Ich werde dir das Herz nicht geben. Es ist die einzige Chance, die mein Sohn noch hat.“

„Euch gehört's nicht“, zischt Antoine. „Es gehört meiner Mutter, und sie braucht es, sonst wird sie sterben. Also nehm ich's mir, ob ihr wollt oder nicht.“
„Nein!“ Sauvageau ballt die Fäuste, packt das Messer fester und stellt sich ihm in den Weg. Antoine stößt ihn mit vor Wut gefletschten Zähnen beiseite, und erst als der Ältere irre zu lachen beginnt, wird Antoine klar, dass die Verwandlung über ihn gekommen ist, ohne dass er das überhaupt aktiv gewollt hätte, dass sie ihn mit sich gerissen hat und sich seine Klauen in die Schulter der Mannes gebohrt, die Reißzähne millimeterscharf an seiner Kehle vorbei geschnappt haben.

Mit einem wütenden Knurren stößt Antoine seinen Widersacher zu Boden. Springt mit einem Satz über ihn und die Stufen ins Mausoleum hinab. Drinnen herrscht andächtige Stille, Steintafeln und Wandnischen für Generationen von Sauvageaus. Und dort, auf einem Podest neben einer der Grabnischen, eine Urne. Oder besser so ein Ding wie die alten Ägypter es benutzten. Wie hießen die noch? Es ist lange her, dass Antoine das gelernt hat. Kanopen, genau. Eine Urne mit Deckel, aus feinstem Porzellan. Oder aus einem Stein gehauen? Was es auch sein mag, das Material ist so dünn, dass man durch die Wände hindurch etwas aufschimmern sehen kann. Etwas Dunkles. Etwas, das pocht und trommelt und Antoine ruft und an ihm zerrt.

Mit zitternden Händen öffnet er die Kanope und holt ihren Inhalt heraus. Es ist ein Stein, ein dunkelgrauer, von rötlichen Einlassungen durchzogener Stein in Form eines menschlichen Herzens. Solènes Herz. Das Herz seiner Mutter. All die Jahrhunderte hat es hier gelegen. Antoine greift sich den Stein, lässt die Kanope achtlos liegen und rennt hinaus. Vorbei an dem verwundeten Arsch im Anzug, zurück Richtung Ausgang. Rechts. Links. Links. Rechts. Links. Da ist der Eingang. Schon will Antoine durch den Heckenbogen hinaus ins Freie, da findet er sich mit einem Mal wieder vor dem Mausoleum wieder.
„Was zum...!“ Antoine schüttelt wild den Kopf und rennt wieder los. Wieder die Gänge, wieder der Ausgang, und wieder, urplötzlich, ohne Empfinden des Weges dazwischen, die Marmorsäulen des Mausoleums. Antoine flucht laut und versucht es diesmal in der anderen Richtung. Dasselbe Ergebnis. Der Arsch im Anzug hat sich indessen an der Mauer des Mausoleums hochgekämpft und lacht heiser. Lacht Antoine aus. Wenn er nicht so verzweifelt versuchen würde, aus dem verdammten Labyrinth zu kommen, würde er anhalten und den Dreckskerl fertig machen. Aber es hat keinen Zweck. Wieder und wieder rennt Antoine im Kreis, heult auf wie ein gefangenes Tier im Käfig. Nicht mal sich an dem Arsch im Anzug (er ist Audreys Stiefvater, flüstert es in ihm) auszulassen, würde jetzt helfen.

Wieder einmal sieht er den Eingang vor sich, ist sich ganz sicher, diesmal trickst er den verdammten Fluch aus!, da kommen ihm Gestalten entgegen. Sie alle. Audrey und ihr leiblicher Vater. Achéron. Und eine alte Frau, die Antoine auf den ersten Blick kaum erkennt, so stark ist sie gealtert. Seine Fäuste krampfen sich um den Stein in seinen Händen, und sein eigenes Herz droht stillzustehen. Solène. Mutter. Sie kann sich alleine kaum mehr auf den Beinen halten, muss von Tim und Audrey gestützt werden.

