Autor Thema: Rollenspielwelt und Spielercharakterfreiheit abseits vom Railroading  (Gelesen 1853 mal)

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Offline Merlin Emrys

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Hier soll es nochmal um einen Versuch gehen, die Beziehung zwischen der Rollenspielwelt und Spielercharakterfreiheit in ihr zu bestimmen und auszuloten, auf welche Aspekte ein Spielleiter (oder ein Rollenspielentwickler) dabei achten sollte, um ein möglichst reibungsfreies Spiel zu ermöglichen. Für den Anfang nehme ich erst einmal (leicht überarbeitet aus dem Nachbarfaden übernommen):

- Die Welt (= fiktive Welt, Rollenspielwelt) sei das, was bereits beschrieben und damit statisch ist. 
- Eine Weltsimulation dagegen ist ein dynamisches Ding, das von der Welt ausgeht und im Rahmen bestimmter Parameter zu bestimmten Ergebnissen kommt, wobei die Parameter bestimmen, inwieweit der angestrebte Endpunkt de Simulation sicher oder unsicher ist. (Die Simulation eines Tages unter erdähnlichen Bedingungen endet immer damit, das es Nacht und wieder Morgen wird; eine brauchbare Simulation eines Münzwurfs dagegen kann mit zwei Ergebnissen enden usw.) Die Weltsimulation wird von den Regeln und Absprachen, auf die die Spielrunde sich geeinigt hat, bestimmt. Dazu gehört also auch der Spielstil der Gruppe.
- Die Spielercharakterfreiheit kann mehr oder weniger eingeschränkt sein. Dabei gibt es verschiedene Faktoren, die einschränkend wirksam werden können. Das ist zum einen die rollenspielweltliche Plausibilität: Sind die Spielercahraktere bezogen auf die fiktive Welt gottähnliche Wesen, kann es plausibel sein, daß sie sehr frei schalten und walten können; sind sie "kleine Leute" in ihrer Umwelt, sind starke Einschränkungen ihres Wirkungshorizontes plausibel. Eine zweite Einschränkung kann von der Interaktion unter den Spielern herrühren, etwa indem Spieler zugunsten anderer Spieler auf bestimmte Freiheiten verzichten (müssen) oder der Spielleiter den Spielern Einschränkungen auferlegt. Schließlich kann auch das verwendete Regelwerk einem Spieler Einschränkungen vorgeben.

Und ich stelle als Theorie in den Raum:
Die Freiheit der Spielercharaktere innerhalb der fiktiven Welt und die Simulation dieser Welt können jede Beziehung zueinander annehmen. Die Weltsimulation hat eine klare Grundlage, die Weltbeschreibung (inklusive ihrer Umsetzung in Spielmechaniken, wozu in diesem Fall auch der allgemeine Spielstil zu zählen ist). Die Spielerfreiheit, in einer Situation zu entscheiden, kann vollständig sein, wenn die Weltbeschreibung jede für den Spieler denkbare Weiterentwicklung zuläßt. Andererseits kann die Weltsimulation dem Spieler nur unbedeutende letzte Details zur Beschreibung offenlassen, wenn der Charakter in einer Situation ist, in der die Weltsimulation nur eine einzige Möglichkeit läßt, wie die relevante Handlung weitergeht, etwa wenn der Charakter gerade stürzt und keine Option besteht, ihn darin aufzuhalten: er kann schreien oder lachen oder Schwimmbewegungen machen, die (vermutlich) relevante Handlung wird sich so weiterentwickeln, daß er stürzt, bis er irgendwo aufkommt. Ist der Charakter gar bewußtlos, ist dem Spieler nahezu jeder Einfluß auf das Spielgeschehen genommen.
Es ist also im Rahmen der Spielleitung möglich, durch Achtsamkeit und Fehlervermeidung die Freiheit der Spielercharaktere und damit die Zufriedenheit der Spieler zu wahren.

Ach ja: Alles, was die Thematik "Railroading" betrifft, bitte gleich in den Nachbarfaden verlegen!

