"Verdammt! Ich wusste doch, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt! Wenn das auf dem Foto Joseph Henry ist, dann hat Braddocks toter Kollege offenbar den Brand gelegt. Jedenfalls ist er nicht darin umgekommen. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie dieser Kerl mit hochgeschlagenen Kragen in den Fahrstuhl gestiegen und nach unten gefahren ist ... bevor der Brand ausbrach. ... Und anschließend stand er auf der anderen Straßenseite in einem Hauseingang.
Aber es überrascht nicht wirklich, dass jemand von der Brandschutzbehörde das Feuer gelegt hat. Immer wieder hört man von Feuerwehrleuten, die Brände legen. Jemand von der Brandschutzbehörde weiß im Zweifel sehr genau, wie er einen Brand möglichst erfolgreich stiftet.
Aber, falls dieser Mann von der Brandschutzbehörde ist, wird er mir die Wahrheit vermutlich nicht glauben. Vermutlich stellt er auf eigene Faust Ermittlungen an ... über den Tod eines Kollegen, eines Freundes ... eines Verwandten, den er in die Behörde gebracht hat.
Und warum sollte ich kooperieren? Es bringt mir doch nur Ärger ein."Ich stehe auf. "Einen Earl Grey? Gerne!"
Leicht auf meinen Gehstock gestützt, begebe ich mich zum Schrank und setze schon einmal das Porzellan auf ein silbernes Tablett, um Zeit zu gewinnen. Drei Tassen.
"Der Mann scheint längst zu wissen, dass ich im Januar 1930 in London war. Also sollte ich wohl bei der Wahrheit bleiben ... und doch nichts sagen."Ich beschließe, zur Gegenoffensive überzugehen.
Mit matter Stimme beginne ich zu erzählen: "Nun, in der Tat war ich im Januar 1930 für ein paar Tage in London. Ich habe damals jemanden besucht. Es kam zu einem unschönen Zwischenfall." Ich mache eine kurze Pause. "Es gab einen tätlichen Angriff von einem Polizisten auf eine Frau im Princess Grace Krankenhaus. Der Angreifer war ein Inspector Roy Dalgliesh vom Yard. Ich werde sein
Gesicht nie vergessen. Er war nicht mehr er selbst ... nicht mehr bei Verstand, muss man wohl sagen. Soll Kanibalismus betrieben und Tiere gequält haben. ... Aber ich glaube nicht, dass die Londoner Polizei jemals etwas gegen ihn unternommen hat. Ich vermute, er läuft immer noch frei herum. ..."
Nach einer weiteren kurzen Pause fahre ich fort: "Ich habe jedenfalls damals die Polizei um Hilfe gerufen. Auf meiner Reise nach London begleitete mich ein junger Mann hier aus dem Dorf, dem ich eine Anstellung gegeben hatte. Den hat die Polizei dann vor den Augen der Menge niedergeknüppelt und fortgeschleift, anstatt gegen ihren Kollegen zu ermitteln. ... Warum? Weil er Ire war! Aus keinem anderen Grund! Und ich konnte ihm nicht helfen. ... Ich habe noch versucht, das amerikanische Konsulat hinzuziehen, habe aber niemanden mehr rechtzeitig erreicht. ... Jedenfalls hat mein Begleiter angeblich nie lebend das Polizeipräsidium erreicht. ..."
Ich seufze matt. "... Das war am 8. Januar 1930. Ich werde dieses Datum nie vergessen, an dem ich mit ansehen musste, wie die Polizisten Ihrer Majestät vor den Augen der Bewohner Londons einen Menschen halb totgeschlagen und fortgeschleift haben ... und niemand hat auch nur einen Finger gerührt. ... Gleich am nächsten Tag habe ich London verlassen und mir geschworen, nie wieder einen Fuß in diese verfluchte Stadt zu setzen. ...
Und ich muss seiner Mutter seither tagtäglich in dem Bewusstsein gegenübertreten, dass ihr Sohn vor meinen Augen von der Londoner Polizei ohne Grund verschleppt und getötet wurde. Am 8. Januar 1930.
Man hat uns nicht einmal seine Leiche überlassen. Seine Mutter hat hier nur ein leeres Grab, um daran um ihren Sohn zu trauern." Ich lächle Mr. Braddock ins Gesicht. "Natürlich hat man uns den Jungen nicht zurückgegben. Sonst hätten wir allzu leicht beweisen können, wie er zu Tode gekommen ist! ... Ist vermutlich besser so. Wenn man hier auch noch gesehen hätte, wie er zugerichtet wurde ...
