"Ah, Yhaddi, es hat mich schwer erwischt", seufzte Stian. "Es ist richtig ernst..."
Die beiden Vettern saßen in des Jüngeren Haus in Silvermoon lässig mit untergeschlagenen Beinen und mit einer Flasche Suntouched Reserve zwischen sich auf Yhaddars rotgoldenen Ruhekissen und philosophierten.
"Ich habe einfach das Gefühl, ich komme nicht zu ihr durch", erklärte Stian. "Da ist diese Mauer; eine Wand aus Kummer um ihre Schwester..."
Yhaddar nickte nachdenklich. Und dann - dann hatte der jüngere Blutelf eine verrückte, absolut wahnsinnige, aber geniale Idee.
Im Laufe der nächsten Tage hängten die beiden Cousins in allen Hauptstädten nahe der Bank große Plakate auf:
ACHTUNG
INFORMATIONEN GESUCHT
über eine
Blutelfische Hexerin namens HANIKO
Informationen dringend erbeten
Zuletzt gesehen wurde HANIKO in Eversong Woods
HANIKO ist dunkelhaarig, schlank und
war zuletzt gekleidet in Hexerroben
Informationen erbeten an
Stian Skyggvandre oder Yhaddar d'Vadheon
in Silvermoon
Viel Hoffnung machte sich Stian eigentlich nicht, aber die Idee war es definitiv wert, ausprobiert zu werden. Denn was hatten sie schon zu verlieren? Ein Gutteil Ruf und Ansehen offensichtlich, denn zunächst erreichten die beiden Sin'dorei vor allem einige Scherz-Reaktionen und -Anfragen von belustigten Abenteurern. Aber das war zu verschmerzen. Wer nicht über sich selbst lachen konnte, war es nicht wert, ernstgenommen zu werden. Doch einige Zeit später - Stian hatte schon gar nicht mehr daran geglaubt - meldete sich tatsächlich jemand ernsthaft auf ihre Suchplakate hin. Waraka hieß sie, war eine Orc-Kriegerin, und sie kannte Haniko! Dass Rinás Schwester sich nicht selbst meldete, war eine gewisse Enttäuschung, aber vielleicht hatte die Hexerin ja auch einfach die Plakate noch gar nicht gesehen. Wie dem auch sei, Waraka berichtete, dass Haniko am Leben sei und dass es ihr gut gehe. Stian ließ ihr über die Orc-Kriegerin ausrichten, dass ihre Schwester sie sehr vermisse und sich über ein Lebenszeichen freuen würde. Mehr konnte er in dem Moment nicht tun, aber es war immerhin schon einmal etwas.
Sofort nachdem der Blutelf und die Orkin sich getrennt hatten, sandte Stian eine Nachricht an Riná, er habe Neuigkeiten und müsse sie dringend treffen. Sie verabredeten sich in Silvermoon, und Riná konnte ihre Neugierde kaum bezähmen, was Stian ihr wohl mitzuteilen habe.
In Silvermoon fand der Schurke die Priesterin in einem Gespräch mit einer jungen Hexerin, die Riná ihm als Manami vorstellte. Stian bekam nicht alles mit, aber Riná hatte die andere offensichtlich nach ihrer Schwester befragt und wohl leider eine negative Antwort erhalten. Stian stellte sich mit einer Verbeugung der jungen Hexerin vor und wollte dann eigentlich höflich warten, bis die beiden Sin'dorjei ihr Gespräch beendet hatten, aber er war zu ungeduldig; als es so aussah, als wechselten die beiden nur noch letzte Artigkeiten, mischte er sich ein. "Verzeiht meine Unhöflichkeit, Manami, aber ich müsste Euch Riná entführen."
Im Gasthaus konnte die Priesterin kaum abwarten, bis Stian ihnen etwas zu trinken besorgt hatte.
"Ihr sagtet, Ihr hättet Neuigkeiten. Was gibt es?"