Wie magisch angezogen fällt Solènes Blick auf den rot gemaserten Stein. „Mein Herz“, krächzt sie gierig. „Mein Herz... gebt es mir!“
Sofort hält Antoine es ihr hin, doch seine Mutter schüttelt abwehrend den Kopf. Die einfache Geste wirkt schon, als koste sie sie einen Großteil der Kraft, die sie noch besitzt.
„Einer von ihnen muss es mir geben“, presst sie mühsam heraus. „Ein Sauvageau...“
„Gebt es ihr!“, knurrt Antoine wild und drückt dem Mann das Herz in die Hand. Der Pulsschlag unter dem glatten, marmorierten Stein pocht langsam. Gleichmäßig. Ungerührt. Aber kommt es Antoine nur so vor, oder ist der Schlag schwächer geworden in den Minuten, in denen er das Herz jetzt schon hält?

Der ältere Sauvageau zögert, wiegt das Herz in der Hand. „So zu sterben hat mein Sohn nicht verdient. Dann lieber ich.“
„Nein!“ Ashs Stimme klingt ungewohnt heftig. „Nein, Vater, nicht du! Ich will nicht, dass du stirbst.“
„Aber du bist noch so jung, Vic. Du hast dein Leben noch vor dir.“
Vic?, fährt es Antoine flüchtig durch den Kopf, aber der Gedanke ist sofort wieder verschwunden.
Der Junge schüttelt währenddessen den Kopf. „Wofür soll ich denn leben, nach allem, was passiert ist? Ich... ich kann nicht mehr, Vater. Ich bin so müde... Aber du – du kannst noch ein langes Leben haben.“
Sauvageau lacht bitter. „Wofür soll ich denn noch leben nach alledem?“
Achérons Antwort wirkt von den Worten her unendlich zynisch, aber ihrem Klang nach sind die Worte resigniert, akzeptierend. „Du kannst es ignorieren. Das hast du doch sonst auch immer.“

Der Ältere sieht einen Moment lang so aus, als habe sein Sohn ihm ungebremst in die Eier getreten. Dann starrt er ihn einen endlosen Wimpernschlag lang forschend an. „Willst du... willst du wirklich sterben?“, fragt er dann stockend. Und als Ash nickt, atmet sein Vater tief durch, nickt ebenfalls und hält Solène das Herz hin.
„Nein!“, ruft der Junge, und Sauvageaus Hand zuckt zurück, bringt das Herz außerhalb der Reichweite von Solènes gierig tastenden Fingern. „Nicht so!“
Achéron zeigt auf das Herz. „Wenn du es ihr gibst, dann holt uns der Teufel!“ Seine Stimme schwankt. „Ich will nicht, dass der Teufel meine Seele bekommt. Er hat mir schon ganz genau gesagt, was er damit  alles vorhat...“
Der Junge starrt seinen Vater mit einem wilden Ausdruck in den Augen an. „Besser, wir sterben gleich. Bevor der Teufel uns holt.“

Wieder zögert der ältere Sauvageau, atmet sichtbar, während er Ashs Worte überdenkt. Dann nickt er erneut, hält seinem Sohn das blutige Messer hin. „Ich habe dir nie zugehört. Ich habe deine Entscheidungen nie respektiert. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich endlich damit anfange...“
Ash nimmt das Messer, hält es locker in der Hand, und widerstreitende Emotionen flackern über sein Gesicht, die Antoine nicht alle deuten kann. Erleichterung ist darunter. Und Enttäuschung.

„Halt!“, fällt Tim leClerq plötzlich ein. „Niemand muss hier sterben!“
„Ich kann mich nicht selbst töten“, sagt auch Achéron. Er macht keine Anstalten, die Waffe gegen sich selbst zu richten. „Das wäre eine Todsünde, dann würde mich der Teufel holen... Dann hätte das vorher Sterben keinerlei Sinn...“

„Bitte...“ Solènes schwache, krächzende Stimme lässt alle für einen Moment innehalten. „Ich brauche mein Herz... Ihr könnt nicht... bitte gebt es mir, sonst muss ich sterben...“
Ash sieht sie mitleidig an. „Ich kann nicht“, antwortet er traurig. „Es geht ja nicht nur um meine Seele, sondern auch um die von Vater... vielleicht um die aller Sauvageaus seit Victor l'Ancien. Aber... kannst du denn kein anderes Herz nehmen? Nimm meines, ich gebe es dir.“
„Nein...“, stöhnt Solène. Ihre Stimme wird immer schwächer. „Ich brauche mein eigenes... Bitte...“

