Autor Thema: Explizite vs. implizite Mechanismen  (Gelesen 1035 mal)

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Offline Garonoth

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Explizite vs. implizite Mechanismen
« am: 13.09.2013 | 15:19 »
Ich grüble schon seit einiger Zeit über ein Problem nach, für das mir einfach keine gescheite Lösung einfallen will. Begonnen hat es mit dem Versuch, mein geliebtes und mittlerweile recht bewährtes Homebrew für ein breiteres Publikum aufzubereiten. Das System an sich ist eher regelleicht, auch hatte ich nie Schwierigkeiten, die Philosophie dahinter zu erklären. Dennoch wollte es mir nicht gelingen, aus dem Ganzen einen zusammenhängenden Text zu zimmern.

Einer der größten Stolpersteine war dabei die Universalität der Kernmechaniken, die jede zweite Formulierung mit Ausnahmen spicken oder zu hyperkorrektem Wissenschaftlerjargon eindampfen wollte. (Z.B. das Prinzip, das eigentlich alles ein Charakter sein kann... FATE-Spieler kennen vielleicht das Problem, nicht genau zu wissen, was man denn jetzt mit welchem Konstrukt am besten abbildet...) Nicht, dass sich so etwas nicht ausklammern ließe, nur nutze ich an einigen Stellen genau jene Eigenschaft, um die Abstraktionsebene im laufenden Spiel zu verschieben. In einer Massenschlacht etwa wird jede Armee zu einem Charakter, einzelne Soldaten(-gruppen) sind die "Lebenspunkte" dieses Charakters usw.
Dies nur beispielhaft als (häufigeren) Fall des grundsätzlichen Problems: Eine Entwicklung weg von konkreten (optional-) Regeln für jeden Einzelfall hin zu allgemein anwendbaren, tendenziell etwas abstrakteren Mechanismen, wie sie gerade in der Indie-Ecke zu beobachten ist, führt (IMHO) erst einmal zu deutlichem Mehrwert. Eine geschickte Verschachtelung einzelner Regelelemente kann implizit Wechselwirkungen erzeugen, die den Spielablauf grundlegend beeinflussen können, ohne daß der Spieler dazu Mehraufwand betreiben müßte. Meiner Meinung nach bedeutet gutes kohärentes Design auch immer ein enges, nicht immer sofort erkennbares Ineinandergreifen der verschiedenen Regelteile. (Ist SW hier ein gutes Beispiel? Oder verrenne ich mich da?)

Ich bin aber mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem sowohl die Anwendungsmöglichkeiten als auch die Art und Weise, wie bestimmte Mechanismen interpretiert werden können, so vielfältig sind, dass ein Einsteiger diese nicht mehr auf einen Blick erfassen kann. Eine mögliche Lösung, die ich bereits z.T. verfolge ist, für die häufigsten Fälle Anwendungsbeispiele zu geben und es ansonsten bei einem allgemeinen Hinweis zu belassen. Mein System hat da den Vorteil, dass die Zahl der konkreten Optionen überschaubar ist. Ich will mich auch garnicht sosehr an der Universalität eines Systems aufhängen, vielmehr geht es mir um das Verhältnis zwischen expliziter (ausdrücklich beschriebener) und impliziter (energenter) komplexität und wieviel von letzterer man dem Spieler vermitteln sollte.

Ganz simples Beispiel: In irgendeiner Iteration eines "Herr der Ringe"-Rollenspiels hieß es, Probenschwierigkeiten sollten bitte immer Vielfache von 5 sein. Es gäbe Gründe(TM) dafür, die zu erklären aber zu weit führen würde. Das hat mich ein wenig vor den Kopf gestoßen, schließlich sollte ich, zumindest als SL, doch das System, das ich leiten will, verstanden haben.
Letztlich lag der Grund dafür bloß in der Glockenkurve des Würfelsystems und war gar nicht so kompliziert. Zum Einen fällt mir hier auf, daß ein Mechanismus, der das Spiel (hier den Wertebereich der Schwierigkeiten) unnötig einschränkt, eher unter schlechtes Design fällt. Zum Anderen bin ich aber tatsächlich nicht sicher, ob es für den durchschnittlichen Spieler besser gewesen wäre, das Ganze mathematisch aufzubereiten.