"Nichts Schlimmes, keine Sorge, ganz im Gegenteil. Aber wie fange ich an...?"
Auch wenn es ihm arg war, die Heilerin derart auf die Folter zu spannen, hielt Stian es für richtig, Riná das ganze Bild zu vermitteln. Und so begann er mit Yhaddars Vorschlag, erzählte von ihrer Plakataktion und kam dann auf das Ergebnis der Bemühungen zu sprechen. Als er geendet hatte, schwieg Riná überwältigt still, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
"Sie... sie lebt", stammelte die Priesterin schließlich. Tränen waren ihr in die Augen getreten. "Sie lebt!"
Stian nickte lächelnd. "Ich freue mich so für Euch!"
Riná hielt es nicht auf ihrem Platz. Sie stand auf und drehte dem Schurken den Rücken zu. Stian konnte sehen, wie ihr Oberkörper bebte. Er ließ sie einige Momente lang allein, dann erhob er sich ebenfalls, trat zu der Priesterin und legte ihr den Arm um die Schultern. "Ich freue mich wirklich!"
Irgendwann hatte Riná sich wieder soweit gefasst, dass sie sich hinsetzen konnte. Auf ihrem Gesicht lag ein frohes, gelöstes Lächeln, wie der Schurke das bei ihr noch nie gesehen hatte. "Wie kann ich Euch das nur jemals danken, Stian?"
Er lächelte ebenfalls. "Ihr braucht mir nicht zu danken. Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, und Eure Freude ist mir Dank genug. - Und außerdem war es ohnehin Yhaddis Idee, nicht meine."
"Dann dankt Yhaddar für mich, bitte."
"Das mache ich doch gerne. - Wobei... da fällt mir doch etwas ein, was Ihr tun könntet: geht mit mir nach Darkshore. Ich möchte Euch so gerne den Strand dort zeigen…"
Die Priesterin nickte schmunzelnd. "Nur zu gerne! Aber heute nicht mehr. Ich werde mich bald zur Ruhe begeben. Ich... ich muss über so vieles nachdenken..."
"Natürlich", erwiderte Stian, ganz der Gentleman, auch wenn es ihn schwer ankam, sich schon so bald wieder von Riná trennen zu müssen. Aber immerhin verabredeten die beiden Sin'dorei, den Ausflug nach Darkshore in Angriff zu nehmen, wenn sie sich das nächste Mal trafen.
Das nächste Treffen fand tatsächlich nur wenige Tage später statt, diesmal in Ogrimmar. Und Riná hielt ihr Versprechen: Gemeinsam flogen die beiden Blutelfen zum Zoram-Strand und ritten von dort nach Darkshore.
Es war ein herrlicher Tag: Zwar lag über dem Gebiet der Nachtelfen das übliche weiche Zwielicht, in dem die Sonne hinter einem leichten Dunst verschwand, aber es herrschte wunderbares Spätsommerwetter, und der Schurke hätte am liebsten gesungen oder in Boneshades Sattel Handstände gemacht, wie er da so neben Riná einherritt. Der Wald von Darkshore war wie verwunschen; vereinzelt zwitscherten Vögel von den Ästen herunter, und selbst die wilden Tiere des Waldes störten sich nicht an den beiden Sin'dorei. Als sie das Meer erreichten, blickte Stian gespannt in Rinás Richtung. Dieser Strand war einer seiner liebsten Orte überhaupt, und er wollte unbedingt, dass es der Priesterin hier auch gefiele.
Der junge Schurke hätte sich keine Sorgen machen müssen. Riná war von der Stimmung der Landschaft ebenso angetan wie er selbst. Es war zwar diesig, aber dennoch glitzerte die Sonne leicht auf dem Wasser, es wehte eine leichte, warme Brise, und weit und breit war kein gefährliches Tier zu sehen; lediglich einige harmlose Riesenkrabben wanderten am Strand auf und ab.
