CliveIch betrachte mit einem Schauder die Vorrichtung an der Wand.
"Sie steht in meinem Zimmer. Es muss demnach mein Blut sein. Die Schmerzen, an die ich mich erinnere, hatten die eine ganz andere Ursache? ... mein Arm ... Meabhs Scheune ... Hat es all das in Wirklichkeit nicht gegeben?" Rasch wende ich den Blick von dem Gerät ab, das - je nach Bedarf und Verwendung - gleichermaßen als Werkzeug der Heilung wie der Folter dienen kann. Aus meiner Tätigkeit weiß ich, wie unscharf der Grenzverlauf sich im Einzelfall darstellen kann ...
Einen Augenblick gebe ich mich dem Gefühl von Wärme und Nähe hin, das in Mathildes Händedruck liegt. Begierig sauge ich Matildes Duft ein.
"Wenn all dies hier sich in wenigen Augenblicken in Rauch verwandeln sollte, wird mir diese Erinnerung zumindest für einen kleine Weile bleiben!""Irgendjemand?!?", versuche ich Matildes letzte Worte zu deuten.
"... Nur eine Floskel, die darauf schließen lässt, dass Matilde mich für unmündig hält? Oder mehr als das, ein Fingerzeig? Eine sorgsam verborgene Botschaft?""Ich scheine schon viel zu lange geschlafen zu haben ...", sage ich matt und werde mir der Doppeldeutigkeit meiner Worte bewusst. Alte Schuldgefühle erwachen. Aber ich spüre auch die Müdigkeit, die mich in ihren Fängen hält. "... aber eigentlich glaube ich, ich bin noch garnicht erwacht. Wie kann dies alles sein, Matilde? Mein Zimmer unverändert ... und Du hier ... und all die anderen ... Wie sollte das möglich sein?"
"Nicht nur, dass ich nicht verstehe, was gerade vor meinen Augen abläuft. Nicht nur, dass ich an meinem Verstand zu zweifeln beginne. Viel schlimmer ist, dass ich nicht einmal weiß, ob ich mich darüber freuen oder daran verzweifeln sollte, wenn es die Jahre seit 1927 nur in meiner Phantasie gegeben hätte! Was würde das bedeuten? Hat es Paul und Matilde, Hartmut und Alexander, Ove und Kristine, Mrs. Marquard, Emma, Braddock, Ayana, ja selbst Marie nie gegeben? ... Sind sie alle nur Ausgeburten meiner Phantasie?"Noch immer halte ich Matildes Hand fest umschlossen, bin nicht gewillt, diesen vermeintliche Fixpunkt preiszugeben.
"Ich habe so viele Fragen ... um mich wieder zurechtzufinden. ... Was ist mit Cainnech? Haben wir ihn in London verloren? Oder war das nur ein Traum von mir?", frage ich Matilde.
"Und wie geht es Marie? Und Luni? ... Du musst mir alles erzählen ... , damit ich sortieren kann, was Wahrheit ist und was Traum ..."
Ich blicke zu Ove, um mich zu vergewissern, ob er wirklich ist. Hat sich irgendetwas an ihm verändert? Als mein Starren unhöflich wird, wende ich mich wieder Matilde zu.
Das Rauschen des Meeres durchbricht meine Gedanken. Ich blicke zum Fenster. Es steht offen.
"Ist es das ferne Rauschen des Ärmelkanals, das ich höre, oder erobert das Meer in meinem Kopf das Territorium zurück, aus dem es vertrieben wurde? Nur ... war es TATSÄCHLICH jemals fort?" Ich horche in mich hinein, aber keine Stimme beseitigt meine Zweifel.
"Was haben die mir nur gegeben?", seufze ich.