Kommen wir also zu meiner eigentlichen Frage: Ist es eurer Meinung nach besser, nur die Regeln an sich zu erklären und die Spieler einfach entdecken zu lassen, wie sich das Spiel in der Praxis anfühlt oder sollte mehr Wert darauf gelegt werden, zu vermitteln, wie sich das Werkzeug, das man dem Spieler in die Hand gibt, an besten einsetzen läßt? Oder verfehlen meine Überlegungen hier des Pudels eigentlichen Kern?

Edit:

Um nicht zu kompliziert zu denken: Angenommen ich hätte einen Mechanismus, der zwei oder mehr an sich grundverschiedene Dinge gut abbilden kann, sollte ich dann versuchen, einfach einen gemeinsamen Namen für diesen Mechanismus zu finden oder ist es günstiger, mehrere gleiche oder ähnliche Mechanismen unter verschiedenen Namen bereitzustellen?
« Letzte Änderung: 13.09.2013 | 15:28 von Garonoth »
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Online Selganor [n/a]

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Re: Explizite vs. implizite Mechanismen
« Antwort #1 am: 13.09.2013 | 15:34 »
Warum nicht beides?

In den Regelteil das "was" der Regeln und als Sidebar (oder Artikel evtl. auch als Artikel auf der Homepage) das "warum" der Regeln fuer die Leute die sich naeher dafuer interessieren.
Auf die Weise koennen die Leute die sich nicht fuers Warum interessieren das einfach ignorieren/ueberspringen...
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Offline DasTaschentuch

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Re: Explizite vs. implizite Mechanismen
« Antwort #2 am: 13.09.2013 | 16:05 »
Zitat
Ist es eurer Meinung nach besser, nur die Regeln an sich zu erklären und die Spieler einfach entdecken zu lassen, wie sich das Spiel in der Praxis anfühlt oder sollte mehr Wert darauf gelegt werden, zu vermitteln, wie sich das Werkzeug, das man dem Spieler in die Hand gibt, an besten einsetzen läßt?

Rollenspieler sind meiner Erfahrung nach überdurchschnittlich intelligente Menschen, insbesondere Leser von Nischenregelwerken.

Es gab(gibt) bei D&D/PF und co zwar genug Zauber wo nicht klar ist wie genau die Wirkungsweise ist das liegt aber nicht an der Regel an sich sondern an schlechter deutscher Übersetzung oder dumm geschriebener Erklärung.

Wenn du ein konkretes Beispiel für eine deiner Regeln hast die vielleicht Zusatzerklärungen benötigen, dann poste sie einfach. Wenn sie unverständlich ist werden sicher hier genug Leute nachfragen.

Offline Garonoth

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Re: Explizite vs. implizite Mechanismen
« Antwort #3 am: 13.09.2013 | 17:27 »
Es geht mir ja vor allem um die Fragen, die eben nicht gestellt werden, weil schlicht die Implikationen einer Regel nicht immer offensichtlich sind. Aber gut, bleiben wir mal bei nem konkreten Beispiel, vielleicht wird mein Problem dann deutlicher:

Im Konfliktsystem, das ich verwende, wählt jeder Beteiligte zunächst eine Fähigkeit und eine Verteidigung, die er im aktuellen Konflikt verwenden möchte. Aktionen werden über vergleichende Würfe abgehandelt, die Differenz bestimmt den Erfolgsgrad. Man kann damit entweder die Fähigkeit seines Gegners senken (darf nicht unter 0 sinken) oder aber Schaden verursachen. Das muß vorher angesagt werden. Die Fähigkeit steigt wieder auf den Ursprungswert, wenn man Schaden kassiert. Will man Schaden verursachen, darf der Angegriffene seine Verteidigung zu seinem Wurf addieren.

Eine gesenkte Fähigkeit bedeutet natürlich auch, dass man in der folgenden Runde ein niedrigeres Ergebnis kassiert, ergo der Gegner vermutlich noch mehr Erfolge einsackt. Man kann also Erfolge "aufsparen", um später mehr Schaden anzurichten, bis irgendwann die Fähigkeit bei 0 liegt.

Der Witz liegt nun unter Anderem darin, dass erfahrenere Charaktere, die tendenziell höhere Werte haben, viel weiter sinken können, bis sie bei 0 ankommen, gleichzeitig aber auch eine höhere Verteidigung besitzen. Gegen unerfahrene Gegner ist es meist effizienter, direkt Schaden anzurichten, während man sich gegen einen Veteranen damit schnell eine blutige Nase holt. Dies gilt unabhängig davon, wie gut man selber ist.