Antoine steht mit geballten Fäusten da, macht eine bedrohliche Bewegung zu dem Älteren hin. „Gib es ihr schon, verdammt!“
Seine Mutter wankt indessen auf Sauvageau zu, fällt vor ihm in die Knie. „Victor... ich habe dir mein Herz geschenkt, weil ich dich geliebt habe... und du hast mich geliebt... Weißt du nicht mehr? Bitte gib es mir... Es war nie dafür gedacht, dass du es behältst...“
Sauvageau sieht auf ihre knochigen Hände, die seine Beine umklammern, ihr flehendes Gesicht, das zu ihm aufsieht und doch ganz in der Vergangenheit gefangen scheint, und schüttelt sachte den Kopf. „Nein.“

Solènes Züge verzerren sich zu einer wilden Maske des Hasses. „Verräter!“, kreischt sie, und dann, urplötzlich, flackert ihre Gestalt zu der des Raubtiers. Aus ihren bourbonfarbenen Augen zucken Blitze, ein Licht, das sie und Sauvageau pulsierend umschließt. Ein zischender, elektrischer Knall, und beide gehen ungebremst auf die Bretter. Das Herz fällt Ashs Vater aus den kraftlosen Händen, rollt leClerq vor die Füße. Der hebt es auf, wortlos und geschockt.
„Mein Herz...“ Kaum hörbar kommen die Worte aus Solènes Kehle, ein ersterbender Abendhauch. „Gebt mir mein H...“

Antoine springt seiner Mutter an die Seite, während Achéron und Audrey zu ihrem Vater eilen. Beide leben noch, aber Sauvageau atmet flach und keuchend, und die Wunde an seiner Schulter ist wieder aufgebrochen. Audrey hat Tränen in den Augen.
„Genug!“, schreit sie wild. „Das hört jetzt auf!“ Gehetzt sieht das Mädchen sich um. „Hörst du mich, Teufel? Hörst du mich? Ich werde das jetzt beenden!“

Antoine versteht eine Sekunde zu langsam, was sie vorhat. Er stürzt auf sie zu, aber er kommt zu spät. Ihr Vater begreift schneller, ist Audrey auch näher, aber selbst Tim kann das Messer nur um den Zentimeter ablenken, der verhindert, dass seiner Tochter die Klinge direkt ins Herz fährt. Blutüberströmt stürzt Audrey zu Boden.
„Audrey, nein!“ Das Gesicht aller drei Männer eine Maske des Entsetzens. Zeigt sein eigenes denselben Ausdruck? Die Frage schießt Antoine durch den Kopf, und er stellt flüchtig fest: ja. Tut es.

Audreys Augen sind geschlossen. Sie atmet mühsam, redet von dem Opfer, das sie bringt, damit der Fluch der Sauvageaus endlich gebrochen wird. Ash stammelt haltlos etwas, wieder und wieder, fast unhörbar. Nicht du, Audrey, so klingt es, oder vielleicht auch Warum du, Audrey? Tim leClerq kniet fasssungslos neben seiner Tochter, hält sie im Arm, streichelt ihr weinend das Gesicht, während Antoine nur dasteht, rasend vor Wut gegen irgendwas und nichts. Und sich hilflos fühlt, so verdammt hilflos. Auch Sauvageau hat mit letzter Kraft die Fäuste geballt. „Keinen retten“, murmelt er bitter, „keines meiner Kinder kann ich retten...“

„Ich kann es.“
Sie sehen auf beim Klang der heiser flüsternden Stimme. Solène. Keiner der Männer hat in diesem Moment noch an Solène gedacht. Solène, die aussieht, als halte nur noch ein letzter dünner Faden sie zusammen und am Leben.
„Ich kann sie retten. Gebt mir mein Herz zurück, dann kann ich sie heilen.“

Die beiden Sauvageaus, Vater und Sohn, reagieren absolut identisch. Sie sehen auf, sehen einander an, und ohne dass sie nicken müssten, fliegt ein Einverständnis zwischen ihnen hin und her. Sie drehen sich zu Solène und machen beide dieselbe auffordernd-überreichende Handbewegung.
„Ich gebe es dir zurück“, sagt der Ältere. „Dein Herz gehört dir.“
Er ist zu schwach, um es ihr tatsächlich selbst zu übergeben, und Tim leClerq, der den Stein noch immer festhält, steht wie festgewurzelt. Das dauert alles zu lange, also nimmt Antoine dem Mann das Herz kurzerhand ab und legt es seiner Mutter in die zitternde, klauenartig ausgestreckte Hand.