Stian zog die Stiefel aus, krempelte die Hosen hoch und watete todesmutig ins Wasser. Im ersten Moment war es eiskalt, aber daran hatte man sich bald gewöhnt. Riná war vorsichtiger: Sie kniete sich erst hin und hielt vorsichtig einen Finger in das salzige Nass, ehe sie ebenfalls die Schuhe auszog und sich ins Wasser traute. Übermütig spritzte Stian die Priesterin ein wenig nass, woraufhin sie kurz quietschte, sich dann aber mit Begeisterung an dem Spiel beteiligte.
Dann machten sie einen fröhlichen Wettlauf den Strand entlang und ließen sich schließlich atemlos in den Sand fallen, um das mitgebrachte Picknick zu vertilgen.
Langsam wurde es Abend. Die Sonne versank im Meer, ein runder, strahlend weißer Mond ging auf, und am wolkenlosen, ein wenig verschleierten Himmel erschienen Myriaden von Sternen. Der Wind flaute ab bis auf ein gelegentliches, leichtes Lüftchen, und die See erstreckte sich ruhig und glänzend vor ihnen bis zum Horizont.
Allmählich wich die ausgelassene Stimmung der beiden Blutelfen einem andächtigen, einträchtigen Schweigen, während sie da so nebeneinander saßen und auf die nächtliche See blickten. Eine wunderbare Ruhe breitete sich in Stian aus, und nach einer Weile wagte er es, den Arm um die Priesterin zu legen. Riná versteifte sich erst ein wenig, aber sie rückte nicht von ihm ab, und nach einer Weile entspannte die junge Sin'dorja sich und lehnte den Kopf an Stians Schulter. Der Schurke traute sich kaum zu bewegen, lehnte dann aber auch den Kopf gegen ihren und streichelte mit der Hand, die Rinás Schulter umfasst hielt, ganz sanft deren Oberarm. Wie schön... gar nichts tun, einfach nur so dasitzen... Rinás Nähe genießen... träumen...
Beinahe gleichzeitig zuckten die beiden Sin'dorei hoch. Da waren sie doch, ohne es zu merken, ganz allmählich weggedöst... Stian gähnte ausgiebig. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen - vor dem Treffen mit Riná hatte er mit einer Gruppe Abenteurer die Ausgrabungsstätte von Uldaman aufgesucht -, und auch seine Begleiterin sah aus, als könne sie kaum noch die Augen offenhalten. Stian fühlte sich viel zu müde und zu träge, um jetzt noch nach Orgrimmar aufzubrechen. Und überhaupt... warum nicht? Es war eine so wundervolle, laue Sommernacht...
Der Schurke sah Riná fragend an. "Was meint Ihr? Bleiben wir?"
Ein unternehmungslustiges Glitzern war in die Augen der Heilerin getreten. "Ja, warum nicht? Gerne sogar."
Gesagt, getan. Die beiden streckten sich im warmen Sand aus, und Stian deckte seinen Umhang über sie. Einer der beiden Ersatz-Umhäge, die er zu der Zeit gerade bei sich trug, diente als Unterlage, der andere zusammengefaltet als Kopfkissen.
Stian legte wieder den Arm um die Priesterin, sie kuschelte sich eng an ihn... ah, Seligkeit, lass das nie aufhören... und ehe der Schurke es sich versah, war er über diesem Gedanken eingeschlafen.
Und so machte Stian sich auf den Weg. Wo es zum Dunklen Portal ging, das hatte er ja schon herausgefunden, als er in den Blasted Lands all das Viehzeug gejagt hatte, das sich dort in Massen herumtrieb. Es, und Dämonen, das schien alles zu sein, was diese Ödnis hervorbrachte. Und das zugehörige Gesindel, die Dämonenbeschwörer, nicht zu vergessen natürlich.
