Was ist ein Sandkasten?
Mit "Sandkasten" bezeichnet man im Rollenspiel-Umfeld eine Spielweise, in der es keine vorher festgelegte "Geschichte" gibt, die die SL "erzählt". Statt dessen entsteht die Handlung mehr oder weniger organisch aus einer vorgegebenen Ausgangssituation. Die Spielfiguren - SCs wie NSCs - handeln, und aus dem Zusammenspiel der Handlungen und deren Konsequenzen verändert sich die Situation, was neue Handlungsanreize liefert.
Bestimmte Dinge passieren primär, weil sie die logische Folge aus Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind, und nicht, weil sie cool und dramatisch sind, und auch nicht, weil sie eine angemessene Herausforderung für die Spieler/Charaktere darstellen.
Die Handlungsfreiheit der Charaktere findet nur dort Grenzen, wo sie sich logisch aus der fiktiven Situation der Spielwelt ergeben.
Wie leitet man einen guten Sandkasten?
Es gibt nicht die eine einzige Art, einen guten Sandkasten zu leiten. Hier sind ein paar Punkte, die ich persönlich nützlich finde.
1: Thema
Der Sandkasten braucht einen Aufhänger, ein Thema. Von wem dieses Thema vorgegeben wird, ist egal, aber einfach ins Blaue hinein eine Welt erschaffen und SCs reinsetzen, "Ihr könnt machen, was ihr wollt!" geht selten gut. Traditionell ist es die SL, die das Thema vorgibt, es kann aber auch von den Spielern kommen oder gemeinsam festgelegt werden.
Dieses Thema sollte zumindest eine grobe Motivationsrichtung beinhalten.
2: Labile Ausgangs-Situation
Nichts ist langweiliger als ein stabiler Status Quo. Im Idealfall ist die Situation im Sandkasten gerade am Kippeln; es gibt Krisen, Konflikte, Umbrüche, große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus und bieten Ansatzpunkte. Und die Spieler/Charaktere müssen davon wissen!
3: NSCs mit Agenda, die handeln
Das ist in meinen Augen der Knackpunkt. Die Lage ist labil, und es gibt Akteure abseits der SCs, die agieren. Persönlich notiere ich zu jedem wichtigen NSC drei Punkte:
Motivation: Was will der NSC und warum?
Modus Operandi: Wie geht der NSC normalerweise vor?
Resourcen: Auf welche Mittel kann der NSC zurückgreifen?
Manche NSCs haben auch einen Plan, der schon vor Spielbeginn zu laufen begonnen hat.
Sich Beziehungsnetze zu malen hilft auch.
4: Was passiert, wenn nichts passiert
Mit diesen Informationen ist es dann auch leicht, festzulegen, wie sich die Welt abseits der Aktionen der Spieler/Charaktere verändert: Die NSCs verfolgen ihre Ziele, "Dinge passieren".
Manche SL stecken noch mehr Energie in die Modellierung dieser Ereignisse: Handlungsmaschinen; Zufallstabellen; Strategiespiele, die im Hintergrund laufen und über die die Weltlage oder Kriegsverläufe simuliert werden; … kann man alles machen.
5: SCs, die grob da reinpassen
Unter den oben angeführten Randbedingungen braucht man jetzt nur noch SCs, die grob da reinpassen.
6: Generierung neuer Inhalte
Man muss beim Sandkasten genauso wenig "alles" vorbereiten wie bei jeder anderen Spielart. Nützlich ist ein stabiles, durchdachtes Grundgerüst und ein Gefühl für die Welt. Generiert man dann neue Inhalte, sei es bei Improvisieren am Spieltisch oder in der Vorbereitung, steht wieder die Frage im Zentrum, wie das alles logisch zusammen passt. Was passt hier logisch hin? Und wenn ich dieses Element hier einführe, welche Konsequenzen hätte das für das Setting?
Namenslisten sind nützlich.
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Edit:
Danke an alle Teilnehmer für die konstruktive Diskussion. Davon inspiriert folgen hier ein paar Ergänzungen.
Moderation
Die Spielleitung darf auch im Sandkasten von sich aus aktiv werden. Wenn von den Spielern gerade nichts kommt bietet die Spielleitung Handlungsoptionen an, die sich in ihren Augen aufdrängen; entweder, weil sie zu vergangenen Handlungen der Spieler passen ("Ihr habt letztes Mal darüber diskutiert, ob ihr hier in der Stadt nach der Diebesgilde suchen wollt. Macht ihr das jetzt?"), weil konkreter Handlungsbedarf besteht ("Da ist eine auf Krawall gebürstete Ork-Gruppe, die direkt auf euch zu kommt! Wollt ihr vielleicht eure Waffen ziehen und euch auf einen Kampf vorbereiten? Fliehen? Irgend etwas?") oder schlicht, weil es ein Handlungsverlauf wäre, der der SL gefallen würde!
