Ich wollte das nicht noch in den PE-Thread schreiben, da das zu weit führen würde. Daher habe ich das Thema mal ausgelagert.
Der Titel des Threads sagt es eigentlich schon:
Ich behaupte, dass das, was allgemein immer so als 'Immersion' tituliert wird nämlich das Entdecken und Erfahren einer Spielwelt aus Sicht des Charakter, im Pen&Paper-Rollenspiel gar nicht erreichbar ist! Oder das man dem Fehlschluss erliegt, dass es durch Zurückfahren von Metagaming-Aspekten irgendwie annäherungsweise erreichbar sei. Wie komme ich zu dieser ketzerischen These?
Erstmal natürlich ist das ein emotionales Thema für mich, da die ganzen PE- und Immersionsdiskussionen doch häufig in der Aussage gipfeln:
Wenn ich auf der Metaebene spiele, erreiche ich keine starke Immersion in meiner Charakterrolle, da ich dann aus der Charaktersicht herausgerissen werde. Für sich genommen, mag die Aussage auf einzelne Spieler zutreffen. Sie enthält aber leider auch zumindest die Tendenz, die Aussage zu verabsolutieren und damit zu sagen:
Spieler, die auf der Metaebene spielen und PE-Mechaniken verwenden, erreichen überhaupt gar nicht erst eine Immersion oder den Grad an Immersion, den Spieler erreichen können, die die Ingame-Ebene nicht verlassen. Und wenn wir Immersion als ein tieferliegendes Verständnis des Charakters, ja, des echten "sich als der Charakter fühlen" definieren, dann würde das effektiv heißen:
Nur ohne Meta ist echte Charakteridentifikation möglich.Dem will ich widersprechen. Ich kann ja auch als Nicht-Metaspieler nach meinem Glas greifen und einen Schluck Cola nehmen, ohne dass meine Immersion Schaden nimmt. Ich kann dem SL eine nicht charakterbezogene Frage stellen ("In diesem Setting haben Goblins vier Arme, oder?") oder meine Spielwerte studieren oder nebenbei einen Fakt in der Hintergrundgeschichte meines SCs definieren, ohne dass ich das Gefühl habe, dass ich mich weniger mit dem SC identifiziere als zuvor. Zumindest geht es mir so. Und auch bei PE habe ich nicht das Gefühl, dass meine Identifikation mit meinem SC dadurch abnähme. Natürlich: Ich verlasse seinen direkten Blickwinkel und handle im Zweifelsfall nicht aus seiner Perspektive. Aber tue ich das nicht auch bei jedem Würfelwurf? Bei jedem Spielstein, der herumgeschoben wird? Bei jedem Lacher über den Witz eines Mitspielers, den mein Charakter gar nicht verstehen könnte. Ich möchte also festhalten:
Irgendwie meta sind wir als Rollenspieler immer!Aber ich gehe jetzt noch ein bisschen weiter: Man möge mir verzeihen, wenn ich hier zu weit gehe. Klar, man könnte argumentieren ich hätte diese Erfahrung einfach noch nie gemacht. Ich hätte nur die Schatten der Amphoren an der Wand gesehen, die andere Leute, die das Sonnenlicht schon erblickt haben, am Fackelschein vorbeitragen. Vielleicht. Ja, und vielleicht sehe ich das Ganze auch viel zu eng und es ist eigentlich nichts dabei, wie wenn Leute über die Originalität von "Avatar" reden und am Ende ist es doch nur Pocahontas mit blauen Indianern.
Ich oute mich also mal:
Ich habe noch niemals Immersion im Rollenspiel erreicht!Dabei habe ich es echt versucht, habe alle autoritären SLs ertragen, die man nur ertragen kann. Habe seitenlange Hintergrundgeschichten geschrieben. Habe mich so angezogen wie mein Charakter. Habe alles von Freeform bis zu klein-klein-detailliertem Spiel versucht. Habe den Laws'schen-Spielertypen-Test so oft wiederholt, bis bei meinem Ergebnis "100% Method Actor" stand. Nichts. Hat nicht funktioniert.