Trotz der Dämonenplage schaffte der Sin'dor es vergleichsweise unbehelligt bis zum Dunklen Portal. Es war ein erhebender Moment, vor dem massiven Bauwerk zu stehen und in das grüne Leuchten zu treten - oder wäre es zumindest gewesen, wenn Stian einen anderen Gedanken hätte fassen können als den, dass eigentlich Riná in diesem Augenblick hätte neben ihm stehen sollen.
Stian schloss einen Moment lang die Augen, verdrängte den schmerzhaften Gedanken und trat durch das Portal. Ein kurzer Moment der Desorientierung, in dem der grüne Schein sein Inneres komplett zu durchdringen schien, dann ein weiterer Schritt, und der Schurke befand sich zum ersten Mal in seinem Leben in einer anderen Welt. Sein erster Eindruck war der vom verschleierten, sternenübersäten Himmel, den Riná ja bereits zu beschreiben versucht hatte. In Natura war es ein überwältigendes Schauspiel, und Stian hätte sich gerne länger davon verzaubern lassen. Doch zu bald schon wurde sein Blick auf die Ereignisse vor ihm am Fuße der Treppe gezogen - und die ließen ihm beinahe das Blut in den Adern gefrieren: Vor dem Dunklen Portal tobte eine erbitterte Schlacht. Auf dem ersten Treppenabsatz war ein Lager eingerichtet worden, oder besser gesagt zwei. Denn obwohl Horde und Allianz hier gemeinsam und verbissen das Portal gegen die vordringende Höllenbrut verteidigten, waren die Animositäten zwischen den beiden Fraktionen doch so groß, dass man weiter oben, wo keine direkte Gefahr bestand, doch besser voneinander Abstand hielt.
Mit großen Augen stieg Stian langsam hinab zum Hordelager, orientierte sich dort erst einmal und erstattete dem Orc-Kommandanten Bericht, wie dessen Gegenpart auf der anderen Seite des Portals - in einer anderen Welt, wie der Sin'dor sich immer wieder sagte; in einer anderen Welt, die nun hell und voll am Nachthimmel zu sehen war - es erbeten hatte. Der Soldat schickte den Schurken weiter nach Thrallmar, der größten Horde-Ansiedlung hier auf der Höllenfeuerhalbinsel, doch ehe er sich dorthin auf den Weg machte, begann er gleich hier seine Nachforschungen nach Riná. Ja, die Heilerin war hier durchgekommen, beschied man ihm, anscheinend sogar mehr als einmal. Doch ihre letzte Ankunft in der Scherbenwelt war offensichtlich schon einige Zeit her, zumindest hatte sie seither niemand gesehen. Zwar kamen jeden Tag etliche Abenteurer durch das Portal, doch es gab hier kaum einen Weg durch die Schlachtlinien außer auf den Windreitern von Meisterin Frayfeather, und diese hatte ein ziemlich gutes Gedächtnis. Damit war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass seine Liebste sich tatsächlich noch hier in Outland aufhielt, überlegte Stian. Es sei denn, sie war auf einem anderen Weg nach Azeroth zurückgekehrt - aber darauf hatte der Blutelf keinen Einfluss. Nein, er würde hier suchen, die ganze Scherbenwelt auf den Kopf stellen, wenn es sein musste, bis er herausgefunden hatte, was aus Riná geworden war. Und gnade demjenigen, der ihr etwas angetan hatte, wenn er, Stian, ihm auf die Schliche kam! Aber, Schatten und Licht, das durfte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein! Er wusste nicht, wie er ohne sie weiter... Nein. Diesen Gedanken konnte der junge Schurke nicht zuende denken. Es musste Riná einfach gutgehen, und er würde keine Ruhe geben, bis er sie gefunden hatte.
