Gestern ist mir ein Gedanke durch den Kopf geschossen, den ich zur Diskussion stellen möchte. Es geht mal wieder um Kampfregeln. Sie sind meist besonders detailliert ausgearbeitet und irgendwie binden sie im Spiel sehr viel Aufmerksamkeit auf sich. Immer wieder frage ich mich, warum das so ist. Wie gelingt den Kampfregeln dieses Kunststück? Der Grund für diese Frage ist nicht bloß unbedarfte Neugier. Das verborgene Geheimnis interessiert mich so sehr, damit ich es auf andere Themenbereiche übertragen kann.
Hypothese: Kampfregeln regeln nicht nur den Konflikt, sondern auch das Ergebnis des Konflikts. Weil sie beides tun, entfalten die Kampfregeln die ihnen typische Eigendynamik, die das Spiel konsequent vorantreibt, selbst wenn keiner der Spieler etwas vom Kampf versteht.
Analysieren wir diese Hypothese genauer. Bei Kampfregeln besteht das Ziel darin, die Kampfunfähigkeit des Gegners zu erreichen. Das wird über eine begrenzte Schadenskapazität operationalisiert. Klassisch sind Lebenspunkte, aber Alternativen wie Wundsysteme tun funktionell nichts anderes. Lebenspunkte markieren die Schadenskapazität. Wenn sie auf null gesenkt sind, ist der Gegner kampfunfähig. Ob er dabei tot ist oder benommen oder bewusstlos oder schlicht geknickt und nicht weiter zum Kampf bereit, ist egal. Das sind jeweils nur verschiedene Darstellungsformen von Kampfunfähigkeit.
Alle Kampfmanöver, die man anwendet, zielen direkt oder indirekt darauf, die Kampfunfähigkeit des Gegners herbeizuführen. Wenn wir im Kampf eine Konfliktprobe ablegen, dann regeln die Regeln nicht nur, wer diese Probe gewinnt, sondern sie regeln auch ganz eindeutig das Ergebnis der Probe: jemand verliert ein paar Lebenspunkte und bewegt sich dadurch näher an die Kampfunfähigkeit heran. Das Ergebnis der Kampfproben ist somit nicht offen und nicht frei interpretierbar. Es ist durch die Regeln genau festgelegt.
Dadurch, dass die Kampfunfähigkeit in der Regel nicht bei der ersten Probe erreicht wird, dauert der Kampf mehrere Runden. Die solchermaßen entstandene Kampfsequenz hat eine Eigendynamik und wird voll von den Regeln getragen. Die Spieler können ihre Kreativität einbringen, indem sie unterschiedliche Manöver auswählen oder die regelmechanischen Ergebnisse bildlich darstellen. Die Spieler müssen das aber nicht tun, die Kampfsequenz funktioniert praktisch von allein. Man muss würfeln und Buch führen, mehr Anforderung ist nicht.
Sobald die Kampfunfähigkeit erreicht ist, endet der Kampf und die Kampfregeln hören auf zu wirken. Die Spieler sind bei der Fortführung des Geschehens jetzt wieder auf sich gestellt. Die Eigendynamik der Kampfregeln findet ihr Ende, wenn das Endziel erreicht ist.
Die Entfaltung der Eigendynamik ist daran gebunden, dass der Kampf nicht in einer Runde abgehandelt werden kann. Das Letztziel, die Kampfunfähigkeit, sollte sich erst nach mehreren Anläufen einstellen.
Die Kampfunfähigkeit, operationalisiert als Lebenspunkte, steht im Zentrum der Regeln. Kampffähigkeiten, Waffenstärken, Rüstungsstärken, Geländemodifikatoren, Verletzungsmodifikatoren und andere Regeln tun im Grunde nichts anderes als das Anknabbern der Lebenspunkte differenziert darzustellen. Manche Faktoren wirken beschleunigend, andere hemmend. Bei allen geht es im Endeffekt um die Lebenspunkte.
Auch ein großer Teil der übrigen Regeln, die per Definition nicht dem Kampf angehören (Soziales, Magie), sind bei genauer Betrachtung direkt auf den Kampf gebürstet. Moralsteigerungen werden direkt auf Kampffertigkeiten angerechnet, Einschüchterungen ebenso; Zauber stärken Rüstung und Waffen, schwächen den Gegner, verursachen direkten Abzug von Lebenspunkten. Willenskraft dient dazu, schwächende Einflüsse auf die eigene Kampfkraft abzuwehren. Direkt oder über mehrere Stationen dient eine Masse der Regeln dazu, die Lebenspunkte des Feindes abzuknabbern und die eigenen vor dem anknabbern zu schützen.
Kommen wir zurück zu der Ausgangshypothese. Im Kampf wird nicht nur geregelt, wer die Konfliktprobe gewinnt. Es wird auch ganz konkret das Ergebnis der Konfliktproben geregelt. Das Instrument dafür sind die Lebenspunkte. Die Spieler werden dadurch entlastet, das Regelwerk übernimmt die Darstellung der Verlaufsdynamik. Wie sich die Situation von Runde zu Runde ändert, muss man sich nicht ausdenken. Das Zufallselement der Würfel sorgt für Spannung.
Die Hypothese muss nach den obigen Ausführungen erweitert werden. Es reicht nicht, das Ergebnis regelmechanisch darzustellen. Das Endziel (bei Kampfregeln: Kampfunfähigkeit) sollte ein paar Runden entfernt sein, damit sich eine Verlaufsdynamik überhaupt einstellen kann. Denn sobald das Endziel erreicht ist, endet der Einfluss der Kampfregeln.
Ist das das Geheimnis der Kampfregeln? Sie Regeln nicht nur, wer gewinnt, sondern auch konkret das Ergebnis der Proben. Und sie sind so konstruiert, dass der Ausgang des Konflikts nicht in einer Probe entschieden wird. Dadurch provozieren sie eine Mehrzahl von Runden und regeln dabei genau den Verlauf des Konflikts.
Sehen wir uns ein Gegenbeispiel an. Eine Regel, die weder das Ergebnis konkret regelt, noch mehrere Runden für das Entscheiden des Konflikts benötigt. Feilschen. Man kann damit beim Einkaufen den Preis senken. Um wie viel genau ist nicht immer konkret geregelt. Eine simple Prozenttabelle könnte aber rasch Abhilfe schaffen. Je besser die Probe, desto mehr Prozent Rabatt gibt es. Ob der Preisnachlass nun konkret geregelt oder vom Spielleiter festgelegt wird, der Konflikt dauert in beiden Fällen genau eine Runde. Dynamik kann sich unter dieser Bedingung natürlich nicht entfalten.
Die Ausdehnung des Konflikts auf mehrere Runden ist eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Regelsystem Eigendynamik entfaltet. Ja, das ist der zweite Gedanke, der mir erst im Verlauf des Posts gekommen ist.