Pyromancer

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Und ich stelle als Theorie in den Raum:
Die Freiheit der Spielercharaktere innerhalb der fiktiven Welt und die Simulation dieser Welt können jede Beziehung zueinander annehmen. Die Weltsimulation hat eine klare Grundlage, die Weltbeschreibung (inklusive ihrer Umsetzung in Spielmechaniken, wozu in diesem Fall auch der allgemeine Spielstil zu zählen ist). Die Spielerfreiheit, in einer Situation zu entscheiden, kann vollständig sein, wenn die Weltbeschreibung jede für den Spieler denkbare Weiterentwicklung zuläßt. Andererseits kann die Weltsimulation dem Spieler nur unbedeutende letzte Details zur Beschreibung offenlassen, wenn der Charakter in einer Situation ist, in der die Weltsimulation nur eine einzige Möglichkeit läßt, wie die relevante Handlung weitergeht, etwa wenn der Charakter gerade stürzt und keine Option besteht, ihn darin aufzuhalten: er kann schreien oder lachen oder Schwimmbewegungen machen, die (vermutlich) relevante Handlung wird sich so weiterentwickeln, daß er stürzt, bis er irgendwo aufkommt. Ist der Charakter gar bewußtlos, ist dem Spieler nahezu jeder Einfluß auf das Spielgeschehen genommen.
Bis hierher kein Widerspruch.

Zitat
Es ist also im Rahmen der Spielleitung möglich, durch Achtsamkeit und Fehlervermeidung die Freiheit der Spielercharaktere und damit die Zufriedenheit der Spieler zu wahren.
Ich kann dir nicht ganz folgen.
Propagierst du, dass z.B. der Spielleiter nicht auf "Balancieren" würfeln lassen soll, wenn der SC auf einem schmalen Baumstamm die Schlucht überqueren will, weil beim Vergeigen des Wurfes der SC nur noch die Option "fallen" hat und in seiner Handlungsfreiheit extrem eingeschränkt ist?

Offline Merlin Emrys

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Propagierst du, dass z.B. der Spielleiter nicht auf "Balancieren" würfeln lassen soll, wenn der SC auf einem schmalen Baumstamm die Schlucht überqueren will, weil beim Vergeigen des Wurfes der SC nur noch die Option "fallen" hat und in seiner Handlungsfreiheit extrem eingeschränkt ist?
Hm, nein, das ist ja nicht der einzige Paramater, an dem man drehen kann. Ich denke eher, daß man schon vorher einen "gedanklichen Schritt zurück" gehen sollte, um die Situation aus etwas Abstand anzusehen - das ist nicht neu, sondern Allgemeinwissen, nehme ich an -, und zwar unter der Fragestellung: Welche Parameter der Weltsimulation erlauben es, die Spielercharakterfreiheit zu wahren, welche schränken die Spielercharakterfreiheit ein? Oder anders ausgedrückt: "Wenn ich jetzt X auswürfele und wir haben Pech, bleibt den Spielern nur Y, und da können sie auch nur würfeln und hoffen. Wenn ich X offenhalte oder jedenfalls nur manche Ergebnisse zulasse, bleiben den Spielern größere Freiräume."

Neu wäre daran also im Grunde nur, beim Nachdenken dem Aspekt "wenn Änderung / Festlegung X, dann Spielercharakterfreiheit Y" gesondert Beachtung zu schenken, d.h. vorher zu überlegen, ob die Spielercharaktere durch die Änderung oder Festlegung in ihrer Wahlfreiheit eingeschränkt werden. Oder natürlich auch, wenn man Glück hat, ob sie vielleicht an Freiräumen gewinnen könnten.

Pyromancer

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"Bangs liefern?"
Im Vor-vorgänger-Thread hab ich da was dazu geschrieben:
http://tanelorn.net/index.php/topic,56926.msg1153082.html#msg1153082

Kurze Zusammenfassung: Gute Spielleiter (in meinen Augen!) legen Parameter der Weltsimulation, die außerhalb der Einfluß-Sphäre der Spieler/Charaktere liegen so fest, dass interessante Konsequenzen und Reaktionen wahrscheinlich sind.

Und hier schließt sich der Kreis zu deiner These: Situationen, in denen es keine Handlungsalternativen, keine Freiheit gibt, die sind in der Regel auch nicht interessant.

Von daher: Zustimmung!

Offline Master Li

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Hier soll es nochmal um einen Versuch gehen, die Beziehung zwischen der Rollenspielwelt und Spielercharakterfreiheit in ihr zu bestimmen und auszuloten, auf welche Aspekte ein Spielleiter (oder ein Rollenspielentwickler) dabei achten sollte, um ein möglichst reibungsfreies Spiel zu ermöglichen.

