Winter Tales
Letztes Wochenende hatte ich zum ersten Mal das Vergnügen, Winter Tales zu spielen:
Wer noch nichts davon gehört hat: Winter Tales ist ein Erzähl-Brettspiel, in dem man in einer düsteren Märchenwelt auf einem wunderschön gestalteten Spielbrett umherzieht und mit Hilfe von "Storycards" mit inspirierenden Zeichnungen erzählt, wie die Rebellen des Fühlings versuchen, das Land aus dem grausamen Griff des Winters zu befreien und seine Soldaten zu besiegen.
Der Regelteil ist einerseits recht einfach gehalten, bietet aber eben genau die Regeln, die man zum Erzählen einer gemeinsamen Geschichte braucht.
Die Geschichte beginnt mit einem Auftakt, der vom Schiedsrichter (ein Spieler, der sich um die Regeln kümmert) oder den Autor (bei ungerader Spieleranzahl) erzählt wird und die Ausgangssituation setzt.
Die Spieler sind in die beiden Fraktionen unterteilt und arbeiten gemeinsam daran, ihre Fraktion zum Sieg zu verhelfen. Dazu geht es reihum, jeder Spieler hat die Möglichkeit, seine Figur auf dem Brett zu aktivieren, zu bewegen, Quests anzufangen oder zu beenden. Außerdem gibt es ein einfaches Konfliktsystem, mit dem man Bewegungen von Gegenspielern unterbrechen kann und Spielfiguren außer Gefecht zu setzen.
Die Grundwährung des Spiels sind die Erzählkarten, von denen man bis zu 7 Stück auf der Hand hat und die für fast alles verwendet werden. Eine Erzählkarte hat jeweils eine Zeichnung, die doppelt (Winderseite / Sommerseite) aufgedruckt ist und eine abstrakte, vielfältig deutbare Strichzeichnung darstellt. Ein ausgespielte Karte muss gedeutet werden - wie ist aber dem Spieler überlassen, es können Gegenstände, Situationen, Leute, Wesen oder sogar Stimmungen damit erzählt werden, Hauptsache sie spielt eine Rolle bei der Erzählung.
Das Spiel läuft in mehreren Phasen, wobei jede Fraktion versucht, durch Erfüllen von Quests eine Erinnerung zu erlangen, die im Epilog zum Bestimmen des Siegers als Punkte einfließen.
Im Epilog werden nochmal die übriggebliebenen Karten ausgespielt und Sommer- und Winterkarten gegeneinander verrechnet. Steht der Sieger fest, wird das auch nochmal erzählt.
Der einzig "strategische" Faktor ist die Anzahl der Karten, denn die bestimmten oft, wer Sieger ist - sei es um die Erfüllung von Quests, Konflikten oder im Epilog. Die Karten sollte man versteckt halten, aber wer gewinnen will, kann problemlos mitzählen.
Der Punkt ist:
Winter Tales ist kein Spiel um Sieg oder Niederlage! Der Fokus liegt ganz klar eher beim rollenspielerischen "eine gemeinsame Geschichte erzählen" und sowohl Regeln als auch Präsentation sind dazu hervorragend geeignet, nicht mehr - aber auch nicht weniger.
Wir haben es zu 4 gespielt, ausgelegt ist es von 3-7 Spielern wobei bei ungerader Anzahl ein "Autor" mitspielt, der bei Gleichstand am Ende gewinnt - die Rolle ist aber eher undankbar, weil man vermutlich viel weniger "Screentime" hat als der Rest. Bei 3 Spieler mag das funktionieren, aber in unserem Fall wäre einem Autor wohl eher langweilig geworden.
Wir haben auch nur mit der "einfachen" Variante gespielt, es gibt aber Zusatzregeln, die das Spiel evt. ein bißchen "komplexer" machen. Unserer Wahrnehmung ist das aber nicht zwingend notwendig. Die Spielzeit lag mit 4 Spielern bei ca. 3,4-4h (hab nicht genau auf die Uhr geguckt) und es saßen mehrheitlich erfahrene Rollenspieler am Tisch, die ihr Erzählrecht auch ausgiebig genutzt haben
Auf eine Karte kamen bestimmt 30-120sek Erzählzeit und wir haben min 60 (eher 70-80) Karten ausgespielt. Mit 6 Spielern erhöht sich die Spielzeit entsprechend und man hat mehr "Leerzeit", gefühlt war 4 Mann schon Idealbesetzung.
Das Spiel und die darauf gefolgte Erzählung war insgesamt nach einhelliger Meinung sehr schön. Das Setting verträgt düstere, abgefuckte Märchenfiguren auf Drogen, erwürgte Katzen, derben bis lieblichen Humor und klassisch-verträumte Märchenszenen gleichermaßen, auch wenn die düstere Variante in den Beispieltexten vorrangig bedient wird.
Das Spielbrett und die Charakterkarten sind alle wirklich sehr exzellent illustriert und gehört für mich mit zum Schönstes, was ich bei Brettspielen bisher gesehen habe. Lustigerweise haben uns allen aber die von Kindern in einfachen Strichen gezeichneten Erzählkarten noch besser gefallen! Die Bilder laden zu den unterschiedlichsten, witzigen, absurden, erschreckenden und überraschenden Interpretationen ein... und wie ein Mitspieler treffend bemerkte: Die Dinger _wollen_ schon fast beim Rollenspiel benutzt werden!
Überhaupt Rollenspiel: Man hat zwar Spielfiguren, die auch durch Hintergründe beschrieben sind (bspw. eine Alice in Zwangsjacke mit Problemen psychotischer Natur, die deshalb im Sanatorium ihr Dasein fristet) aber bei uns hat sich kaum typische Rollenspiel-Situationen ergeben, in denen das Spiel aus Charaktersicht gesteuert wurde. Vielmehr hat jeder schon eher die Autorenperspektive eingenommen, ohne dass das angesprochen oder thematisiert wurde, was ich besonders deshalb interesant fand, weil wir ja alle Rollenspieler sind!
FAZIT: Abseits der typischen "Erzählrollenspiele" wie FATE, Fiasko, Engel und Konsorten hat man hier ein eindeutiges Brettspiel, das ein wenig abseits des ausgetretenen Weges wildert und eine Regelbasis für kooperatives Erzählen schafft.
Das Thema, dass sich durch Texte, Karten und Spielbrett zieht gibt Inspirationen und einen doppelten Boden für nicht so kreative oder story-erfahrene Spieler.
Wenn man sich darauf einlässt, hat man hier ein echtes Kleinod im weiten Feld der Brettspiele. Und wer die Regeln nicht mag, kann es eigentlich auch als Deko aufstellen, um seine Brettspielvitrine aufzuhübschen!