In Thrallmar war sie gewesen, erfuhr er auf seine Nachfrage dort, und auch in Spinebreaker Post, einem kleinen Außenposten in den südlichen Bergen. In Falcon Watch, einem etwa in der Mitte der Halbinsel gelegenen Posten der Sin'dorei, konnte man sich nicht an die Priesterin erinnern, aber das hatte nicht viel zu sagen, hieß es. Hier kämen zwar jeden Tag zahllose Blutelfen vorbei, auch Angehörige anderer Völker, aber da Falcon Watch direkt an der Straße lag und die Zangarmarsch nicht weit war, ritten viele auch einfach ohne Halt weiter, bis sie die öde Höllenfeuerhalbinsel hinter sich gelassen und die Zuflucht der Cenarion-Expedition direkt hinter der Grenze erreicht hatten.
Folglich ritt auch Stian in Richtung Zangarmarsch, aber schon die Cenarier kurz vor der Grenze konnten ihm mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Riná hier nicht entlang gekommen war, zumindest nicht auf der Straße - und die Straße war der einzige Weg durch die Schlucht; ohne Flugtier war es völlig unmöglich, über die hohen Berge zu beiden Seiten des Passes zu gelangen. Dennoch legte der Schurke auch noch den Rest des Weges bis zur Cenarion-Zuflucht zurück, wo er tatsächlich bestätigt bekam, dass keine Sin'dorja, auf die Rinás Beschreibung passte, dort angekommen sei.
Also gut. Wenn sie nicht doch irgendwie nach Azeroth zurückgekehrt war, dann befand Riná sich noch auf der Höllenfeuerhalbinsel. Das war doch schon einmal etwas. - Wenn Stian zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, dass auch ein Weg über den Razorthorn Trail von hier weg in den Wald von Terokkar führte, wäre er vielleicht verzweifelt, aber so überkam ihn fast etwas wie Hoffnung. Eine einzige, wenn auch von Dämonen nur so wimmelnde Halbinsel... Das sollte seine Suche doch überschaubar machen...
Aber so sehr Stian sich auch bemühte, die Frau seines Herzens schien wie vom Erdboden verschluckt. Unermüdlich verfolgte der Sin'dor eine Spur nach der nächsten, sprach mit jedem halbwegs freundlich gesinnten Geist in diesem öden Land und schlich sich in jedes feindliche Lager, von dem er nur irgendwie erfuhr. Wenn zufällig jemand dort eine Mission erfüllt haben wollte, dann nahm der Schurke diese an und erledigte sie bei seiner Suche nebenbei mit, aber in dieser Zeit konnte und wollte er sich nicht auf irgendwelche unwichtigen Aufgaben konzentrieren, während seine Liebste vielleicht in Feindeshand gefangen war!
Die ganze Höllenfeuerhalbinsel suchte Stian ab, war von morgens bis abends und oft auch nachts auf den Beinen. Er übernachtete fast immer draußen, wo er gerade noch ein Lagerfeuer zustande bekam, wenn er abends zu erschöpft war, um seine Suche fortzusetzen, und das Risiko, dass er einen fatalen Fehler beging, wenn er sich in diesem Zustand auf Feindesgebiet wagte, einfach zu hoch war. Nach Thrallmar oder Falcon Watch begab er sich nur, wenn er wieder einmal nachfragen wollte, ob Riná inzwischen gesichtet worden sei. Die Gastwirte dort kannten ihn bald mit Namen, und er hatte ihnen natürlich - wie all seinen anderen Gesprächspartnern, den Händlern und Greifenmeistern und Wachtposten an den Toren, auch - eine Nachricht für die Sin'dorja aufgegeben, aber die Antwort war leider immer wieder dieselbe: Die Priesterin hatte sich nicht blicken lassen.
Was ihn selbst anging, so kümmerte Stian sich nur um das Nötigste. Er verschwendete keine kostbare Zeit auf Unwichtigkeiten wie Rasieren oder Ähnliches - oder wenn, dann nur, weil er wieder einmal in einer Ansiedlung vorsprechen und keinen allzu verlotterten Eindruck machen wollte. Er nahm immer nur dann schnell etwas zu sich, wenn es gerade passte und er sich stärken musste, damit er nicht unaufmerksam wurde. Seine sonst durchaus gepflegte Kleidung wies inzwischen deutliche Spuren von den zahllosen Klettertouren über rauhes und felsiges Gelände auf; kurz, der junge Schurke war in diesen Tagen - nein, Wochen! - ein getriebener Mann, viel mehr noch als zuvor in Azeroth, als er lediglich Rinás Maß an Erfahrung hatte einholen wollen.
