Ich habe in den letzten zwei Jahren immer mal wieder ein Abenteuer aufgeschrieben und mir dabei viel Gedanken darüber gemacht, welche Textstruktur mir hilft, ein vorgefertigtes Abenteuer zu verstehen, zu leiten, umzuarbeiten, auszuschlachten.
Vorweg: Mir geht es hier um Abenteuer als Szenarioanlässe mit offenem Ende und mindestens impliziten Verlaufsvorschlägen. Keine Sandboxes, keine Hexcrawls, mit denen habe ich keine Erfahrung (lasse mir aber gerne etwas über sie erzählen).
Ich habe also meistens eine Handlungsidee ("Die Charaktere müssen einen Schiffbrüchigen befreien, der in einem Winkel in der Höhle eines Seedrachen feststeckt und von ihm gezwungen wird, ihn mit Geschichten zu unterhalten"; "Die Charaktere müssen einen jungen Mann daran hindern, gemeinsam mit der Frau, die ihn liebt, in eine eine transhumane Existenzweise überzutreten, die faktisch seinen Tod bedeuten würde").
Typischerweise fächert diese Idee sich bei der ersten Annäherung ans Thema bereits auf, wenn mir alternative Bewertungen des Geschehens und mögliche Komplikationen einfallen ("der 'Tod' des jungen Mannes hätte evtl. politische Folgen, die einen dauerhaften Frieden herbeiführen könnten - was ist das wichtigere Ziel?"). Das ist der erste Schritt weg von der Handlungsidee und hin zu der Öffnung der Prämisse als Rollenspielmaterial.
Dann beschreibe ich erst einmal alle unmittelbar mit der Handlundsidee verbundenen Elemente auf: Das sind in der Regel NSC und Schauplätze (wobei die NSC üblicherweise Vorrang habe und ich Schauplätze erst ganz am Schluss erstelle).
Anschließend "fülle ich auf", indem ich weitere NPC beschreibe, sie mit der Handlungsidee verknüpfe oder manchmal auch einfach nur vor Ort sein lasse. Genauso gehe ich mit den Schauplätzen vor.
Jetzt habe ich als Elemente: Eine Handlungsidee, eine Sammlung von NSC und eine Sammlung von Schauplätzen. Die Handlungsidee formuliere ich jetzt möglichst knapp als Mission für die SC (bei manchen Abenteuern entwickeln sich während der Ausarbeitung auch mehrere mögliche Missionen, die dann als Optionen aufgeführt werden). Diese Handlungsidee/Mission enthält keinen geplanten Ablauf des Abenteuers. Sie stellt vielmehr den Anlass da, mit den NSC und Schauplätzen zielgerichtet zu interagieren.
Nebenher erarbeite ich eine Zeitleiste der bisherigen Ereignisse und eine Zeitleiste, die darstellt, was geschieht, wenn die NPC nicht eingreifen.
All das wird ann in folgender Reihenfolge zusammengefügt:
Einleitung (oft ein kurzer Einstimmungstext)
Die Mission
Was bisher geschah
Was geschehen wird
NSC-Beschreibungen
Schauplatzbeschreibungen
Es gibt keinen Abschnitt "Ende des Abenteuers", "Belohnungen" o.Ä. Sollten Belohnungen (Kopfgeld oder so) in Aussicht stehen, sind die bei der Mission vermerkt.
Warum diese Reihenfolge?
Die getrennten Abschnitte ermöglichen es, SC und Schauplätze leicht herauszulösen und in anderen Kontexten zu verwenden.
Die NSC kommen vor den Schauplätzen, weil NSC neben den Charakteren die Handlungstreiber sind: Die Situation, in die die SC eintreten, ist dadurch entstanden - und weiter in Bewegung -, dass die NSC ihre jeweiligen Ziele vorantreiben. Alle NSC-Beschreibungen zu lesen ermöglicht es meistens, die Handlungsstränge des Abenteuers gut zu erfassen.
Schauplätze sind zwar für's Spiel sehr wichtig, aber meistens von nachgeordneter Bedeutung, um die Ereignisstruktur zu erfassen. Deshalb kommen sie zuletzt.
Es gibt keinen Abschluss-Abschnitt, weil das nun aufgefächerte Szenario nicht wieder künstlich auf einen oder mehrere mögliche Ausgänge festgelegt werden sollen.
Diese Struktur hat bei mir in der Ausarbeitung zu einer wichtigen Erkenntnis geführt: NO TIMED TWISTS!
Es gibt nie einen vorgesehenen Zeitpunkt, zu dem die Charaktere etwas Bestimmtes herausfinden sollen! Das heißt nicht, dass keine Überraschungen in dem Material angelegt sein dürfen, aber es darf niemals eine Voraussetzung für das "Gelingen" des Abenteuers sein, dass die SC zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Information bekommen, die ihre Bewertung der Lage verändert. Dafür müsste ich nämlich erst einmal wissen, wie sie die Lage vorher bewerten, und dann noch steuern, wann sie welche neue Information erhalten und wie diese ihre Lagebewertung ändern. Ich habe schon oft in der Praxis festgestellt, dass das wenn überhaupt dann nur mit viel sanftem Druck gelingt. Besser, als einen bestimmten Twist festzulegen ("Als die SC dann dem Goblinhäuptling gegenübertreten, wird ihnen klar, dass ER der Bestohlene ist und sein Groll auf das Menschendorf ganz und gar berechtigt!"), ist es, Twists anzulegen ("Der Goblinhäuptling will sein gestohlenes Erz von den Dörflern zurückholen - mit allen Mitteln") und offen zu lassen, wann, wie und ob die SC mit diesen Informationen interagieren und ob sie auf ihrer Grundlage ihre Bewertung der Lage ändern.
Für mich ist diese Erkenntnis erst so klar hervorgetreten, als ich Abenteuer, die ich bereits geleitet hatte, auf dem Papier strukturiert habe, schlicht und einfach, weil die Struktur, für die ich mich entschieden hatte, es mir unmöglich gemacht hat, einen "Timed Twist" in den Text zu schreiben. Ich musste mich fragen: Was steckt eigentlich hinter dem Twist - wer tut hier was warum?, und DAS hinschreiben, anstelle des imaginierten großen Moments, in dem es den Spieler*innen wie Schuppen von den Augen fällt.
(Und ja, die Abenteuerstruktur habe ich fast 1:1 von MERS übernommen!)