Wenn ich z.B. einen Kampf spiele, sind Duelle zwischen "hochstufigen" Charakteren i.d.R. feiner aufgelöst, die einzelnen Hiebe aber deutlich tödlicher. In Überzahl, gerade gegen überlegene Gegner, ist es oft sinnvoll, dass der beste Kämpfer der Gruppe den Feind "unten hält", während der Rest möglichst viel Schaden anrichtet.
Auch bietet es, da die Werte eines anderen Charakters in der Regel nicht bekannt sind, einen konkreten regeltechnischen Vorteil, vom Gegner unterschätzt zu werden, ohne dass es dazu einer separaten Regel bedürfte.

Naja, ich belasse es aber hier bei den genannten Beispielen. Das komplette System ist noch ein wenig umfangreicher (man hat normal nicht 2 sondern eher 4 oder 5 verschiedene Optionen), und die Zahl der Wechselwirkungen nimmt natürlich überproportional zu.

Das Spielgefühl und die Effektivität verschiedener Taktiken verändern sich jedenfalls mit der Erfahrung der Charaktere. In diesem Beispiel könnte es von Vorteil sein, zunächst die Regeln zu erklären und anschließend (oder nebenher, in kleinen Textboxen) darauf hinzuweisen, dass es z.B. eine schlechte Idee ist, einen erfahrenen Kämpfer direkt zu attackieren etc. Ich stoße ständig auf Stellen, die von solchen kleinen Hinweisen profitieren würden.

Es geht mir bei dieser Frage übrigens nicht um Designphilosophie oder Rechenbeispiele (die muß ich wahrlich nicht jedem auf die Nase binden), sondern darum, dass ein Spieler sich nicht durch das System gegängelt oder gar hinterrücks überfallen fühlt, weil er zwar die Regeln gelesen und verinnerlicht, deren Zusammenwirken aber vielleicht nicht vollständig durchschaut hat. Implizites Design halt.
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Offline 1of3

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Re: Explizite vs. implizite Mechanismen
« Antwort #4 am: 13.09.2013 | 18:16 »
Ich benutz dafür gern Beispiel-Abschnitte. Die werden sowieso erst interessant, wenn mehr passiert als nur die Regel zu wiederholen.

Offline Beral

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Re: Explizite vs. implizite Mechanismen
« Antwort #5 am: 22.09.2013 | 10:24 »
Feines Thema!

Einer der größten Stolpersteine war dabei die Universalität der Kernmechaniken, die jede zweite Formulierung mit Ausnahmen spicken oder zu hyperkorrektem Wissenschaftlerjargon eindampfen wollte. (Z.B. das Prinzip, das eigentlich alles ein Charakter sein kann... FATE-Spieler kennen vielleicht das Problem, nicht genau zu wissen, was man denn jetzt mit welchem Konstrukt am besten abbildet...) Nicht, dass sich so etwas nicht ausklammern ließe, nur nutze ich an einigen Stellen genau jene Eigenschaft, um die Abstraktionsebene im laufenden Spiel zu verschieben. In einer Massenschlacht etwa wird jede Armee zu einem Charakter, einzelne Soldaten(-gruppen) sind die "Lebenspunkte" dieses Charakters usw.
REIGN macht das auch. Der "Charakter" wird zur "Company" wenn ich mich nicht irre.

Ganz simples Beispiel: In irgendeiner Iteration eines "Herr der Ringe"-Rollenspiels hieß es, Probenschwierigkeiten sollten bitte immer Vielfache von 5 sein. Es gäbe Gründe(TM) dafür, die zu erklären aber zu weit führen würde. Das hat mich ein wenig vor den Kopf gestoßen, schließlich sollte ich, zumindest als SL, doch das System, das ich leiten will, verstanden haben.
Letztlich lag der Grund dafür bloß in der Glockenkurve des Würfelsystems und war gar nicht so kompliziert. Zum Einen fällt mir hier auf, daß ein Mechanismus, der das Spiel (hier den Wertebereich der Schwierigkeiten) unnötig einschränkt, eher unter schlechtes Design fällt. Zum Anderen bin ich aber tatsächlich nicht sicher, ob es für den durchschnittlichen Spieler besser gewesen wäre, das Ganze mathematisch aufzubereiten.
Wenn sowas passiert, sollte im Regelwerk ein knapper Hinweis stehen, warum das so ist. "Die statistische Verteilung des Probensystems ist ideal, wenn man mit Vielfachen von 5 arbeitet." Für Interessierte muss man nicht das Regelbuch mit Formeln vollkleistern, ein Hinweis auf die Homepage reicht, wo es in einer eigenen Statistikrubrik dann ausführlich erklärt wird. So bleibt dein Regelwerk schlank, der Leser hat eine Begründung für die Regel und bei vertieftem Interesse hat jeder die Möglichkeit, die Details nachzuschlagen. Ganz nebenbei wird die Homepage deines Systems dadurch aufgewertet, weil sie echten Mehrwert bietet.

