Autor Thema: Cool story, bro. Über die Widersprüche erzählenden Rollenspiels.  (Gelesen 3745 mal)

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Offline Minne

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Hey. Ich habe mich seit langer Zeit mal wieder theoretisch mit Rollenspiel befasst, zum einen aus Notwendigkeit (seufz) und zum anderen da ich interessanten Input aus der Philosophie erhalten habe. Ich habe das Ganze auf meiner Seite gepostet, veröffentliche es aber auch hier. Wie der Titel schon sagt, geht es um die Probleme von erzählendem Rollenspiel, wobei ich den Begriff nicht notwendigerweise in der geläufigen Bedeutung verwende, sondern aus einer Erzähltheorie entwickle. Aber lest selbst:

Einleitung:

Es gibt eine Geschichte, in der einem chinesischen Bauern eine Reihe von Glücks- und Unglücksfällen widerfahren, die dieser jedoch stets gleichmütig kommentiert. Denn er weiß, dass sich die volle Bedeutung eines Ereignisses erst im Rückblick ergibt. Und tatsächlich verwandelt der weitere Gang der Geschichte stets Glück in Unglück und umgekehrt: Die Pferdeherde verschwindet, nur um angewachsen zurückzukehren. Die halb wilden Pferde führen jedoch einen Reitunfall des Sohnes herbei, der ihn allerdings schließlich davor errettet, in die Armee eingezogen zu werden. Vermeintliche fernöstliche Weisheiten mögen wir beiseite schieben, denn das interessante an dieser Geschichte ist, dass sich an ihr zwei gegensätzliche Situationen zeigen lassen – die des Erzählers einer Geschichte und des Menschen, der sich in einer Kette von Ereignissen verwickelt sieht. Der chinesische Bauer weiß, dass die Zukunft größtenteils weder im Bereich seines Wissens noch seiner Macht liegt. Er enthält sich daher einer voreiligen Wertung, da alles noch eine unbekannte Wendung erfahren kann. Jemand, der diese Geschichte erzählt, kennt sie hingegen: Er weiß welche Bedeutung die Ereignisse füreinander haben, welche Konsequenzen aus ihnen jeweils erwachsen und wie sie in ihrer Gesamtheit die Weisheit des Bauern herausstellen. Der Bauer könnte seine eigene Geschichte nicht erzählen, während er sie selbst erlebt, denn dies würde eben jenes Wissen voraussetzen, dessen bewusste Abwesenheit seine Weisheit ausmacht. Zwischen dem Erleben einer von Zufällen und Ungewissheit geprägten Welt und der Souveränität sowie dem überlegenen Wissen des Erzählers in Bezug auf seine Erzählung klafft also ein Abgrund auf.

Weshalb ist dies wichtig und was hat es mit Rollenspiel zu tun? Wenn Rollenspieler Außensehenden ihr Hobby erklären, tun sie dies zumeist, indem sie Vergleiche zu diversen Medien oder Kunstformen anstellen, darunter sowohl dramatische als auch epische, d. h. erzählende Formen. So heißt es etwa, Rollenspiel sei eine Art Improvisationstheater oder aber das gemeinsame Erzählen einer Geschichte. Vieles legt nahe, dass Rollenspiel tatsächlich etwas mit Geschichtenerzählen zu tun hat: Eine Familie von Rollenspielsystemen nennt sich „Storyteller“, was zugleich nach Robin D. Laws einen Spielertyp darstellt, der sich durch eine besondere „erzählerische“ Vorliebe auszeichnet. Eine mittlerweile in die Tage gekommene Rollenspieltheorie macht in dem „Narrativismus“ sogar eine Grundlogik des Rollenspiels überhaupt aus. Oftmals wird der Leiter einer Rollenspielrunde auch als „Erzähler“ bezeichnet. Dies impliziert, dass die Spieler als Zuhörer oder Rezipienten einer Geschichte zu verstehen sind, die von jenem Erzähler erzählt wird. Die ausufernden Kampagnen des bekanntesten deutschen Rollenspiels, die nicht selten mit Passagen zum Vorlesen versehen sind, legen auch von ihrer Struktur her diesen Schluss nahe. Dieser Aufsatz hat das Ziel, jenseits bloßer Geschmacksargumente darzustellen, welche Probleme daraus entstehen, wenn Rollenspiel tatsächlich als Medium zum Erzählen von Geschichten gedacht und praktiziert wird. Der Gegensatz zwischen der Rolle des im Geschehen Befangenen und desjenigen, der von Handlungen und Ereignissen erzählt, ist ein Aspekt des Problems. (-> Weiter gehts wegen dem Zeichenlimit und dem Mangel an Fußnoten im Forum notgedrungenermaßen im Blog)

