Mit Beginn der Diskussion um GNS sowie der Entwicklung darauf basierender Spiele begann in unserem Hobby zugleich ein groß angelegter Hypothesentest: wenn die Rollenspieltheorie der Forge und insbesondere GNS die Wirklichkeit gut abbildet, dann müssten Spiele mit klar fokussierter Agenda rocken wie die Hölle. Schließlich sind die Leute dann endlich mal in der Lage, ihre dysfunktionalen Runden durch funktionale zu ersetzen. Das muss doch einen irrsinnigen Effekt haben und das Hobby enorm stark in die "richtige" Richtung lenken.
SYSTEM MATTERS!
Heute wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Die durch GNS formulierten Thesen wurden falsifiziert. Die Vorstellung war naiv, die Theorie falsch, der Hypothesentest auf breiter Front gescheitert. Immerhin war GNS sehr hilfreich für die Sortierung von Gedanken im Zusammenhang mit Spieldesign. Das ist fraglos ein enormer Nutzen, welcher der Entwicklung von Rollenspielen unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung und Korrektheit von GNS langfristig nutzen könnte.
Jedoch: Ich kenne keine einzige, lange Kampagne mit einem der Forgespiele. Warum das so ist? Durch die Fokussierung geht vermutlich ein massiver Motivationsverlust für das Langzeitspiel einher. Parallel kenne ich kein GNS-basiertes Spiel mit einer - im Vergleich zu den führenden Systemen - nennenswerten Auflage. Das dürfte doch theoriegemäß kaum sein! Wenn man dann noch D&D4 zu den GNS-inspirierten Spielen zählt, und das kann man meiner Ansicht nach mit gutem Grund tun, dann haben wir sogar eines der größten kommerziellen Desaster der Rollenspielgeschichte, was ziemlich direkt durch GNS verursacht wurde.
Mit anderen Worten: der sich mit der Agenda "System DOES Matter" verbindende Ruf nach einem stringenteren Design von Rollenspielen ist trotz eines gewaltigen Tamtams letztlich ungehört verhallt. Weder in der Tiefe noch in der Breite haben sich die GNS-inspirierten Spiele durchgesetzt. GNS und damit der Kern des Modells der Forge ist gescheitert.
Versteht mich nicht falsch: sehr viele Spiele der Forge habe ich eine zeitlang sehr gerne gespielt und durchaus als bereichernd empfunden. Aber für meine Bedürfnisse sind Indies mittel- und langfristig keine gute Lösung (mit Ausnahme von D&D4 vielleicht, das immerhin ein paar Jahre motivieren konnte). Wenn ich eine begrenzte Zahl an Rollenspiel mit auf eine einsame Insel nehmen dürfte, wäre ein Indie erst auf einem der hinteren Plätze dabei (vermutlich Fiasko).
Vor diesem Hintergrund empfinde ich Zitate wie das folgende aber als ignorant und hoffnungslos von der Realität überholt:
D&D kann immerhin eine Sache gut, auch wenn es ganz viel Ablenkendes enthält: Monster töten. Vampire kann gar nichts.
Das ist ein Beitrag, der die empirischen Fakten ausblendet und, überspitzt ausgedrückt, Vampirespieler insgesamt zu Dummköpfen erklärt, die nicht wissen, was EIGENTLICH gut für sie ist. Denn Vampire ist eines der erfolgreichsten Rollenspiele aller Zeiten und fährt selbst in den Überresten der V20 noch immer Auflagen, welche jedes GNS-inspirierte Spiel (mit Ausnahme von D&D4) übersteigen. Man muss das nicht mögen oder unterstützen. Nur: zur Kenntnis nehmen sollte man das schon. Denn offensichtlich sind also Mischungen aus Spielstilen gar nicht so dysfunktional, wie von der GNS gemeinhin angenommen wird. Und auch das System spielt da ebenso offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle.
Nun bin ich natürlich nicht der einzige, dem das aufgefallen ist. Ein guter Blog, der den schlechten Leumund der bisherigen Rollenspieltheorie zusammenfasst, stammt von Brian Gleichman*. Der Artikel hat schon einige Jahre auf dem Buckel, aber ich habe den Eindruck, dass die Inhalte in dieser Form im Tanelorn noch nicht vollends angekommen sind. Here we go:
Why RPG Theory has a Bad Rep - A 5-Part Series Die ganze Serie ist lesenswert, aber der für diesen Thread relevanteste Teil ist
Nummer 4. Dort findet sich insbesondere auch ein weiterer Hinweis, weshalb das System erheblich irrelevanter ist, als die RPG-Theorie das Anfang/Mitte der 2000er-Jahre so annahm: die große Marktstudie von WotC samt der daraus empirisch abgeleiteten Typologie von Spielern. Das war dann der endgültige Sargnagel für die Hypothesen von GNS und co.
Insofern: Das System eines Rollenspiels beeinflusst das Erlebnis der Beteiligten erheblich weniger als gemeinhin angenommen und postuliert wird. Wenn wir in Zukunft über Rollenspiele nachdenken, sollten wir Inhalte, die auf GNS sowie mit dem damit eng verwobenen Theoriegebäude der Forge zusammenhängen, nur ausgesprochen behutsam berücksichtigen.
Und nun viel Spaß beim Diskutieren**.
*: Brian ist eine der luzidesten Stimmen in der Rollenspieltheorie. Seit rund 5 Jahren hat er sich frustriert von Diskussionen in Onlineforen in einen Blog zurückgezogen. Aber er trägt bis heute Inhalte bei. Jeff Rients sagt über ihn: "Brian Gleichman is one of those people that when he disagrees with me I shut up and seriously reconsider my position, 'cause he's usually right on the money."
**: Bitte nehmts mir nicht übel, wenn ich meine Mitwirkung an der Diskussion ein wenig einschränke. Das geschieht zur allseitigen Wahrung des Seelenheils und ist nicht böse gemeint.