Kommen wir also zu meiner eigentlichen Frage: Ist es eurer Meinung nach besser, nur die Regeln an sich zu erklären und die Spieler einfach entdecken zu lassen, wie sich das Spiel in der Praxis anfühlt oder sollte mehr Wert darauf gelegt werden, zu vermitteln, wie sich das Werkzeug, das man dem Spieler in die Hand gibt, an besten einsetzen läßt? Oder verfehlen meine Überlegungen hier des Pudels eigentlichen Kern?
Im Regelbuch sollte meiner Meinung nach ein Hinweis stehen, der die taktischen Implikationen des Systems ganz allgemein anreißt. Um bei deinem Kampfbeispiel zu bleiben: "Gegen unerfahrene Gegner ist es meist effizienter, direkt Schaden anzurichten, während man sich gegen einen Veteranen damit schnell eine blutige Nase holt. Gegen den besseren Gegner ist es daher effektiver, zuerst seine Fähigkeit zu senken." Fertig. Solche Hinweise kannst du als kleine Infokästen überall einstreuen, wo es sinnvoll ist. Mit dieser Info läuft man nicht total blind in das System rein, sondern kennt die grobe Richtung schon. Die Details zu explorieren ist dann Sache der Spieler. Für besonders Interessierte kannst du wiederum einen Hinweis auf den entsprechenden Wikieintrag auf der Homepage verweisen.

Wenn du die Wirkungsweisen des Mechanismus detailliert offenlegst und prozentgenau die verschiedenen Taktiken gegeneinander ausrechnest, öffnest du Meckerern Tür und Tor. Die Spieler geben sich auch mit blöden Mechanismen zufrieden, solange sie nicht durchschauen, wie blöd die eigentlich sind. Rechnest du ihnen den Blödsinn aber einmal schwarz auf weiss vor, ist der Schleier gelüftet und die Unzufriedenheit kann sich breitmachen. Selbst wenn dein System richtig gut ist und keinen Blödsinn enthält, so gibt es doch verschiedene Geschmäcker. Was dem einen plausibel erscheint, ist dem anderen unglaubwürdig; was der eine als gute Wahrscheinlichkeitsverteilung empfindet, ist dem anderen langweilig. Dein System offen auszuschlachten bietet in jedem Fall viel Futter für berechtigte und unberechtigte Kritik. Besonders nervig wird es, wenn irgendwelche Kritiker aufgrund der offengelegten Wahrscheinlichkeiten eine Fehleinschätzung hinlegen und das System als für sich ungeeignet einstufen, obwohl es vom Spielgefühl her sie begeistern würde.

Richtige Details würde ich daher nicht im Regelwerk unterbringen. Aber Hinweise nach der Art "Taktik x ist für die Gruppe, die in Mehrzahl agiert, besser als Taktik y". Das ist ein unverbindlicher Vorschlag an die Spieler. Wenn sie es nicht glauben, können sie eigene Erfahrungen sammeln.

Vermeide verschachtelte Hinweise. Sowas wie "wenn du unterlegen bist UND die bessere Rüstung hast UND in Überzahl bist UND einen Geländenachteil hast, DANN ..." sollte nicht drinstehen. Mach für jede Option einen eigenen Hinweis an der entsprechenden Stelle und lass die Spieler die Wechselwirkungen selbst erkunden.

http://1w6.org/ Schau dir vielleicht dieses System an. Der Autor bietet tiefen Einblick in die Wirkungsweise des Systems. Du kannst sehen, wie sowas wirkt, wie man das präsentieren kann usw.
Spielertyp: Modellbauer. "Ich habe das Rollenspiel transzendiert."

"Wir führen keinen Krieg...sind aber aufgerufen eine friedliche Lösung auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen." Gerhard Schröder.