Erfahrung... davon sammelte er eine Menge in dieser Zeit, obwohl er es darauf gar nicht anlegte. Denn obgleich Stian nur dann Aufträge annahm, wenn diese ihm nicht bei seiner Suche in die Quere kamen, konnte er doch die eine oder andere Sache nebenbei erledigen, und allein die Tatsache, dass er sich für die Suche nach Riná mit jedem einzelnen Gegner auf der Höllenfeuerhalbinsel anlegte, ließ ihn sehr viel lernen. Ehe der Blutelf es sich versah, hatte sein Schurkenlehrer ihn in den sechzigsten Zirkel erhoben. Nun verkaufte ihm der Pferdehändler in Brill auch endlich die magische Satteldecke, auf die der Schurke schon lange ein Auge geworfen hatte. Wann immer Stian Boneshade diese Decke auflegte, beschleunigte sich der Galopp des blauen Skeletthengstes beträchtlich , so dass der Sin'dor schon bald gar nicht mehr auf diese neue Errungenschaft verzichten wollte.
Die grüne Satteldecke erlaubte es ihm, die Halbinsel noch schneller und effizienter zu durchstreifen als bisher, doch nicht einmal das half. Riná war und blieb verschwunden. Stian gab nicht auf, suchte verbissen weiter, folgte jeder noch so kleinen Spur, wagte sich in die entlegensten Ecken des Landes, und er gewann immer weiter an Erfahrung.
Mit jedem Tag, der ergebnislos verging, wuchs Stians Kummer, seine Verzweiflung, seine hilflose Wut. Und als er bei seinen immer ausgedehnteren Streifzügen dann auch noch die allerletzte Ecke der Höllenfeuerhalbinsel erkundete und dabei auf den Razorthorn Trail stieß, war dem Schurken, als habe man ihm einen vergifteten, mit Widerhaken bewehrten Dolch ins Herz gestoßen und diesen mehrfach in der Wunde herumgedreht. Wenn Riná hier entlang gekommen war, dann konnte sie wirklich überall sein. Und falls sie auf ihrem Weg hier entlang den Ravagern zum Opfer gefallen war, von denen es in der Gegend nur so wimmelte... Gebleichte Knochen hatte er hier schon einige gesehen, aber - oh, Schatten und Licht, nein. Nein! - falls der Heilerin wirklich etwas zugestoßen war, wenn sie wirklich... Stian schluckte. Jedenfalls müsste dann noch mehr zu erkennen sein als nur Knochen, dann hätte er einen Hinweis gefunden, ein Stück ihrer Kleidung, ihren Stab, den Schmuck, den er für sie angefertigt hatte... Er hatte so gründlich gesucht; wenn es etwas zu finden gegeben hätte, dann hätte er es gefunden, da war er sicher. An dieser Hoffnung klammerte Stian sich fest.
Es war weit und breit keine Seele zu sehen, die er hätte fragen können, ob eine Sin'dorja von Rinás Beschreibung hier entlanggekommen war, weder hier, noch auf der anderen Seite im Wald von Terokkar. So ungern er sich das auch eingestehen wollte, er hatte die Spur verloren... Stop. So durfte er gar nicht erst denken. Wenn er jetzt seine Suche auf die ganze neue Welt ausdehnen musste, dann würde er das eben tun. Und wenn ihn sein Weg wieder nach Azeroth zurückführte, dann würde er eben auch ganz Azeroth auch noch einmal absuchen...