Wissen Sie, das war ein feiner Kerl, dieser Junge. War hier sehr beliebt ... hatte viele Freunde. Treue Burschen vom Land, die anzupacken wissen, harte Arbeit gewohnt sind ... Die denken sehr geradeheraus, wenn sie verstehen, was ich meine. Sind aufrecht. Haben eine recht einfache Vorstellung von Gut und Böse. Katholiken durch und durch. Die haben zwar ein offenes Herz für jeden, der mit ihnen singt, aber in solchen Fällen halten sie es eher mit dem Zweiten Buch Mose, Sie wissen schon: 'Wenn aber Schaden geschieht, so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.' ... Die waren schon vorher auf Briten nicht gut zu sprechen. Wegen der Hungersnot vor 80 Jahren und dem Verhalten des Empire damals ... das hat man hier nicht vergessen ... für soetwas braucht es mehr als zwei Generationen. Und an die Black and Tans, die uns London geschickt hat ... raubend, vergewaltigend und mordend ... kann man sich auch noch gut erinnern. ...
Da war es schwer für mich, die Gemüter zu beruhigen, als ich die Nachricht von der Ermordung ihres Freundes in London überbringen musste. Zu leicht folgt auf Gewalt neue Gewalt. Wenn die Beamten aus London einen der ihren totschlagen, nur weil er ein Ire ist, und den Tätern anschließend nichts passiert, dann kommt vielleicht bei dem einen oder anderen der Wunsch auf, einem Beamten aus London das gleiche anzutun, nur weil er ein Beamter aus London ist. Wo der Staat nicht für Recht sorgt, nehmen das die Menschen mitunter selbst wieder in die Hand. Verstehen Sie? Vielleicht ist es keine gute Idee hier im Pub ein Zimmer zu nehmen, wo SEIN Stuhl nun leer ist ... Könnte jemand in den falschen Hals bekommen, je nachdem, wer sich auf den Stuhl setzt. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber Sie sollten das besser wissen.
Der Junge hat hier eine Mutter zurückgelassen, deren Ehemann im Großen Krieg für England schwer verwundert wurde und dann später an den Folgen gestorben ist. Giftgas. War im nachhinein nicht mehr so eindeutig zu klären, ob das tatsächlich deutsches Gas war, das die irische Einheit damals erwischt hat. Jetzt hat sie nur noch Töchter ... England hat ihr jeden Mann genommen, der für ihren Lebensunterhalt hätte sorgen sollen.
Das Wissen um diese Ungerechtigkeit nagt an den Menschen. Das ruhige, beschauliche Landleben hier ist nicht so schnelllebig wie das Leben in London. Man erinnert sich hier länger ... vor allem an die elementaren Dinge, die hier mehr zu zählen scheinen als in London."
Erneut mache ich eine längere Pause, als müsste ich mich auf den eigentlichen Gegenstand unseres Gespräches zurückbesinnen.
"Um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin mir eigentlich sicher, nie mit dem Mann auf dem Foto gesprochen zu haben. Es tut mir leid, was immer ihm widerfahren ist. Damals im Januar 1930 waren die Londoner Zeitungen voll von Todesfällen und merkwürdigen Ereignissen in London. Keine Ahnung, ob das bei Ihnen da drüben normal ist. Am Tag bevor ich in London ankam, gab es eine große Schießerei bei einem Banküberfall, wenn ich mich recht entsinne. Die Zeitungen auf dem Bahnhof waren voll davon.
Warum glauben Sie, dass ich Ihnen weiterhelfen könnte?
Sie werden den weiten Weg nach Irland ja nicht nur der schönen Landschaft wegen gemacht haben, nicht wahr?"
Nachdem ich schon eine Weile wieder vor dem Tisch gestanden habe, setze ich jetzt das kleine Silbertablett mit den Geschirr ab und nehme wieder Platz. Ich beabsichtige nicht, diesen Mann unbeaufsichtigt zu lassen. Luni scheint meine Stimmung zu spüren. Denn lautlos erscheint er neben meinem Stuhl und blickt den Besucher abschätzend an. Mein Blick wechselt kurz zur Zimmertür.
"Ich frage mich, wo Matilde wohl sein mag. Ich hätte sie gerne bei mir. Andererseits ist es vielleicht besser, wenn dieser Mann sie nicht zu Gesicht bekommt ... Aber er wird seine Erkundigungen wahrscheinlich bereits in dem Dorf eingeholt haben. Und dann wird vermutlich irgendjemand über Matilde geredet haben ... so oder so."