Ein Zittern durchfährt Solène, ein ekstatisches Seufzen. Dann beginnt die rote Marmorierung des Steins zu leuchten, dunkel orangefarben erst, dann immer heller, immer intensiver und strahlender, bis Solène davon umhüllt ist, ein Meer aus Licht und Funkeln. Das Herz löst sich auf, verschmilzt mit seiner Besitzerin, und je mehr es strahlt, umso mehr löst Solène sich auf, wird selbst zu einer Gestalt aus reinstem Licht. Ein glückliches, befreites Lachen erklingt, hell und verzückt, und dann beginnt die Lichtgestalt, die Antoines Mutter war, sich langsam in die Luft zu erheben.

Audrey liegt noch immer blutend am Boden.

„HALT!!“ Beide Sauvageaus donnern es im selben Moment, erstaunlich kräftig dafür, wie fertig beide eigentlich sind. Antoines und Timothys eigene Rufe gehen dagegen regelrecht unter. „Wir hatten einen Handel, Solène! Du musst Audrey helfen!“
Antoine rechnet halb damit, dass die Loa, allem Irdischen entrückt, einfach weiterschweben wird. Aber die Gestalt hält inne. Kehrt zurück. Hüllt das Mädchen kurz in ihr sanftes Licht, und die Wunde in Audreys Brust schließt sich. Das frauenförmige Licht gibt ein warmes, flackerndes Strahlen von sich und zieht sich wieder zurück. Schwebt davon und ist bald darauf verschwunden. Antoine starrt Solène nach, mit einer Kralle um die Brust, verwirrt und mit zwiespältigen Gefühlen.  Weiß, dass er seine Mutter nie wiedersehen wird, und bedauert. Fragt sich aber auch, ob es sonicht vielleicht besser ist.

Audrey holt zitternd Atem, öffnet die Augen, und Antoines Blick wird ruckartig zu ihr gerissen. „Audrey! Oh Himmel sei Dank!“
Aber das Mädchen hat nur Augen für ihren Bruder und Adoptivvater. Kreidebleich läuft sie zu ihnen hin, umarmt sie ganz fest. „Warum habt ihr das getan? Ich hätte euch gerettet…“
Beide Sauvageaus schütteln den Kopf. „Du darfst nicht sterben. Nicht du“, sagt Achéron. „Du musst weiterleben…“ Und sein Vater drückt Audreys Hand. „Lebe, Audrey. Für uns.“
Die Tränen laufen ihr frei und ungehindert über das Gesicht. „Aber… aber ihr dürft genausowenig sterben! Ash – du musst doch meinen Kindern auf der Violine vorspielen… mit uns zusammen singen… Ich dachte, wir…“ Sie wendet sich zu ihrem Vater. „Und du musst doch deine Enkel im Garten spielen sehen, Papa… sie Huckepack tragen und… und dass wir alle zusammen glücklich sind… Wie soll ich denn weiterleben ohne euch…“ Die Stimme versagt ihr.

 Victor Sauvageau sieht seine Tochter eindringlich an, tastet mühsam nach ihrer Hand. „Du bist meine Tochter. Du kannst das.“
Erst nickt sie schwach zu seinen Worten, doch dann schüttelt sie wieder energisch den Kopf. „Ich gehe nicht weg. Ich bleibe bei euch. Wenn… wenn der Teufel kommt, will ich ihm ihn die Augen sehen und ihn verfluchen…“
„Nein!“, ruft Ash, beinahe verzweifelt. „Das darfst du nicht! Er darf nicht auf dich aufmerksam werden. Nicht auf dich…“
Und auch der ältere Sauvageau schüttelt schwach den Kopf. „Bitte, Audrey. Du musst gehen. Sonst ist unser Tod völlig sinnlos.“

