So... Thread nach über einem Jahr noch einmal mit kräftigem Defibrillieren wiedererweckt: :)
Aus gegebenem Anlass wollte ich noch ein paar Zeilen zu High Valor schreiben. Ich werde es auch beim diesjährigen Demon-Con (2. bis 4.9., siehe Con-Kalender) im Gepäck haben. Eine normale kurze Spielrunde dafür ist bereits angesagt und steht auf der Website.
Mittlerweile habe ich das Spielsystem ja schon ein paar Mal benutzt und das Buch weiter und genauer durchgelesen als letztes Jahr. Nachdem ich das Buch neulich auch als gebundenes Print-on-Demand gekauft habe, ist mein Interesse an High Valor wieder erwacht.
Außerdem arbeitet Tim Kirk zurzeit schon an mindestens einem weiteren Buch, einem anderen Setting, das sein in High Valor eingeführtes "FEAT System" benutzen soll. Da scheint es mir doch mal an der Zeit, ein kleines bisschen über High Valor zu schreiben.
Summa summarum: Im Grunde ist High Valor relativ "normale" Fantasy, nur ohne den althergebrachten organisatorischen oder buchhalterischen Aufwand - es gibt keine Klassen, keine Levels, keine Lebenspunkte und auch keine Erfahrungspunkte (eine Fortentwicklung des Charakters wird so geregelt, dass er ab zehn "Triumphs and Dooms" vorankommen kann - auf Deutsch würde man wohl einfach "Siege und Niederlagen" sagen). Das Spiel besitzt keine umständlichen Tabellen (generell kommt es sogar fast völlig ohne Zahlen und Tabellen aus), keine "Spruchlisten" zum Zaubern. So etwas wird man vergeblich suchen. Bei der Charaktererschaffung müssen auch keine Punkte (!) verrechnet werden. Auf dem Charakterblatt stehen nur drei Attribute - Valor (Mut), Faith (Glaube) und Will (Wille). Jede Probe im Spiel geht auf eines dieser Attribute und wird mit einem Pool von W10 ausgewürfelt. Je höher, desto besser. Von den W10 in einem Pool zählt immer nur das höchste Ergebnis, außer einer der Würfel landet auf der natürlichen 10. In diesem Fall zählt diese 10 selbst als Wert und wird zusätzlich noch zu dem zweithöchsten Ergebnis im Pool addiert. Maximal kann man so auf zwei Zehner kommen: 2x10 = 20.
Dieser Wurf kann nun noch durch die Traits (Merkmale, Besonderheiten) des Charakters aufgebessert werden. Darunter fallen die Kenntnisse, die Kräfte, die Stärken, die Charaktereigenschaften und auch die besonderen Besitztümer (magische Waffen, Amulette, besonders gute Rüstung ...) des Charakters. Traits gewähren immer eine feste gerade Zahl als Bonus, von +2 (gering) bis +10 (mythisch). Man darf bei einer Probe jeweils die zwei am ehesten zur Situation passenden Boni miteinander addieren und sie einem Attributspool zuteilen. Diese Zuteilung ist nicht fest, sondern von der Story und der Situation abhängig. Ein bestimmtes Trait kann in einer Situation bei einem Wurf auf MUT helfen, in einer anderen dann bei einem auf GLAUBE, usw. Mehr als zwei Boni werden nicht addiert!
Nicht alle Traits sind einfach frei gewählt. Genauer gesagt werden sie auf den Seiten über die Charaktererschaffung erklärt. Es gibt zu jedem der fünf
Kinships of Man (Völker, Rassen) ein paar verbindliche und typische Traits und solche, die eben sehr empfohlen oder besonders typisch für Abenteurer sind. Jedes Kinship hat außerdem einige
Professions (Berufe), die jeweils nur von diesem Kinship ausgeübt werden. Auch hat jedes Kinship mindestens einen Nachteil, den man ins Spiel einbringen kann und soll. (Nachteile entsprechen typischen Schwächen aus Sagen und Legenden sowie Fantasy-Literatur... somit sind Zwerge unfähig zu schwimmen und Elfen sind "rätselhaft und mysteriös").
Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen: Ein bestimmter Spielercharakter könnte unter anderem die Traits "Waldläufer (+4)", "Grimmig (+2)" und "Magisches Schwert (+2)" haben.
Gerät dieser Waldläufer nun beispielsweise in einen Hinterhalt in einem Stück Wald und muss gegen fünf Banditen kämpfen, wird er wahrscheinlich seinen Pool für MUT wählen und ihn mit den beiden Boni durch "Waldläufer (+4)" und "Magisches Schwert (+2)" verbinden. Er wirft die Anzahl der Würfel, die in seinem MUT-Feld steht, und addiert zum Schluss +6.
In einer anderen Situation wird dieser Waldläufer vielleicht von einer bösen Magierin bezirzt und will ihr widerstehen. Dann könnte er seinen Pool für WILLE einsetzen und dazu "Grimmig (+2)" und wiederum "Magisches Schwert (+2)" benutzen... vielleicht mit der Story-Begründung, dass dieses Schwert auch irgendwie gegen feindliche Magie oder Bezauberungen hilft oder ihn an seine Pflichten erinnert.
Wie oben bereits angesprochen würfelt der Spielleiter überhaupt nicht. Der SL darf einfach erzählen, fabulieren, interpretieren und ausschmücken wie er möchte und sagt nur die Schwierigkeitsgrade an. Von diesen Schwierigkeitsgraden gibt es genau fünf, die auch auf dem Charakterbogen stehen:
Lesser (8)
Greater (12)
Heroic (16)
Legendary (22)
Mythic (28)
Die Zahlen müssen hier übertroffen werden. Kommt man mit Würfel plus Boni exakt auf den Schwierigkeitsgrad, ist das immer ein Unentschieden.
Der ganz große, wichtige Kniff an diesem System ist meiner Meinung nach folgender: So wie der Schwierigkeitsgrad, so ist auch das Ergebnis! Eine "Lesser" Aufgabe bringt auch nur eine "Lesser" Niederlage oder einen "Lesser" Erfolg, eine "Greater" Aufgabe führt zu einem "Greater" Sieg bzw. einer "Greater" Niederlage... mit den entsprechenden Konsequenzen. So muss der Spieler eben von Anfang an wissen, worauf er sich einlässt und abwägen, ob er es unter den gegebenen Umständen mit einem Gegner oder einer Aufgabe aufnimmt oder nicht.
Ganz wichtig noch: Im Gegensatz zu vielen der neueren Systeme und auch im Gegensatz zu dem, das ich so in letzter Zeit selbst gespielt habe, gibt es in High Valor definitiv kein Re-Rolling und keine Extrapunkte. Was einmal gewürfelt wurde, zählt auch und der Charakter muss sozusagen damit leben. Irgendwie eine faszinierende Mischung aus Indie-Erzählschule und "let the dice fall where they may".
Ein kleiner Hinweis für die Fraktion der Germanisten und Literaturfans: Der Name "High Valor" ist - bewusst oder unbewusst gewählt - die genaue Entsprechung zu dem mittelhochdeutschen Begriff "hôher muot", der in der Dichtung des Minnesangs bekanntlich eine tapfere Gesinnung, Entschlossenheit, Hochgefühl, Heldenmut, aber auch allgemein "Tugend" bezeichnet. (PS:
Ich wollte hier ursprünglich irgendein nettes Zitat von Walther von der Vogelweide oder einem anderen Dichter einfügen, in dem "hôher muot" vorkommt, konnte aber auf die Schnelle nichts Geeignetes googeln.)