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Moin Minne,

danke für den Text. Er hat mir in weiten Teilen wirklich ausgezeichnet gefallen. Die Herleitung der Problemstellung, das Herausarbeiten von asymmetrischer und symmetrischer Runde. Wunderbar. Auch die Tips im vierten Teil fand ich sehr hilfreich.

In den Punkten 3.1 und 3.2 machst Du es Dir jedoch meiner Ansicht nach leider viel zu einfach. Die tendentielle Dichotomisierung in "Der SL-Diktator erzählt eine Geschichte und die Spieler dürfen nichts selbst entscheiden" auf der einen Seite und "Die Spieler dürfen sich komplett frei ausleben." auf der einen Seite haben wir doch eigentlich in der Diskussion längst überwunden. Deine diesbezüglichen Ausführungen sind mir zu platt und greifen zu kurz.

Es geht für mein Verständnis heutzutage viel eher darum, wie man Deine hilfreichen Tips im Kapitel 4 so einbauen kann, dass man den gruppenspezifischen "Sweet Spot" findet. Partizipationismus in einer asymmetrischen Runde beispielsweise kann in vielen Runden eine durchaus funktionale, spaßbringende Angelegenheit sein. Ich sehe wenig Gründe, derlei Präferenzen auf eine elaborierte Art generell herunterzuputzen. Das ist dann auch der Vorwurf, den man dem Text meiner Ansicht nach machen muss: er ist im Kern verfasst im Duktus des Besserspielers, der die seeligmachende Erkenntnis rund um "gutes Rollenspiel" gefunden zu haben glaubt. Das halte ich für ein Fehlverständnis.

Viele Grüße vom Wellentänzer

Offline 1of3

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Offline Hotzenplot

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Habe es gerade gelesen. Insgesamt ist mir der Text etwas zu lang und das Fazit ist für mich weder überraschend, noch neu. Soll es vielleicht nicht sein, aber dein Eingang hatte bei mir die Erwartung geweckt, dass der Minne jetzt mit einer neuen Erkenntnis um die Ecke kommt.
Insgesamt stehe ich deinen Betrachtungen bei, habe aber auch Wellentänzers Einwände: Du bemühst m. E. zu sehr das vielbesungene "klassische" Rollenspiel als Gegenpart, dabei ist dieses Thema doch zumindest unter den Leuten, die sich intensiver mit Rollenspielen beschäftigen, absolut ausgelutscht.
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Offline Minne

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Rollenspiel muss nicht prinzipiell Geschichten erzählen. Versucht man es dennoch, entstehen daraus verschiedene Probleme, die sich in in Runden mit Spielleiter jeweils anders darstellen als in Runden ohne.

@Wellentänzer und hotzenplotz

Danke fürs Lesen! Das was ihr kritisiert kommt zum Teil wohl daher, dass ich mit dem Text einerseits an einer Theoriedebatte teilnehmen will, andererseits damit auch in einem anderen eher theoriefernen Kontext intervenieren will, weshalb er letztendlich wohl weder Fisch noch Fleisch ist. Aber zu euren inhaltlichen Einwänden:

