Wenn es um die Frage nach der allseits beliebten „Immersion“ ging, habe ich mich bisher immer dezent zurückgehalten. Nicht weil ich glauben dass es Immersion nicht gäbe, nicht einmal weil ich der Meinung wäre, in meinen Runden wäre Immersion kein Thema (das Gegenteil ist der Fall), sondern einfach deswegen, weil es schwierig ist, sachlich über das Thema zu reden. Der Begriff „Immersion“ ist einfach zu emotional aufgeladen, zu sehr auf Befindlichkeiten reduziert und damit zu schwammig. Für viele ist er synonym für „einfach irgendwie gutes Spiel, wo man vergisst dass man im Spiel ist, Entscheidungen emotional (und nicht nach kalter Effizienz und Logik) trifft und an welches man sich noch Jahre danach lebhaft erinnert“. Es ist also ein wenig wie „guter Sex“ – das Ergebnis wird mit der Ursache verwechselt und zum sine-qua-non erhoben, nach der alle streben sollten. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass, so wie „guter Sex“ für unterschiedliche Leute unterschiedliche Ursachen haben kann, auch das „Eintauchen“ in ein erlebtes (und, im Falle von Spielen,
ergodisches) Medium aus unterschiedlichen Ursachen erfolgt.
In letzter Zeit habe ich einige Schriften über Immersion in Computerspielen gelesen, ebenso wie über die Wurzeln der Immersion in der Kybernetik („(Tele)präsenz“) und den Sozialwissenschaften. Dies hat mich motiviert, mir ein paar Gedanken zu Grundlagen und Rolle der Immersion im Rollenspiel zu machen, welche weitestgehend durch persönliche Beobachtungen beim Rollenspiel informiert sind (für andere Erfahrungen zum Thema wäre ich daher dankbar).
Man unterscheidet gemeinhin zwischen zwei Arten von immersion/presence: den Grad, in dem der Rezipient (mental oder emotional) in eine bestimmte Aktivität (Medium) involviert ist (absorption) und den Grad, in dem er das Medium als Teil seiner Erfahrungen wahrnimmt (transportation). Diese beiden Kriterien der Immersion werden leider oft (auch von ansonsten seriösen Wissenschaftlern) durcheinander geworfen und vermischt, was oft auch eine unbotmäßige Betonung des einen oder anderen Aspekts von Immersion mit sich bringt.
Diese Gedanken finden ihren Ausdruck im Konzept der „immersive fallacy“:
„The immersive fallacy lies in the idea that the pleasure of a media experience lies in its ability to sensually transport the participant into an illusory, simulated reality. According to the immersive fallacy, this reality is so complete that ideally the frame falls away so the player really believes that he or she is part of an imaginary world.“
Die „immersive fallacy“ setzt die Erfahrung einer möglichst umfassend simulierten Welt mit dem Eintauchen in dieselbe gleich und behauptet damit, dass die Akzeptanz des Rezipienten von seiner „suspension of disbelief“ abhängt. Dass dies nicht so einfach ist, zeigen die Autoren anhand von zwei Beispielen: zum einen den Zustand des „Eintauchens“, welches ein Teenager beim Spielen von „Tetris“ empfindet (was ja ziemlich das Gegenteil einer Illusion einer täuschen echten Wirklichkeit ist und ich glaube auch kein Spieler glaubt wirklich, dass er sich während des Spielens in einer Klötzchenwelt befindet); zum anderen anhand eines Erstnutzers einer Heimkinoanlage, welcher ein Musikkonzert in perfekter Bild- und Klangqualität vorgespielt bekommt – hier wird dem Rezipienten eine nahezu perfekte Illusion der Wirklichkeit geboten, trotzdem findet ein „Eintauchen“ nicht statt, einfach weil der Rezipient die gezeigte Art von Musik nicht mag (er würde wahrscheinlich nicht einmal „eintauchen“, wenn ihm das Konzert auf einer Art „Holodeck“ dargeboten würde, wo die Illusion vollständig wäre).
Lösen wir uns also erst einmal vom Gedanken der Immersion als Personalunion von Simulation und „Aufgehen in der Rolle/Welt“ – von der Vorstellung dass man zwingend vergessen müsse, dass es ein Spiel ist und dass es als solches gewissen (Meta-)Regeln folgt. Übertragen wir also „absorbtion“ und „transportation“ auf den Kontext des Rollenspiels und schauen, wo uns das hinführt. Dabei habe ich in den Elementendes „player involvement model“ (Calleja, p.38) eine einigermaßen passende Benamung für die Phasen gefunden, in denen neue Spieler die Möglichkeiten des Rollenspiels kennenlernen und dadurch ihr Spiel verbessern (die hier beschriebenen Phasen habe ich bis jetzt bei jedem neuen Rollenspieler erleben können, mit dem ich in einer Runde gespielt – bei einigen hat der Übergang zwischen den einzelnen Phasen mehrere Spielrunden gedauert (und einige haben leider auch wieder mit Rollenspiel aufgehört, bevor sie alle Phasen durchlaufen hatten und erlebten daher nur einen "unvollständigen" Blick auf unser Hobby), andere haben alle Phasen an ihrem ersten Spielabend durchlaufen, auf jeden Fall konnte man immer recht gut sehen, wann es gerade „Klick“ gemacht hatte).