Dieses vielzitierte Gefühl, die Geschichte aus der Perspektive eines Charakters zu erleben, diese Geschichte zu leben, die Spielwelt als Charakter zu betreten und wieder zu verlassen und für diese Zeit sozusagen deckungsgleich mit dem Charakter zu sein und alle Handlungen aus seiner Perspektive zu tätigen: All das habe ich nie erfahren.
Warum ist das so? Naja, inzwischen habe ich einen Verdacht. Man sehe mir die Theatralik nach, aber ich habe da tatsächlich ein Zitat aus der Serie
"Glee" gefunden, was gut passt: Sue Sylvester berichtet hier darüber, wie sie versucht hat, damit klarzukommen, dass ihre große Schwester von anderen gehänselt wird.
People were rude to her. They were cruel. They laughed at her, and so I began to pray. I prayed every night for her to get better. And nothing changed. So I prayed harder. And after awhile I realised it wasn't that I wasn't praying hard enough. It's that no one was listening.
Okay, spätestens jetzt habe ich wohl die Hälfte meiner Leser verloren. Naja, auch egal, denn das Zitat trifft für meine Versuche, die Immersion zu erreichen, auch zu. Denn eins habe ich vielleicht begriffen:
Immersion ist unmöglich!Zumindest beim Rollenspiel. Denn Pen&Paper-Rollenspiel als Medium kann das gar nicht. Zu viele störende Metafaktoren stürzen auf uns ein, um wirklich sagen zu können, wir erreichen eine Identifikation mit einem Charakter, die so stark ist, dass wir in die Spielwelt wirklich eintauchen. Zumindest mir gelingt das nicht, aber ich hatte bislang, auch bei echten beinharten Immersionisten nicht den Eindruck, dass es irgendwem gelingt.
Beobachte ich mein Leseverhalten, wird das auch deutlich: Bücher schaffen es irgendwie auch nicht, mich so zu fesseln, dass ich mich in ihre fiktive Welt versetzt führe. Klar, natürlich sehe ich die sanften Ausläufer des Auenlandes oder die schroffen Wände der Mauer, wenn ich die entsprechenden Werke lese. Klar höre in Gedanken das Pochen des Tell-Tale-Heart unter den Bodendielen (obwohl die Erfahrung bei Geräuschen schon diffuser wird). Aber selbst bei Texten aus Sicht eines Ich-Erzählers gelingt mir kein vollkommenes Aufgehen in der Figur. Bei
Leutnant Gustl, so gut die Erzählung auch ist... ich habe nie den Eindruck wirklich Gustl zu sein und aus seiner Perspektive mit der Welt zu interagieren.
Bei Filmen, wo die visuelle und auditive Ebene dazukommt, geht es schon besser, aber auch da tauche ich nie weit genug ein,
um ein immersives Gefühl im Sinne dieses heiligen Grals des Rollenspielertums zu erreichen. Ich kann von einem Film gefesselt sein, gefangen sein, aber ich bin nicht wirklich "drin".
"Ja", sagt jetzt der versierte Game Studies-Forscher, "du bist ja auch nur passiv dabei und hast keine interaktive Kontrolle über den Film oder den Text. Du musst schon eingreifen können, sonst wird das mit der Immersion auch nix!" Also zu den Videospielen. Und siehe da: Die Figur auf dem Bildschirm tut, was ich will. Ich interagiere über sie mit der Spielwelt. Mann, das ist toll, aber... ich habe trotzdem nicht das Gefühl eine echte
persona-Beziehung zu ihr aufzubauen. Ich meine: Da sind Knöpfe und da drücke ich drauf und die Figur macht dann was. Ich habe das nicht getan. Sie ist zwar mein
avatar in der Spielwelt, aber die Stufe des
characters erreicht sie doch nur bei sehr storyintensiven Spielen (Open-World-Games zünden bei mir da gar nicht, da bleibe ich im Avatar-Modus). Und wenn ich dann wirklich mal von der Figur als "Ich" rede, dann bleibe ich doch auf der Metaebene. Wenn ich sage "Ich habe den 10 Level geschafft." oder "Ich habe mir Selphie in die Party geholt.", dann meine ich mit "ich" doch eigentlich mich als Spieler (sogar bei Sätzen wie "ich bin gerade an der Stelle, wo ich meinen Vater wiedergetroffen habe"), denn ich denke vom Spiel als eine
Herausforderung, die ich mit meinem spielerischen Geschick bewältigt habe. Also, liebe Computerspiele: Auch da keine Immersion.