Zitat
In den Punkten 3.1 und 3.2 machst Du es Dir jedoch meiner Ansicht nach leider viel zu einfach. Die tendentielle Dichotomisierung in "Der SL-Diktator erzählt eine Geschichte und die Spieler dürfen nichts selbst entscheiden" auf der einen Seite und "Die Spieler dürfen sich komplett frei ausleben." auf der einen Seite haben wir doch eigentlich in der Diskussion längst überwunden. Deine diesbezüglichen Ausführungen sind mir zu platt und greifen zu kurz.
Ich glaube, das ist ein Missverständnis: Mir ging es nicht so sehr um Spielleiterautorität vs. Spielerfreiheit per se sondern um die Konsequenz, wenn der Zweck der Spielleiterautorität darin besteht, ihn zum Erzählen einer Geschichte zu autorisieren. Deshalb spiele ich auch nicht das klassische Rollenspiel gegen das nicht-klassische aus, vielmehr ist die für mich zumindest überraschende Erkenntnis, dass sowohl ein klassischer Modus des Rollenspiels und jener, bestimmter nichtklassischer Systeme im Anspruch, Geschichten zu erzählen, eine Gemeinsamkeit haben und dass man mithilfe eines narrativen Modells erklären kann, warum dies in beiden Formen für Schwierigkeiten sorgt. Was die praktischen Fragen angeht, denke ich, dass jedes Verhältnis von symmetrisch bis asymmetrisch funktional sein kann, weil es für jeweils andere Spielgegenstände geeignet ist.

cheers!

Offline D. M_Athair

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Werd ich mir mal noch in Ruhe durchlesen müssen.

Dennoch stellt sich mir die Frage: Die Unterordnung von Charakteren unter die Geschichte - also das Ausspielen der Rolle zur Vertiefung der Charaktere (- das was Method Actor so lieben) - ist doch von vornherein klar, oder nicht? Erzählerisches Spiel heißt doch im Gruppenkonsens nichts anderes als "Am Ende wollen wir eine coole, bedeutungsvolle Geschichte haben" und eben nicht "Charakterdrama" oder irgendetwas anders. (Assoziation: Einsamer Wolf oder Prince Eisenherz legen - sowohl in den originalen Medien als auch in den aktuellen RPG - Wert auf die erzählerischen Seiten der Geschichten.)

Zitat
Letztendlich scheint also die Möglichkeit erzählendem Rollenspiels dieser [symmetrischen] Variante oft dadurch erkauft zu sein, dass die jeweiligen Geschichten wenig originelle Variationen auf Schema F sind.
Den Teil habe ich leider überhaupt nicht verstanden. Wie kommst du darauf?
Wenn wir Everway in einem Erdsee-ähnlichem Setting SL-los (bzw. wechselnden Szenenleitern) und freiform spielen, dann legen wir vorher fest: Was ist das heutige Ziel? Wie steigen wir in die Handlung ein? Auf was könnten wir heute Stoßen, bzw. was soll grob der Kontext sein (social/ natural environment). Schema F und Klischees glänzen geradezu durch Abwesenheit.

Zitat
ine Möglichkeit ist Antizipation. So wie wir als Leser eines Romans auf die möglichen Konsequenzen eines Ereignisses spekulieren, so können wir auch in einer Rollenspielrunde die potentiellen Bedeutungen antizipieren, die ein Ereignis haben könnte. [...] Ich muss also, wenn ich der Geschichte eine bestimmte Richtung geben will, die Antizipation der Bedeutung dieses Ereignisses bei meinen Mitspielern mit antizipieren.
Wir belassen es bei der Antizipation. Der Geschichte Richtung geben kann und wird nur der aktuelle Szenenleiter. Die Spannung die aus der Frage entsteht "was macht mein Mitspieler mit dem, was ich ihm zur Verfügung stelle?" und dem, was der SzenenSL dann tatsächlich daraus (Überraschendes) macht, ist wesentlicher Teil unsers Spielspaßes.
Insofern müssen Ereignisse nur mit der Vergangenheit verknüpft und deren Bedeutung bedacht werden. Lockere Verbindungen in die Zukunft sind zwar a) ab und an nötig, um die Erzählung zu entfalten und b) um ... [folgt]
Der Komplexitätszuwachs ist jedenfalls nicht "belastender" oder "größer" (beides eher etwas weniger) als bei einem herkömmlichen SL in einer klassischen RPG Runde. Der Unterschied hier ist: Er betrifft alle Spieler gleichermaßen und macht das Spiel insgesamt dann doch etwas fordernder. Andererseits spart man sich den Stress durch unruhige oder gelangweilte Mitspieler, weil man die Szene einfach abgeben kann.