Wie aufs Stichwort erscheint Ayana mit einem Tablett. Für einen kurzen Augenblick treffen sich die Blicke von Matilde und Ayana und ich erwarte schon, dass sich die beiden in fauchende Katzen verwandeln. Selbst Matildes Parfum und der Duft von Sandelholz und frischem Gras scheinen sich ein erbittertes Kräftemessen um die Vorherrschaft zu bieten. Aber die bedrohliche Atmosphäre verschwindet so schnell wieder, wie sie aufgeflammt ist, als die Blicke der beiden Frauen sich voneinander lösen. Ayana drängt sich lediglich an Matilde vorbei, setzt sich geschmeidig zu meiner Seite auf das Bett ... dichter, als es der Anstand gebieten würde, ... und führt ein kleines Glas an meinen Mund. Das Rascheln ihrer Kleidung, der melodische Klang ihrer Stimme, die Unbefangenheit, mit der Sie sich über mich beugt, nehmen meine Sinne gefangen und drängen alle Ängste und Zweifel für einen Moment in den Hintergrund.
Das Gefäß in Ayanas schlanker Hand ist dickwandig und wirkt alt. Es ist mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt, über der sich die Andeutung eines feinen Rauchfadens kräuselt. Ein beißender Geruch wie von Säure steigt mir in die Nase, wie damals auf der Klippe ...
"Du musst das trinken", schnurrt sie, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Ihr Körper schmiegt sich an meinen und ich spüre ihre Wärme wie in jener
Nacht, die für mich erst wenige Stunden zurückliegt und doch so fern scheint. Die Erinnerung legt sich über das Jetzt wie ein Schatten. Fast meine ich den
Kopfschmuck zu erkennen, einem nur für mich sichtbaren Schimmer gleich. Und wieder schicke ich Ayana nicht fort. Ich weise sie nicht zurecht. Ich bin nicht bereit, Rangverhältnisse zu klären oder Entscheidungen zu treffen. Tochter und ... Schülerin, mich verlangt es nach beidem! Und doch ist mir der Gedanke unangenehm, Matilde könnte trotz aller Bemühungen meinerseits erkennen, welche Wirkung Ayana auf mich hat.
"'Ich bin nicht hier, Doktor, um Deine fleischlichen Gelüste zu befriedigen. Wenn Du das glaubst, bist Du ein Narr. Würde ich mich zu Dir legen, dann nur weil es MIR gefällt', hat sie damals zu mir gesagt, aber ihr Mund und ihr Körper sprechen zwei unterschiedliche Sprachen." Meine erbärmliche Hilflosigkeit, was Ayana betrifft, ärgert mich und doch genieße ich jede Sekunde ihrer Nähe.
"Ich habe Dir gesagt, dass ich hier bin, um Dich vor Gefahren zu schützen, Auserwählter!" So, wie Ayana das Wort 'Auserwählter' in meine Richtung haucht, ist es die provokante Demonstration von Ungehorsam, eine Herausforderung ... zugleich für mich und für Matilde.
"Du sollst mich nicht so nennen, Nimue", kontere ich schwach und trinke widerwillig.
"Willst Du noch immer nichts ändern, Doctor?", fragt Ayana leichthin. Als sie sich erhebt, drücken ihre Augen, ihr Lächeln, sogar jede ihrer Bewegungen Triumph aus. Großmütig gibt Ayana wieder den Blick auf Matilde frei, aus der alle Wärme gewichen zu sein scheint.
"Ich kann jetzt nicht schlafen", knüpfe ich an Matildes Worte an. "Ich habe Angst. Ich fürchte, mir bleibt nicht viel Zeit, bevor ..." Ein verstohlener Blick zur Decke lässt mich schlucken und ich suche schnell wieder das reine Blau von Matildes Augen
"... kein unschuldiges Weiß ... sehr blass, aber doch eine Farbe, ja, aber nichts beginnt sich vor meinen Augen zu drehen ... ihr Blau ist beständig und uralt ... kalt und klar und fern ... zwei unendliche Kreise ohne Anfang und Ende mit absoluter Finsternis in ihrem Zentrum ... viel zu perfekt und alt für einen Menschen ...""... Du musst mir helfen, Matilde, bitte! Damit ich den Weg zurück finde."