Der Tag war schon weit fortgeschritten, und der Sin'dor beschloss, zunächst nach Thrallmar zurückzukehren, sich dort neu zu verproviantieren und dann zu überlegen, wo und wie er seine Suche am besten fortsetzen sollte.
Er erreichte die Orc-Festung nicht mehr am selben Tag, sondern musste wieder einmal im Freien ein Lager aufschlagen, aber das hatte dem Schurken noch nie etwas ausgemacht, und in seiner derzeitigen Stimmung war ihm seine Umgebung sowieso herzlich egal. Rasiert hatte er sich ebenfalls schon über eine Woche lang nicht mehr, aber auch das kümmerte den Blutelfen momentan nicht im geringsten.
Am nächsten Vormittag kam Stian in Thrallmar an - und bemerkte sofort, dass in Floyd Pinkus, dem Gastwirt, eine Veränderung vorgegangen war. "Gut, dass Ihr kommt, Elf", begrüßte ihn der Forsaken eilig, "es wurde vorgestern ein Brief für Euch abgegeben. Ich sagte dem Postreiter, er solle ihn hierlassen und nicht nach Falcon Watch weiterreiten, weil Ihr hier öfter vorbeischaut als dort, stimmt doch, oder?"
Der Schurke hatte schon die Hand ausgestreckt, kaum dass Pinkus das Wort 'Brief' ausgesprochen hatte.
"Eine Nachricht für mich? Rückt schon raus, Mann!"
Die Handschrift auf dem Umschlag kam ihm vage bekannt vor, doch im ersten Moment konnte der Blutelf sie nicht einordnen. Ungeduldig brach er das blutrote Wachssiegel auf der Rückseite.
Dieselbe schwungvolle Hand hatte auch die eigentliche Nachricht eilig auf das Pergament geworfen:
Schnell, kommt nach Silbermond... Ihr müsst mir helfen... Ich habe Riná gefunden... beeilt Euch...
Lady H. Sanemúra
Stians erste Reaktion war unendliche Erleichterung, und er spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Schatten und Licht sei Dank, Riná lebte! Doch ein neuerlicher Stich der Angst um seine Liebste folgte dem ersten Aufatmen auf dem Fuße. Denn 'kommt schnell', 'Ihr müsst mir helfen' und 'beeilt Euch' klang gar nicht gut. Das klang sogar verdammt besorgniserregend...
Mit einem extrem knappen Wort des Dankes an den Forsaken wandte Stian sich ab und raste förmlich zu Barley, dem Windreitermeister. Er würde schneller an seinem Ziel ankommen, wenn er sich nach Shattrath fliegen ließ und dort das Portal nach Silvermoon durchschritt, als wenn er seinen Herdstein benutzte, sich nach Grom'Gol zurückversetzte, von da aus den Zeppelin nach Undercity nahm und dort den Teleporter aktivierte.
Auf dem Windreiter, dessen Geschwindigkeit er nicht beeinflussen konnte, hatte der Schurke unangenehm viel Zeit zum Grübeln. Mit Macht versuchte er sich von dem immer wiederkehrenden Gedanken abzulenken, was die kryptischen Worte aus dem Brief wohl bedeuten mochten.
Lady H. Sanemúra - das musste Haniko sein, Rinás Zwillingsschwester. Damit kannte er jetzt endlich Rinás Nachnamen... Denn den hatte er bisher nie erfahren: Selbst bei ihrer ersten Begegnung in Hammerfall damals, als er sich selbstverständlich mit vollem Namen als Stian Skyggvandre vorgestellt hatte, war seine Gesprächspartnerin bei einem einfachen "Ich bin Riná" geblieben. Fast so, als wolle sie nicht über ihre Familie sprechen... - und später hatte Stian dann ja auch erfahren, dass es um Rinás familiäre Beziehungen wirklich nicht zum Allerbesten bestellt war. Sanemúra also. Riná Sanemúra... schön klang das... Hinterrücks überfiel ihn der Gedanke wieder. Oh bitte, lass es ihr gut gehen!