Inkonsistenzen in der Geschichte können auftreten. Die Chance dafür ist etwas höher als bei anderen Arten Rollenspiel zu betreiben.
Aber das ist nichts, das nicht durch einen mehr oder weniger eleganten RetCon gelöst werden könnte.

Kurz: Unsere Spielabende ähneln in gewisser Weise den langwierig, rasanten, epischen, mit der heißen Feder geschriebenen und manchmal inkonsistenen Geschichten von Erdsee oder Elric. Und ganau das ist, es was wir spielen wollen: Kurz, sowohl Hilfsmittel als auch Problemlösungsmethoden für symmetrisch erzählerisches Spiel dienem dem Spielerlebnis und sind dadurch wichtige Spielmechanismen.

Soviel mal zu unser Praxis, bzw. meiner Analyse dessen. Ich kann demnächst die zugehörigen 2 Spielberichte verlinken.


Oder: Meine Hauptkritik an dem Artikel (aus der Praxis) ist: Die Differenzierung von asymmetrischem und symmetrischem Spiel ist gut und wichtig. Was darüber vergessen wird, ist die Bedeutung der Erzählweisen. Diese können sehr unterschiedlich sein. so hat assotiatives Freiformspiel ganz andere Chancen und Risiken als formalsiertes Indieerzählspiel.
« Letzte Änderung: 10.12.2015 | 04:33 von Contains Diseases »
"Man kann Taten verurteilen, aber KEINE Menschen." - Vegard "Ihsahn" Sverre Tveitan

Offline Crimson King

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Auch mir ist nicht klar, wieso man die Trennlinie zwischen asymmetrischem, durch die Spielleitung vordefiniertem Erzählen und symmetrischem, ergebnisoffenen Erzählen zieht. Hier sind offensichtlich zwei Dimensionen im Spiel, nämlich einerseits die Verteilung der Erzählrechte und andererseits die Ergebnisoffenheit. Einen Widerspruch zwischen Asymmetrie und Ergebnisoffenheit bzw. zwischen Symmetrie und Vordefiniertheit des Ergebnisses er kenne ich so nicht.

Es ist z.B. in den allermeisten (asymmetrischen) Rollenspielrunden üblich, dass alle Teilnehmer Flaggen in den Boden stecken bei den Themen, die sie interessieren. Dies geschieht einerseits auf Basis der Charaktervorgeschichte (Inigos Vater wurde von einem Mann mit sechs Fingern an jeder Hand ermordet. Inigo ist angetrieben von Rachedurst), andererseits auf Basis von Entscheidungen, die der Spieler während der Spielsitzungen trifft, sofern diese Entscheidungen (unbewusst oder bewusst) mit Blick auf die Geschichte getroffen werden (Mein Charakter hat einen Gott angepisst und ist deshalb in eine extradimensionales Gefängnis verbannt worden. Um da raus zu kommen, ruft er einen konkurrierenden Gott an und schließt mit diesem einen Handel ab). Der Spieler liefert der Spielleitung in der Formel (x wird durch y nach z transformiert) das x und/oder das y, überlässt es der Spielleitung aber, die Konsequenzen und Interpretationen vorzunehmen, und die Spielleitung hat an dieser Stelle natürlich die Möglichkeit, neben zufälligen oder plausibilitätsbasierten Entscheidungen z so zu wählen, dass es für die gemeinsam erzählte Geschichte am passendsten ist.

Ich fand den Text ansonsten sowohl sprachlich als auch inhaltlich sehr gelungen.
Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
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Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
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J.W. von Goethe

Offline Minne

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Ich versuche, noch auf deinen Beitrag einzugehen, Dealgathairs, aber mich hat Crimson Kings Post gerade zum Nachdenken angeregt :)

Zitat
Auch mir ist nicht klar, wieso man die Trennlinie zwischen asymmetrischem, durch die Spielleitung vordefiniertem Erzählen und symmetrischem, ergebnisoffenen Erzählen zieht. Hier sind offensichtlich zwei Dimensionen im Spiel, nämlich einerseits die Verteilung der Erzählrechte und andererseits die Ergebnisoffenheit. Einen Widerspruch zwischen Asymmetrie und Ergebnisoffenheit bzw. zwischen Symmetrie und Vordefiniertheit des Ergebnisses er kenne ich so nicht. [....]