Das setzt voraus, dass es ein allgemeingültiges Moment für das Gelingen einer Rollenspielrunde gäbe. In meinen Augen gibt es das nicht. Es gibt so viele unterschiedliche Bedürfnisse in so vielen unterschiedlichen Gruppen, dass alles was in Gruppe XY toll ist, in irgendeiner anderen Gruppe das genaue Gegenteil bewirken wird. Insofern schreit Deine Annahme geradezu nach dem "guten Rollenspiel™"-Stempel.
Viel Spaß.
Master Li und der Hamster des Todes

Offline Dr.Boomslang

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Die Freiheit der Spielercharaktere innerhalb der fiktiven Welt und die Simulation dieser Welt können jede Beziehung zueinander annehmen.
...
Es ist also im Rahmen der Spielleitung möglich, durch Achtsamkeit und Fehlervermeidung die Freiheit der Spielercharaktere und damit die Zufriedenheit der Spieler zu wahren.

Ich paraphrasiere nochmal: Simulation einer Spielwelt und Freiheit von Charakteren können sich einschränken müssen sie aber nicht. Also kann der SL den Spielern alle Freiheiten lassen die sie erwarten dürfen.

Aha! Ähh Moment, was ist daran jetzt neu? Das ist alles?! Hat irgendwer was anderes geglaubt!? Das ist doch fast tautologisch. Oder hab ich das was unzulässig verkürzt?

Pyromancer

  • Gast
Oder hab ich das was unzulässig verkürzt?

Ich glaube ja.
Aber das soll Merlrys klären.

Offline Teylen

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Irgendwie mag ich den Begriff der Spielercharakterfreiheit nicht, insbesondere wenn es darum geht ihn in einer Beziehung zu versuchen allgemein auszuloten.

Schliesslich wird jede Gruppe die fuer sich in Anspruch nimmt funktional Rollenspiel zu spielen und Spass an der Spielweise hat ebenso wahrscheinlich davon ausgehen das es keine Einschraenkung der Freiheit gibt. Wenn man versucht zu argumentieren das die Spielweise als "Unfrei" wahrgenommen wird, die Gruppe jedoch bei ihrer Spielweise bleibt, muesste sie etwas aehnliches wie bei 1984 vollziehen in dem "Freiheit ist Sklaverei" positiv besetzt wurde.

Der Begriff der Welt Simulation sagt mir nicht zu da mitnichten jeder Spielstil im gleichen Mass Simulativ ist und verschiedene Gruppen Probleme haben werden den Simulations Teil zu benennen.
Zudem sehe ich bei Geschichts, Dramaturgie basierten Stilen und Verwandten keine Moeglichkeit die Welt Simulation von dem Handlungsrahmen der Spielercharaktere zu trennen.

Zitat
Die Weltsimulation hat eine klare Grundlage, die Weltbeschreibung (inklusive ihrer Umsetzung in Spielmechaniken, wozu in diesem Fall auch der allgemeine Spielstil zu zählen ist).
Nein, nicht unbedingt.
Man kann zwei z.B. V:tM Gruppen finden welche fuer sich einen aehnlichen Spielstil beanspruchen und das gleiche Setting, jedoch auf anderen Grundlagen agieren. Nun und das ist noch nicht der Fall wo wirklich grundlegend unterschiedliche Auslegungen der V:tM auf einander prallen.

Zitat
Es ist also im Rahmen der Spielleitung möglich, durch Achtsamkeit und Fehlervermeidung die Freiheit der Spielercharaktere und damit die Zufriedenheit der Spieler zu wahren.
Ich sehe weder den Kontext zur Freiheit der Spielercharaktere in Bezug auf die Zufriedenheit der Spieler noch wie die Spielleitung die Freiheit im Rahmen ihrer Moeglichkeit in jedem Fall wahren kann.

Zumal die Interessen der Spieler hinsichtlich des Szenen Ausgang entgegen gesetzt sein koennen (auch ohne das die Charaktere in Konkurrenz zu einander stehen).
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Auch im RL gebe ich mich nicht mit Axxxxxxxxxx ab #RealLifeFilterBlase

Eulenspiegel

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Es gibt eine Reihe von möglichen angestrebten Zielen:
  • kreativ tätig werden
  • herausgefordert werden
  • einen schönen Plot erleben
  • in die Welt eintauchen (Welten-Immersion)
  • in den SC eintauchen (Immersion)
  • möglichst hoher Realismus
  • zum Nachdenken angeregt werden (über outtime Gegebenheiten, die im Spiel reflektiert werden)
  • möglichst wenig Vorbereitungszeit außerhalb des eigentlichen Spielabends
  • etc.