Es ist ein Gebot der Fairness, dass die SL auf (dem Charakter evtl. bekannte) Konsequenzen von Handlungen hinweist:
"Wenn du X machst, dann führt das wahrscheinlich zu Y."
"Wenn du X machst, dann kannst du nicht Y machen."
"X zu versuchen ist riskant, wenn es schief geht, kann es sein, dass Y passiert."
usw.
Wenn die Spieler/Charaktere nichts machen, dann kann man auch hart schneiden, bis die Handlungen der NSCs die SCs einholen.
"Ihr werdet von euch aus nicht aktiv und lebt einfach euer Leben? Ok, drei Wochen später erreicht euch die Nachricht, dass..."
"Wollt ihr vor dem großen Ball noch irgend etwas machen? Nein? Dann ist jetzt Samstag Abend..."
Innerhalb einer Szene kann es auch nützlich sein, zwischendurch mal zu fragen, was genau die Spieler bezwecken wollen bzw. zu fragen, ob man schneiden kann.
"Wollt ihr mit diesem Gespräch noch irgend etwas Bestimmtes erreichen? Nein? Dann betreibt ihr noch ein viertel Stündchen Smalltalk und verabschiedet euch dann."
"Willst du diese Szene noch weiter ausspielen oder können wir schneiden?"
Pausen nutzen
Wer am Ende des Spielabends Pläne für's nächste Mal abfragt, hat die ganze Zwischenzeit, um sich neue Inhalte zurechtzulegen.
Informationsfluss
Um sinnvoll Entscheidungen treffen zu können brauchen die Spieler Informationen. Es gibt zwei "klassische" Ansätze:
- Die Charaktere sind so ahnungslos wie die Spieler. Das gibt's im klassischen Erkundungsspiel/Hexcrawl, in dem die Charaktere eine für sie unbekannte Welt erforschen und so auf dem gleichen Kenntnisstand wie die Spieler sind.
- Informationen vorfüttern. Da hält die SL vor dem Spiel erst einmal einen Vortrag über die Hintergrundwelt und/oder verteilt Lesetexte, die alle relevanten Informationen enthalten.
Persönlich mag ich einen Zwischen-Ansatz: Die Charaktere sind nicht völlig ahnungslos; ich gebe den Spielern eine grobe Zusammenfassung des Welt-Hintergrundes und lasse sie Charaktere machen. Im Spiel gebe ich ungefragt Zusatz-Informationen heraus, wenn es relevant wird. "Dein Charakter weiß, dass Baron X ein streitsüchtiger Narr ist." - das sag ich dem Spieler, direkt bevor er das erste Mal mit dem Baron zu tun bekommt, da ist es nämlich relevant. Wenn das irgendwo in einer 20-seitigen Hintergrund-Beschreibung steht, dann ist das nämlich bis dahin längst vergessen.
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Spieler meint, er hätte eine vorherige Handlung nicht vollzogen, wenn er diese Information damals schon gehabt hätte. In den Fällen retconne ich das eben: "Das hätte dein Charakter nicht gemacht? Ok, dann hat er das nicht gemacht." Meistens sind das eh kleine Sachen, wo ein Retcon keine Probleme nach sich zieht. Und das Wissen, dass Aktionen, die auf lückenhafte Informationen des Spielers (!) zurückzuführen sind, einen nicht in die Scheiße reiten, senkt auch die Hemmschwelle, überhaupt zu handeln.
Fraktionen und Fronten
Ein NSC kommt selten alleine. Die meisten gehören zu einer Fraktion, die ein bestimmtes Ziel verfolgt.
Persönlich fange ich sogar oft mit den Fraktionen an, und arbeite erst hinterher die einzelnen NSCs aus, die zu den Fraktionen gehören.
Fraktionen haben Ziele, die sich im einfachsten Fall widersprechen – da ist Konflikt vorprogrammiert. Oft reicht es aber, wenn die Ziele nur so gewählt sind, dass sich die Fraktionen in die Quere kommt. Es schadet aber auch nicht, wenn eine Fraktion passiv ausgelegt ist – vielleicht passiert ja etwas im Verlauf des Spiels, dass sie zum Handeln zwingt.
Querfronten sind besonders nützlich: NSCs, die sich auf einer Konfliktachse gegenüberstehen, sich aber auf einer anderen Konfliktachse auf der gleichen Seite befinden. Das bietet gute Rollenspiel-Ansatzpunkte.