Es gibt tatsächlich keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen einer asymmetrischen Situation und Ergebnisoffenheit, es ist aber falsch, dass ich beides in einen Topf werfe. Dass das erzählende Rollenspiel in der asymmetrischen Konstellation nicht ergebnisoffen ist, folgt nicht aus der Asymmetrie selbst, sondern daraus, dass der Zweck dieser Asymmetrie darin besteht, den SL zum Erzählen einer Geschichte zu autorisieren. Weil dies aber am Eigenwille der Spieler scheitern kann, kennt dieser Modus Ergebnisoffenheit zwar, aber gewissermaßen nur als das Versagen des SL an seiner Aufgabe (nach den Maßstäben dieses Modus). Eine Beispiel für ein nicht-erzählendes und zugleich asymmetrisches Rollenspiel wäre beispielsweise ein investigatives Abenteuer das in folgender Art und Weise strukturiert ist: Der SL hat vorgeschichte, Clues, Zeugen usw. genau ausgearbeitet und es ist die Aufgabe der Spieler, den Tathergang zu rekonstruieren, während der SL nur die Fakten präsentiert. Dies ist einerseits höchst asymmetrisch, andererseits ergebnisoffen, weil die Spieler das Rätsel genauso gut lösen wie nicht lösen können.  Nur ein Beispiel.

Das was du schilderst, passt weniger zur asymmetrischen Situation, als zu einem Mischtyp: Denn symmetrie/asymmetrie ist nicht nur eine Frage von "Erzählrechten", sondern allgemein von Befugnissen und Verantwortungen. In deinem Beispiel ist es die Aufgabe der Spieler, nicht nur ihren Charakter darzustellen, sondern mittelbar Einfluss auf "die Geschichte" zu nehmen, womit es zu einer geteilten Verantwortung von Spielern und Spielleiter kommt, und somit zu einer gemäßigten Asymmetrie. Wenn wir uns das jetzt als erzählendes Rollenspiel vorstellen, müssten konsequenterweise auch Probleme der asymmetrischen Form hinzukomme. Zb. wie trifft ein Spieler Entscheidungen "in Hinblick auf die Geschichte", wenn er sie doch gar nicht kennt? Aber abgesehen davon, müssen wir das überhaupt als erzählendes Rollenspiel betrachten? Du hast mir hier insofern eine goldene Brücke gebaut, als dein eines Beispiel offensichtlich aus der Kampagne kommt, die ich mit dir als Spieler geleitet habe. Ich leite kein erzählendes Rollenspiel - das heißt ich habe bei meinen Entscheidungen keine "Geschichte" vor Augen. Weder eine die von Anfang an fest steht, noch eine, die ich mit jeder Handlung der Spieler neu konzipiere. Ich entwerfe vielmehr Räume die Probleme und potentielle Probleme oder andere interessante Dinge enthalten und stoße die Spieler herein. Natürlich antizipiere ich auch Verhalten, wie sollte ich sonst wissen, was interessante Probleme sein könnten und was nicht und welche Entwicklungen welches Potential haben. Natürlich gibt es auch Ergebnisse, deren Wahrscheinlichkeit ich zu minimieren suche, etwa weil sie das Spiel zum Erliegen bringen würden. Aber dies ist nicht das selbe, wie eine Geschichte zu erzählen. Man könnte mein Selbstverständnis als SL auch mit einem Moderator in einer Talkshow vergleichen, der Impulse aufnimmt, advocatus diaboli spielt, mit provozierenden Fragen eingreift und kontroverse Fragestellungen in der Rückhand hat, sollte das Gespräch an Schwung verlieren. Ich halte das nebenbei für eine relativ normale SL-Haltung, weshalb ich auch nicht behaupte, etwas neues erfunden zu haben.

