Einfache Systeme werden für "schlichte Gemüter" (Euphemismus für Idioten) geschrieben?
Nee, schlichte im Sinne von genügsame, anspruchslose, Spieler sind eher die Zielgruppe für anspruchslosere Systeme. War vielleicht etwas unglücklich ausgedrückt. Ansonsten verhält es sich mit Rollenspielsystemen ähnlich wie mit der Sprache - um eine gewisse Ausdruckstiefe und Prägnanz zu erreichen, ist es unumgänglich, auch eine gewisse Komplexität zu bemühen, um eine differenzierte und tiefer gehende Darstellung zu erreichen. Genausowenig wie man mit einer Farbrolle ähnlich gut wie mit einem Bleistift eine Porträtzeichnung anfertigen kann, hat ein System mit feineren Abstufungen und Nuancen weniger Probleme, rein plakative Oberflächlichkeit hinter sich zu lassen, als die üblicherweise sehr viel grobmotorischeren und unschärferen typischen einfachen Systeme. Ich halte das jetzt nicht für eine sonderlich bahnbrechende Erkenntnis.
Andersrum wird natürlich auch ein Schuh draus: Ein Spieler, der nur begrenzt fähig oder willens (erfahrungsgemäß ist es weniger ein Problem von kannicht sondern vielmehr von willnicht) ist, sich mit dem Regelwerk oder mit dem Hintergrund eines Spiels auseinanderzusetzen, wird mit einem sehr einfach gehaltenen System natürlich auch eher glücklich werden, als der engagiertere Spieler, der eher bereit ist, Zeit und Aufmerksamkeit darin zu investieren, sich Regel- und Hintergrundkenntnisse anzueignen. Hinzu kommt, dass die meisten etwas anspruchsvolleren Spieler die ich so kenne durch ein all zu einfaches System einfach intellektuell unterfordert sind und sich daher diesbezüglicher schneller mal langweilen. Passiert mir dauernd und ich bin in der Hinsicht meines Erachtens gar nicht so anspruchsvoll.
Erfüllendes Rollenspiel erschließt man sich über das, was die Charaktere tun, nicht darüber, was man ihnen als SL zum Fraß vorwerfen kann. Letztlich habe ich meine intensivsten Rollenspielrunden in fast intimen, extrem fokussierten Settings und mit One-Shots gehabt. "Dicke" Settings helfen zwar, lange Kampagnen zu bauen, aber ich bin mittlerweile ohnehin kein Freund von langen Kampagnen mehr.
Ich hab doch gar nicht geleugnet, dass entsprechende Settings & Regeln für One-Shots gut geeignet wären. Wobei ich eh die Vermutung habe, dass One-Shots dazu neigen, als intensiver wahrgenommen zu werden (was fürs Rollenspiel genauso gut wie intensiver zu sein), weil jedes Szenario ja tatsächlich neu ist und durch die Abgeschlossenheit der Ereignisse die Spieler auch eher mal bereit sind, Risiken einzugehen oder etwas krassere Charaktere zu spielen, deren Wirkungsmächtigkeit im typischen Kampagnenspiel recht schnell abnehmen würde.
Denkst du nicht, dass das mit einem "nur verbohrte Buchhalternaturen brauchen mehrbändige Settings zum festhalten, damit sie beim Rollenspiel nicht umfallen" viel zu einfach zu kontern ist?
Vielleicht; ist möglicherweise eine Frage der Wahrnehmung und Perspektive. Ich persönlich vertrete die These, dass interessantes Rollenspiel interessante Charaktere zwingend voraussetzt. In der Regel bedeutet dies auch, dass die Charaktere homogen in ihre Spielwelt eingebettet sind und aus dem Hintergrund erwachsen, anstatt als davon losgelöste Fremdkörper in der Luft zu hängen. Daher ist ein Hintergrund, der eben diese Einbettung der Charaktere bedingt und fördert, ein ganz wesentlicher Vorteil fürs Spiel.
Natürlich hast du nicht unrecht wenn du sagst, dass tatsächlich zählt, was am Ende am Tisch ankommt und nicht was auf dem sprichwörtlich geduldigem Papier der Bücher steht, aber es ist doch kontrafaktisch, anzunehmen, dass das zwei völlig von einander losgelöste Kategorien sind. Der Hintergrund der Vorgabe kann dem Spielleiter erst das Rüstzeug geben, damit dieser auch etwas hat, was erkonstruktiv ins Spiel einbringen kann, ohne eben auf der bereits erwähnten Ebene der reinen unverbindlichen Blafaseligkeit zu verharren. Kontinuität und Nachhaltigkeit des Spiels erfordern eine Fixierung des Hintergrunds.
Ähnlich wie bei den Regeln gilt auch für den Hintergrund, dass eine gewisse Darstellungstiefe eine dem entsprechende Komplexität zwingend erfordert. Dies ist allerdings insbesondere für die Handlung wesentlich prägender, da eine tatsächlich mehrschichtige und komplexe Handlung eine entsprechende Grundlage erfordert; ein einfacher und eindimensionaler Hintergrund limitiert die entsprechende Handlung auf einfache und eindimensionale Handlungsstränge.
Und auch wenn ich damit das Argument wiederhole: Einfache Hintergründe werden schnell langweilig. Entsprechende Tiefe und Vielschichtigkeit erlaubt auch Abwechslungsmöglichkeiten, Variationen und Nuancen, die ein einfacheres Setting eben nicht bietet.
Terrorbeagle, vielleicht magst Du uns mitteilen, was Du unter guten, intensiven, anspruchsvollen Rollenspielerlebnissen überhaupt verstehst. Die hast Du jetzt schon in verschiedenen Threads wiederholt gefordert, aber ich weiß immer noch nicht, was Du damit überhaupt meinst. Für krasses Drama, für die tiefgehende Behandlung menschlicher Nöte, für intensivstes Charakterspiel mit schauspielerischer Höchstleistung brauche ich weder ein ausgefeiltes Setting noch ein komplexes Regelwerk.
"krasses Drama, für die tiefgehende Behandlung menschlicher Nöte, für intensivstes Charakterspiel mit schauspielerischer Höchstleistung" ist die eine Seite der Medaille, aber das findet ja auch nicht im luftleeren Raum statt noch losgelöst von den tatsächlichen Ereignissen. Die tatsächliche Handlung und die Darstellung des Hintergrunds sind zwar weniger augescheinlich, aber keineswegs weniger wichtige Elemente eines gelungenen Rollenspiels. Relevantes Drama erfordert auch relevante Ereignisse. Eine verlorene Socke oder ein verregnetes Picknick bietet einfach weitaus weniger Potential für große Momente, wenn diese nicht albern wirken sollen.
"schlichte Systeme sind für schlichte Gemüter" gepaart mit "nur Üppigkeit schafft Niveau" ist in meinen Augen nicht nur falsch, sondern auch ungerechtfertigt erhebend und gleichermaßen beleidigend.
Ich weiß, dassich eine Mindermeinung vertrete, die bekanntermaßen etwas unbequem ist. Aber wer das ganze als Beleidigung auffasst, sollte sich vielleicht eher mit der eigenen Kritikfähigkeit auseinandersetzen, bevor er sich auf die inhaltliche Auseinandersetzung einläßt. Eine Diskussion auf dem Niveau, "ich bin toll, du bist toll" (gesungen von einem lila Plüschdino) ist zwar nett, aber leider wenig konstruktiv.