Das Mädchen weint noch immer haltlos, als ihr leiblicher Vater zu ihr tritt und ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter legt. „Komm mit uns“, sagt er sehr sanft. Audreys Schultern sacken resignierend herab, und in ihren Augen erstirbt etwas. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht lässt Antoine fast das Herz stillstehen.
Die Sauvageaus sehen leClerq und ihn an. „Passt auf sie auf“, bitten sie beide im exakt selben Moment.  Und auch die Antwort, der Blick des Einverständnisses mit den beiden Todgeweihten, kommt exakt gleichzeitig. „Keine Sorge.“

Mit dem Mädchen zwischen sich, sie stützend wie eine alte, gebrechliche Frau, verlassen sie das langsam das Labyrinth. Antoine sieht nicht zurück, bis sie das offene Gelände erreicht und zur Hälfte überquert haben. Und auch dann hätte er vermutlich weiter starr geradeaus gestiert, wenn nicht Tim leClerq einen Schreckenslaut von sich gegeben hätte.
Antoine folgt seinem Blick, versteht nicht, was ihn so kreidebleich hat werden lassen. Am Eingang zum Labyrinth steht ein Mann in einer Soutane. Ein Priester. Antoine kann nur sein halbes Profil sehen, aber der Kerl scheint zu lächeln.
„Das ist er“, stammelt Tim. „Er ist es… Der Teufel…“

Antoine stutzt. Und versteht. Es war ein Priester, der Tim versichert hat, Solènes Herz sei ein böses Artefakt, das Audrey schaden könne. Es war ein Priester, der Tim überhaupt erst dazu gebracht hat, seine leibliche Tochter zu kontaktieren. Es war ein Priester. Dieser Priester. Der Teufel.

Antoine ballt die Fäuste, aber es gibt nichts, was er tun kann. Rein gar nichts. Nur beten, beten für die Seelen von Victor und Achéron Sauvageau. Und beten, dass Audrey ein wenig Glück im Leben finden wird.
Einen Moment lang blitzen wild die unterschiedlichsten Bilder in seinem Kopf auf.
Antoine, wie er nur wenige Wochen nach all dem hier seinen Kummer über Audreys Weggang ertränkt, alleine.
Antoine, wie er nach einer heftigen Auseinandersetzung die Gang verlässt. Audrey, die zuhause auf ihn wartet, lächelnd.
Antoine, wie er sich immer mehr in die Gang  verstrickt.
Audrey und er, in einer kleinen, verkommenen Wohnung. Audreys Haar verfilzt. Leere Schnapsflaschen überall. Sie streiten wild. Lampen fliegen.
Audrey und er in einem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer, Blick auf einen Garten. Lächelnd, liebevoll.
Antoine, wie er geschockt über Audreys Leiche steht. Das Blut ihrer aufgeschnittenen Handgelenke wirkt überirdisch rot auf den weißen Kacheln des Bades.
Audrey und er zusammen bei Ma Joyanne und Pa Raymond im Garten, älter, ein vielleicht sechsjähriges Kind auf Ma Joyannes Schoß. Es ist blond, mit Ashs braunen Augen. Und weiß.
Audrey und er zusammen bei Ma Joyanne und Pa Raymond im Garten, älter, ein vielleicht sechsjähriges Kind auf Ma Joyannes Schoß. Es ist dunkelhaarig und krausköpfig, und hellbraun.
Antoine an der Tür zu Audreys Haus, nachdem er die Kinder für das Wochenende bei sich gehabt hat.
Audrey und er, alt und ergraut, mit ihren Enkeln auf dem Schoß.

Antoine schüttelt den Kopf. Er kann nicht wissen, was die Zukunft bringt. Er kann nicht garantieren, dass alles gut ausgehen wird. Er weiß nur eines. Er wird sein verdammt noch mal Bestes tun.
« Letzte Änderung: 16.01.2013 | 21:53 von Timber Talcolm »
Zitat von: Dark_Tigger
Simultan Dolmetschen ist echt kein Job auf den ich Bock hätte. Ich glaube ich würde in der Kabine nen Herzkasper vom Stress bekommen.
Zitat von: ErikErikson
Meine Rede.
Zitat von: Shield Warden
Wenn das deine Rede war, entschuldige dich gefälligst, dass Timberwere sie nicht vorher bekommen hat und dadurch so ein Stress entstanden ist!