Ich finde es bezeichnend, dass wir Rollenspiel sowohl mit einer "Geschichte" als auch einer Talkshow vergleichen können. Mein Vorgehen in dem Artikel war ja: ich stelle einen theoretischen Begriff der Erzählung vor und leite daraus einen theoretischen Begriff des erzählenden Rollenspiels ab, den ich anschließend auf die Rollenspielpraxis, bzw. einen Teil von ihr anwende. Man könnte auch anders vorgehen und sich fragen, was meinen die Rollenspieler eigentlich, wenn sie von der Rollenspielinteraktion als "Geschichte" sprechen, so wie du es etwa in deinem Post getan hat. Das dürfte sich häufig mit dem decken, was ich theoretisch beschrieben habe, oft aber auch nicht. Ich glaube, letztendlich handelt es sich dabei meist um eine Metapher, also einen Vergleich von Dingen, die ähnlich aber nicht identisch sind.  Ich finde es auffällig, dass es viele solcher Vergleiche gibt, man denke an den Bass-Player, wobei man sich Rollenspiel als musikalisches Geschehen vorstellen kann, den Vergleich mit dem Improvisationstheater oder eben meinen mit der Talkshow. Ich glaube, die Vielzahl der Vergleiche verdeutlicht, dass wir noch keine Sprache gefunden haben, die wirklich den Kern dessen trifft, was Rollenspiel ausmacht, sondern dass wir es weiterhin nur vage umschreiben. Wenn wir eine präzise theoretische Beschreibung des Rollenspiels erhalten wollen, müssen wir uns damit befassen, was diese Vergleiche jeweils leisten und was nicht. Die Musikmetapher zeigt etwa, dass es Dramatik und Dynamik geben kann, ohne dass etwas erzählt wird. Die Talkshowmetapher scheint mir ebenfalls hilfreicher als die Geschichtmetapher. In einem interessanten und gelungenen Gespräch gibt es kontroverse Standpunkte, Entwicklung und alle kommen mal zu Wort. Wer einen gelungenen Beitrag zu einem Gespräch machen will, muss einbeziehen, was sein Gegenüber interessiert, antizipieren ob es ihm Möglichkeiten zu einem eigenen Beitrag liefert und ihm zugleich etwas neues bieten. Gespräche laufen nie so ab wie man sie antizipiert. Sie können Geschichten umfassen, sind aber selbst keine. Klingt für mich wie etwas, was viel mit Rollenspiel gemeinsam hat.


Offline D. M_Athair

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Sorry, ich bin noch auch auf etwas gestoßen:

Zitat
[Asymmetrisches Spiel] Wenn jemand eine Geschichte erzählen will, müssen sich deren Protagonisten in der vorgesehenen Art und Weise verhalten, um ihre Rolle in der Geschichte zu erfüllen. Da sich die Spieler und damit auch ihre Charaktere für alles mögliche interessieren können, was mit der vom Erzähler erzählten Geschichte nichts zu tun hat, muss die Bedeutung ihrer Entscheidungen systematisch eingeschränkt und der Einfluss ihrer Subjektivität minimalisiert werden.
Ich glaube nicht, dass das hier Vorgestellte zwingend notwendig ist. A) Als Richtig sehe ich, dass das Interesse für "alles Mögliche" und vollige Handlungsfreiheit eine erhebliche Störquelle für erzählendes Spiel ist. Daraus folgt aber B) nicht, dass die Bedeutung von Entscheidungen systematisch eingeschränkt werden muss.

Gerade die "klassischen" Erzählspiele (klassisch, weil sie gegenüber anderen erzählerischen Rollenspielen, eine ältere Tradition haben) wie Prince Valiant Storytelling oder z.T. das Ghostbusters RPG (sowie als neueres Beispiel: das Lone Wolf Adventure Game) gehen nicht davon aus, dass Entscheidungen der Spieler wenig Relevanz für das Spiel haben sollen. Stattdessen verfolgen sie eine "Queste"-Struktur für ihre Abenteuer und operieren mit festen Rollenzuweisungen für die SC. Diese SC sind der Tafelrunde, ihren Werten und Problemen zugeordnet oder sind Kai Lords, bzw. deren Vertraute (auch hier gibt der Hintergrund einen Strauß an zwingenden Handlungsschemata vor). Weitere Handlungsoptionen erhalten die Spieler z.B. in PV, wenn die Runde mit Character traits spielt.
Die "Grundgeschichte" mit den zu behandelnden Konflikten, Nebenfiguren, etc. bleibt beim SL.