Je nach persönlichen Vorlieben, sind einem als Spieler einige Punkte wichtiger und andere Punkte weniger wichtig (und wieder andere Punkte vollkommen egal).

Ein Spieler (meistens der SL) beschneidet nun die SC-Freiheit, weil er sich davon eine Verbesserung einer dieser Punkte verspricht. (z.B. verspricht er sich eine Verbesserung des Punktes "einen schönen Plot erleben")
Wenn die anderen Spieler das auch so sehen, ist alles fein.

Ärger kommt aber auf, sobald einer der Spieler (meistens der "Besitzer" des SCs) der Meinung ist, dass ein anderer Punkt dadurch reduziert wird (z.B. "kreativ tätig werden").

Im Normalfall haben beide Spieler recht:
- Punkt A wird tatsächlich durch die Beschneidung verbessert.
- Punkt B wird tatsächlich durch die Beschneidung verschlechtert.
Der Streit zwischen den beiden Spielern kommt nun daher, dass sie die beiden Punkte unterschiedlich stark gewichten. (Der beschneidende Spieler sieht Punkt A als äußerst wichtig an und Punkt B eher als unwichtig. Beim beschnittenen Spieler ist es genau andersrum.)

ErikErikson

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Ganz genau. Und in so einem Fall hat sich der Spieler eben dem SL zu beugen, der nicht umsonnst auch Meister... Aua! Hey, was soll das? Was wollt ihr damit? Hilfe! Argh....

Offline Merlin Emrys

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Und hier schließt sich der Kreis zu deiner These: Situationen, in denen es keine Handlungsalternativen, keine Freiheit gibt, die sind in der Regel auch nicht interessant.

Von daher: Zustimmung!
Wir sind uns einig?! Das finde ich mal richtig gut! :-)

Das ist alles?! Hat irgendwer was anderes geglaubt!? Das ist doch fast tautologisch.
Nein, es stimmt, es ist auch in meinen Augen ziemlich tautologisch. Wie übrigens die These von Eulenspiegel, von der der erste Faden ausging, auch. Das einzige, was ich noch hinzugesetzt habe, ist: "Spielleiter, aufgepasst! Hier könnt Ihr an Eurem Leitungsstil arbeiten!" Aber nachdem es dort zu einer Debatte darüber kam, dachte ich, vielleicht sieht es ja doch noch jemand anders. Also hab' ich halt mal gefragt ;-) ...

Schliesslich wird jede Gruppe die fuer sich in Anspruch nimmt funktional Rollenspiel zu spielen und Spass an der Spielweise hat ebenso wahrscheinlich davon ausgehen das es keine Einschraenkung der Freiheit gibt.
"Freiheit" ist aber nicht digital, und Einschränkungen der Freiheit nimmt jede Gruppe schon damit in Kauf, daß sie ein Regelwerk zugrundelegt. (Und ich gehe davon aus, daß jede Runde ein Regelwerk zugrundelegt; andernfalls würde sie nach meiner Definition kein Rollenspiel spielen, sondern etwas anderes.)

Der Begriff der Welt Simulation sagt mir nicht zu da mitnichten jeder Spielstil im gleichen Mass Simulativ ist und verschiedene Gruppen Probleme haben werden den Simulations Teil zu benennen.
Jeder Zugriff auf einen "Zufallsgenerator" (Würfel, Karten, Münzen, ...) ist Teil der Simulation nach meiner Definition (im ersten Beitrag); und auch wenn andere Mechanismen dafür eingesetzt werden, Entscheidungen zu treffen, sind diese Teil der Simulation. Das muß die Gruppe nebenbei nicht einmal so nennen; solange sie eine fiktive Welt nach bestimmten Regeln verändert, betreibt sie das, was ich hier Weltsimulation nenne. Daß der Anteil der Weltsimulation unterschiedlich hoch sein kann, ist korrekt, aber meines Erachtens nicht von besonderer Bedeutung - aber da kann ich mich natürlich irren.
« Letzte Änderung: 16.07.2010 | 18:07 von Merlin Emrys »