Immersion als „Affektivität“?These: Affektive Immersion entsteht durch das Nutzen der Möglichkeiten des Spiels und der Spielwelt, durch Entscheidungen und das Erleben der Konsequenzen dieser Entscheidungen.
Phase 1: Kinästhesie/Körperbewusstsein. Der Spieler erlangt ein Bewusstsein für das „Vehikel“ des Spiels (Charakter). Er lernt die Regeln, lernt was möglich ist (und was nicht) und erlangt ein grundlegendes Bewusstsein, wie sein Charakter mit der Umwelt interagiert.
Phase 2: Entdecken des Raumes. Der Spieler entdeckt, dass die Spielwelt über den durch seinen Charakter wahrnehmbaren und beeinflussbaren Bereich hinausgeht. Er stellt Versuche an, den Wahrnehmungsbereich seines Charakters zu erweitern und über indirekte Zusammenhänge Einfluss auf die Spielwelt auszuüben.
Phase 3: Ludische Gestaltung. In dieser Phase setzt sich der Spieler selbst Ziele und entwickelt Strategien, um diese Ziele im Rahmen des Spiels zu erreichen.
Immersion als „Imagination“?These: Immersion in der Imagination entsteht durch die verbale Erforschung der Möglichkeiten des GMV und Internalisierung desselben als Erlebnis.
Phase 1: Ästhetisches Bewusstsein. Der Spieler verbindet bestimmte Beschreibungen mit einer bestimmten Wirkung verbindet und richtet seine Handlungen (bewusst oder unbewusst) dementsprechend aus. Er erlangt ein grundlegendes Bewusstsein darüber, warum ihm eine Spielsitzung (nicht) gefallen hat.
Phase 2: Entdecken des Gemeinsamen. Hier wird der Spieler sich darüber bewusst, dass er nicht der einzige Rezipient der gemeinsamen Beschreibung ist, und dass seine Mitspieler ebenfalls auf Beschreibungen und Fakten der Spielwelt reagieren und diese bewerten. Dieses Bewusstsein bildet die Grundlange für einen (impliziten) Gruppenvertrag, welcher dafür sorgt, dass in der Gestaltungsphase die Imagination der Teilnehmer nicht durch (für sie) ästhetisch fragwürdige Elemente gestört wird.
Phase 3: Narrative Gestaltung. Der Spieler bringt selbst Elemente in den GMV ein und gestaltet diesen wie selbstverständlich mit (dies muss nicht zwingend „Erzählrechte“ oder irgendwelche Hippie-Techniken der Forge beinhalten – die selbstverständliche Beschreibung der Charakterhandlungen reicht für diese Art der Gestaltung schon aus). Da diese Phase nach der Auseinandersetzung mit den anderen den SIS konstituierenden Elementen (Mitspieler) erfolgt, sollte im Idealfall kein Protest bezüglich der Gestaltung von dieser Seite erfolgen.
Mag jetzt vielleicht der Eindruck entstehen, dass diese Phasen Gegensätze sind, so ist das ein Trugschluss. Auch wenn jede Gruppe ihr eigenes, ideales „Mischverhältnis“ zwischen Affektivität/Imagination hat, so kann doch keine der Phasen ohne ihr Pendant aus der anderen Kategorie zur nächsten fortschreiten.
Nur mit Kinästhesie, ohne Ästhetisches Bewusstsein, wird ein Spieler niemals zum Entdecken des Raumes übergehen (warum sollte er auch, schließlich bietet sein eigener Charakter genug taktische Optionen, warum sollte er darüber hinaus gehen wollen, wenn er keine Anforderungen an das Spielerlebnis stellt). Umgekehrt kann ein rein ästhetischer Spieler eher nicht zum Entdecken des Gemeinsamen vordringen, weil er sich nicht darüber im Klaren ist, wie die Handlungen der anderen Spielfiguren mit den Vorlieben der anderen Spieler zusammenhängen.
Eine reine Entdeckung des Raumes, ohne eine Entdeckung des Gemeinsamen, führt ebenso wenig zu einer ludischen Gestaltung, wie eine rein auf das Gemeinsame fokussierte Spielweise zu einer narrativen Gestaltung führt. So wie narrative Beiträge ein Bewusstsein für die Spielwelt bedingen, so erfordern ludische Beiträge ein Bewusstsein für die Spielteilnehmer.
Erreichen die Spieler die letzte Stufe der Immersion, welche „Aufgehen im Spiel“ und „proaktive Gestaltung“ desselben beinhalten, dann – und nur dann – ist das Spiel so gut, dass sie eine affektive Bindung an das Spielerlebnis (als für sie relevante Entscheidungsmatrix) aufbauen und intuitiv (d.h. auch
ohne den konkreten Vorsatz, jetzt „eine tolle Geschichte zu erzählen“) kreative Beiträge zum Spiel beisteuern, welche bei allen Spielteilnehmern das Gefühl eines gemeinsamen Erlebnisses erhöhen (mehr, als wenn sie nur einer einzelnen Person zuhören oder einen Film schauen/ein Buch lesen).
Verwendete Literatur:Gordon Calleja. „In-game: From immersion to incorporation“ MIT Press 2011
Katie Salen and Eric Zimmerman. „Rules of Play: Game Design Fundamentals“ MIT Press 2003