Bei postapokalyptischen Settings weiß man nicht nur, wo die Reise hingehen wird, sie ist schon vorbei.
Der Höhenflug hat geendet, vieles ist auf Anfang gesetzt und in Sachen Technologie gibt es nur noch Reste des einstigen Glanzes.
Ja. Im CP ist die Zivilisation noch nicht in den Arsch gegangen, sondern erst auf dem Weg dorthin. In der Postapokalypse ist das Spiel dann wirklich aus und beginnt von vorn.
Transhumanismus ist wesentlich positiver eingestellt; es wird mehr Technologie einfach mal postuliert und deren teils recht abgefahrenen Auswirkungen bis ins Kleinste ausgewalzt.
Genau. Im Transhumanismus ist die Grundhaltung positiv, die Technik dient als
nächster Schritt der Evolution des Menschen. Das ist zwar meiner Meinung nach völliger Bockes und steht in der unguten Tradition der Eugenik, aber es ist eben der Unterschied zum CP: Im Cyberpunk macht die Technik den Menschen langsam
kaputt, statt ihn auf eine höhere Stufe zu heben.
Cyberpunk ist als Abgrenzung von diesen beiden für mich am Ehesten ein Aufbruch in eine ungewisse Zukunft; der Beginn einer Reise, von der keiner weiß, ob man sie eigentlich antreten will oder sollte.
Cyberpunk ist nicht zurück können, aber auch nicht vollends vorwärts wollen, mit den zugehöigen Verwerfungen als zentrales Element.
Cyberpunk ist auf der Straße stehen, hilflos und angewidert in die Welt schauen und sagen "Scheiß doch drauf".
Ich denke, das bringt es auf den Punkt.
Nein, tun wir nicht.
Die technischen Möglichkeiten sind im Gegensatz zu früher eher vorhanden und einige Aspekte und Strömungen lassen sich wiedererkennen, stecken aber größtenteils immer noch in den Anfängen bzw. sind nicht so eingetreten wie im klassischen Cyberpunk.
Das kann man nicht laut genug sagen! Diejenigen, die alle Nase lang davon faseln, dass wir in einem Überwachungsstaat leben würden,
haben keine Ahnung davon, was es wirklich bedeutet, in einem tatsächlichen Überwachungsstaat zu leben! (Ich weiß es auch nicht, habe zum Glück nie in einem gelebt, aber ich bin mir im klaren darüber, dass ich es nicht weiß.) Wir haben zwar viele technische Mittel, Leute auszuspionieren und Profile von Internetnutzern zu erstellen, und das IST alles bedenklich, aber es gibt etwa in den heutigen EU-Staaten eben
keine Geheimpolizei, die sich dieser Mittel bedienen könnte!
Es gibt ein paar Ecken auf der Welt, die politisch und sozial schon ziemlich nah dran sind, dort fehlt es aber an der Technologie - und umgekehrt.
So ist es.
Ja, die Aussage, dass Cyberpunk überall eingesickert und zur Normalität geworden ist, hat ein Stück weit ihre Berechtigung; allerdings am Ehesten immer noch bezogen auf Kunst und Literatur und nicht so sehr auf die Realität.
Zweifellos kann jemand, der heute Science Fiction schreibt, nicht am Cyberpunk vorbei, weil dieser Fragen aufgeworfen hat, die auch heute noch aktuell sind, und beim Entwerfen einer glaubwürdigen Zukunft nicht ignoriert werden können. Siehe weiter unten.
Cyberpunk ist noch nicht mal so sehr überholt in dem Sinne, dass die Wirklichkeit schon längst viel krasser ist als die Settings der einschlägigen Bücher, Spiele, Regelwerke.
Wenn ich heute die Neuromancer-Trilogie lese, kann ich über all die Details schmunzeln, die Gibson falsch vorausgesagt hat (Leute rauchen in Restaurants und gehen zum Telefonieren unterwegs in eine Telefonzelle), und sein Mißbrauch falsch verstandener Computerterminologie ist ja schon legendär, aber im Großen und Ganzen kann ich mir immer noch vorstellen, dass die Geschichten so ähnlich sich tatsächlich in der 2. Hälfte unseres Jahrhunderts ereignen könnten -
auch heute noch. Im Gegensatz zu den Space Operas der 40er Jahre, oder den heute ziemlich überholt wirkenden Atomkriegsgeschichten. (Modedetails der 80er Jahre, wie die berühmt-berüchtigten Spiegelsonnenbrillen, können ja wiederkommen ...)
Aber die Wirklichkeit ist
keineswegs schon "krasser" als in den CP-Geschichten. Vieles, was da geschildert wird, gibt es heute eben doch noch nicht.
Das zentrale Lebensgefühl von Cyberpunk ist vielmehr genau so verpufft wie der drohende atomare Weltkrieg und die jüngeren können mit beidem nichts mehr anfangen.
Aber vielleicht überspringt es nur eine Generation
Zweifellos ist das Lebensgefühl heute ein anderes als damals. Insofern ist Cyberpunk heute schon eher retro.
Das ist für mich eine sehr schwer greifbare Sache.
Glücklicherweise sehe ich gar keine so große Diskrepanz zwischen den Schwerpunkten diverser Systeme und dem, was Cyberpunk ausmacht - vieles von der Kritik kann ich also nicht wirklich nachvollziehen und fühle mich bei den Mainstream-Cyberpunk-Systemen recht wohl.
Dieses diffuse Gefühl von "ja, genau das ist es" habe ich am Ehesten bei älteren SR-Sachen (SR2) und bei neueren Systemen vor Allem bei Interface Zero.
Das ist aber hauptsächlich von der Präsentation und dem Gesamteindruck abhängig und weniger von einzelnen, klar erkennbaren Einzelheiten von System oder Setting.
CP2020 brachte das Gefühl schon ziemlich authentisch rüber. GURPS Cyberpunk auch. Bei Shadowrun macht der EDO-Fantasy-Anteil viel kaputt und das Ganze kippt ins Absurde ab. Andere CP-Rollenspiele kann ich nicht beurteilen.