Beim Pen&Paper-RPG habe ich das auch noch nie geschafft: Wie auch, denn die Kanäle sind um ein vielfaches primitiver als im Computerspiel. Ich habe keine Bilder, keine Texte, nur einen unzuverlässigen Audiokanal. Wie soll das was werden mit der Immersion, mit dem Eintauchen in die Spielwelt? Also ich kriege das nicht gebacken. Mehr als ein buch-mässiges Pseudoeintauchen in diese virtuelle Realität schaffe ich nicht.
Okay, eins kann ich von mir behaupten: Ich kenne meine Charaktere. Ich kann mich sogar mit ihnen identifizieren. Ich kenne ihre Träume, Ziele, Vorlieben, Abneigungen und weiß wie sie aussehen, handeln, denken. Aber das weiß ich auch von Leutnant Gustl. Der Unterschied mag sein, dass ich sie selbst so gestaltet habe: Ich habe sie als Autor mir so zurechtgelegt und improvisiere den Rest. Dazu greife ich auf Methoden aus dem Method Acting zurück und das heißt: Ich erschaffe fiktive Erinnerungen und frage mich, wo, wie und was der Charakter gerade durchmacht und wo, wie, wer und was er ist. Ich habe selbst auch schon Theater gespielt, wo ich das nicht so systematisch gemacht habe und trotzdem das Gefühl hatte, meine Figur zu kennen oder mich mit ihr zu identifizieren. Aber ich bin trotzdem nie an den Punkt gekommen, wo ich diese Figur war.
Und so ist es auch beim Rollenspiel: Egal wie detailliert ich meinen Charakter ausarbeite oder kennenlerne oder wie sehr ich die Metafaktoren ausschalte: Am Ende spiele ich ihn doch und treffe permanent, tatsächlich ständig, Metaentscheidungen über ihn. Das tun Method Actors übrigens zumindest laut
Wiki auch: Niemand wird die Figur, die er spielt oder lebt die Spielwelt. In der Tat haben Method Actors eine ständige Kontrolle über ihre Metafaktoren insofern sie sie
aktiv nutzen, um ihre Figur besser darzustellen (eigene Erinnerungen oder Private Moments). Sie wissen, dass sie Schauspieler sind, blenden aber alles andere aus. Ist das vielleicht der Kasus Knackus? Ich weiß
immer, dass ich nur spiele. Aber sind Metafaktoren dann überhaupt noch spürbar. So recht weiß ich es nicht. Vielleicht könnt ihr mir da helfen.
Für mich steht Folgendes fest: Ich erfahre über Metaspiel mehr über meinen Charakter, das Setting und die Welt, als ich es nur aus Sicht meines Charakters, literaturwissenschaftlich gesprochen aus der
internen Fokalisierung (und damit der Ich-Perspektive) könnte. Durch Mitgestaltung der Spielweltfakten erreiche ich auch eine stärkere Angleichung der Spielwelt auf meine Bedürfnisse bezüglich der Fiktion und dadurch, durch Method-Acting-Übertragung auf die Figur, auch eine stärkere Identifikation mit dieser.
Okay, verschwurbelter Beitrag, gebe ich zu. Aber ich bin inzwischen der Ansicht, dass unterschiedliche Spielstile vielleicht auf unterschiedliche Weise Meta sind, aber die
persona-Identifikation mit einem Charakter können wir nie erreichen. Selbst das vielzitierte "klassische Spiel" ist unglaublich Meta, denn das ist doch ehrlich gesagt häufig Videospiel-Avatar-Perspektive. Denn letztlich löst man ja doch selbst die Herausforderung und nicht die fiktive Figur. Und inwiefern das zufällig glückliche Würfeln auf einen fiktiven Eigenschaftswert eine Herausforderung darstellt, auf die man nachher stolz sein kann... das muss mir auch noch jemand erklären. Aber das ist ja eigentlich auch eine andere Frage.
Vielen Dank jedenfalls für eure Aufmerksamkeit.