Das Ergebnis dieser Art von Erzählspiel ist, dass gerade wegen der Entscheidungsfreiheit eine spezifische Geschichte entsteht, bei der die Entscheidungen der Spieler einerseits große Relevanz haben, bei der andererseits die Erzählung des SL nie gefährdet ist.
Wenn man so will gibt es eine "platonische Geschichte" des SL im Reich der Ideen, die in der Realität vielerlei Gestalt annehmen könnte. Die Aufgabe der Spieler ist es, durch ihre Entscheidungen, einer Geschichte ins Dasein zu verhelfen. (Ganz verdichtet könnte man sagen, die Spieler wählen aus den Myriaden von Variationen der Geschichte des SL die aus, die ihnen gefällt.)

Ich hoffe, dass halbwegs verständlich ist, was ich versuche zu beschreiben.
Meinem Eindruck nach handelt es sich bei dem beschreibenen um eine grundsätzlich andere Herangehensweise an erzählendes, asymetrisches Spiel, als das, was DSA (2+) et al. kultiviert haben (und das im Blogartikel beschrieben wurde).
... dass Einsprenksel von symmetrischem erzählendem Spiel im klassischen Erzählspiel drin sind oder, dass der Anteil des geschehenden Rollenspiels besonders groß sein sollte, kann ich momentan eher nicht erkennen, da das Urbild der SL-Geschichte doch für diese Art zu spielen konstituierend bleibt.
« Letzte Änderung: 10.12.2015 | 20:22 von Contains Diseases »
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Offline Crimson King

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Aber abgesehen davon, müssen wir das überhaupt als erzählendes Rollenspiel betrachten? Du hast mir hier insofern eine goldene Brücke gebaut, als dein eines Beispiel offensichtlich aus der Kampagne kommt, die ich mit dir als Spieler geleitet habe. Ich leite kein erzählendes Rollenspiel - das heißt ich habe bei meinen Entscheidungen keine "Geschichte" vor Augen. Weder eine die von Anfang an fest steht, noch eine, die ich mit jeder Handlung der Spieler neu konzipiere.

Möglich. Für die These spielt das aber keine Rolle. Du magst so etwas, gesetzt den Fall, die Spielleitung reagiert erzähl- bzw. storygetrieben, eine Mischform nennen. Eine Spielrunde, in der die Spieler der Spielleitung Flaggen liefern, die diesem die Information geben, welche Themen die Spieler in ihrer Geschichte haben wollen, es gleichzeitig aber der Spielleitung überlassen, die über diese Flaggen hinaus gehenden Details dieser Geschichte zu präsentieren, würde ich aber schon als stark asymetrisch bezeichnen.
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Hallo zusammen,

ich finde es ist beim asymetrischen Spiel wichtig in welcher Form die Spielleitung ihre Spieler einschränkt.
Denn solche Einschränkungen kann man ja durch Setting, konkretes Abenteuer und Angaben wie gespielt werden soll setzen ohne das sie das eigentliche Spiel betreffen.
Auch im symetrischen Spiel kann man Metainformationen dadurch mitteilen das man einen Abenteuer Anriss mitteilt. Als Spieler kann man Metainformationen in seinem Charakter verpacken. Wenn ich mir einen Krieger aufstelle der perfekt mit schweren Waffen umgehen kann möchte ich doch eine andere Art von Ereignissen erleben als wenn ich mir einen schleichenden Dieb aufstelle.

Solche Einschränkungen und Informationen sind natürlich nicht perfekt aber sie eröffnen es Spieler und Spielleiter mit verschiedenen Vorlieben unter einen Hut zu bringen.

Gruß Jochen
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