„The Killing Game“ ist nach „In Thy Blood“ der zweite Regionalband mit einem Szenario für „Degenesis: Rebirth“ und beschreibt den Süden Frankas, genauer das Rhône-Delta, und wartet gleich noch mit einem packenden Abenteuer auf.
Der im Juni 2017 erscheinende Band kommt mit stolzen 211 Seiten locker auf den doppelten Umfang des ersten Regionalbandes. Zeitgleich mit der deutschen Version wird auch die englische erscheinen. Das Hardcover allein kostet 39,- Euro, die PDF-Version erscheint bereits Ende Mai und kostet 19,90 und die Kombination von Buch und PDF schlägt mit 54,90 zu Buche. Zusätzlich gibt es für 79,90 eine Variante bestehend aus Buch, PDF, Art Print und DLC. Ja, richtig gelesen, ein DLC. Das heißt nichts anderes, als dass die Käufer dieser Edition das Zusatzmaterial zuerst bekommen, später wird es regulär über den Webshop erhältlich sein.
Dieser Rezension liegt eine PDF-Version zugrunde, die jedoch bis auf den Text noch nicht hundertprozentig final war, da bis kurz vor Drucklegung noch an Illustrationen und Layout gearbeitet wurde. Danke an dieser Stelle an Sixmorevodka, die das Material zur Verfügung stellten.
Bevor es jetzt zum eigentlichen Buch geht, noch die übliche kleine Spoilerwarnung, auch wenn ich versuche, sie gering zu halten.
„The Killing Game“ folgt dem üblichen Aufbau der Degenesis: Rebirth-Reihe. Nach einer einleitenden Illustration und einem kurzen stimmungsvollen Prosatext folgt der eigentliche Inhalt des jeweiligen Kapitels. Wie gehabt ist der Text in zwei Spalten geteilt. Regeltechnisches wird in einer Randspalte behandelt, wobei dann der eigentliche Text in einer breiteren Spalte steht. Längere Regelabschnitte, NSC-Beschreibungen oder Hintergrundinformationen erhalten einen eigenen schwarz hinterlegten Textabschnitt, ansonsten findet sich der angenehm zu lesende pergamentene Hintergrund. Die vollfarbigen Illustrationen sind entweder ganzseitig oder auf der oberen Seitenhälfte zu finden, letzteres auch gerne mal doppelseitig. Einige wenige Illustrationen brechen aus diesem Schema aus und lockern das Layout angenehm auf.
Schreibfehler habe ich weniger als eine Handvoll gefunden, allerdings war das auch nicht der letzte Stand, es sind also angenehm wenige, wenn überhaupt. Großes Lob ans Lektorat.
Das Buch ist in vier Kapitel aufgeteilt, wobei das erste Kapitel „Gold und Artefakte“ auf über 60 Seiten die Regionalbeschreibung Südfrankas enthält, das zweite Kapitel „Das Schlangennest“ auf über 40 Seiten die verschiedenen Charaktere vorstellt, die für das folgende Szenario wichtig sind und auch getrennt davon eine Fülle an Plotaufhängern bieten. Die beiden übrigen Kapitel „Operation Mirage“ und „Der Tag des Phönix“ stellen schließlich das eigentliche Szenario dar und werden den Spielern alles abverlangen. Nicht umsonst steht auf der Rückseite des Buches „Toulon muss brennen“…
Die Illustrationen sind wie gewohnt großartig und suchen unter Rollenspielveröffentlichungen ihresgleichen. Manche Bilder wurden von mehreren Zeichnern als Varianten angefertigt, so dass es eine rege Beteiligung und entsprechende Möglichkeiten gab. Da ich Zugriff auf verschiedene Stadien des Buches hatte, bemerkte ich auch unterschiedliche Bildvarianten, denn einige wurden ersetzt oder zeigen eine andere Perspektive. In dieser Hinsicht wird also sehr viel getan und überlegt.
Vor allem fallen jedoch die zahlreichen Landschaftsbilder sehr positiv auf, denn sie vermitteln das Gefühl für die beschriebene Land- und Ortschaften ungemein. In den Szenarioabschnitten finden sich zwar immer wieder Bilder der NSCs in den jeweiligen Situationen, aber auch diese Situationen selbst wurden eindrucksvoll abgebildet und vermitteln intensiv die beschriebenen Szenen.
Meine persönlichen Lieblinge sind dabei eine Gruppe Spitalier auf einem Boot im Sumpf und die Bilder von Terres Putain und der Unya im Hafen von Toulon, denn für mich strotzen sie nur so vor Atmosphäre.
Kapitel 1 – Gold und Artefakte
Seit vielen Jahren kennt der Süden Frankas Frieden und Wohlstand, denn mit dem beherrschenden Pheromanten Murnakir konnte – so unglaublich es klingen mag – ein Waffenstillstand ausgehandelt werden, der es den Menschen ermöglicht, in Ruhe zu leben. Allerdings schmeckt das nicht allen, denn dieses Leben ist einem einzigen Mann zu verdanken, und das ist ausgerechnet ein Neolibyer namens Hamza. In Südfranka sorgen die Neolibyer durch das Marduk-Öl für zahlreiche Artefaktfunde, ihre Geissler befrieden die Gegend und die zahlreichen Klans arbeiten und verdienen am Frieden mit. Kurz, woran Chronisten, Wiedertäufer und Spitalier gescheitert sind, gelingt ihnen scheinbar problemlos. Das Zentrum und Herz dieser Bewegung ist Toulon, dem auch der längste Abschnitt gewidmet ist. Zunächst jedoch widmet sich das Kapitel der Rhône und den angrenzenden Gebieten. Vieles davon ist für Menschen feindliches Gebiet, seien es die Sümpfe, der Ammenwald oder die Wabenstadt, denn die Sümpfe Frankas sind nach wie vor die Brutkammer der verschiedenen Schwärme. Städte, besondere Orte oder Landstriche werden in einem eigenen Absatz beschrieben, das Phänomen der Drohnen (von Pheromanten gelenkte Leperos) oder die Idole der verschiedenen Absonderlichen werden ebenfalls beschrieben und erläutert.
Danach folgen im gleichen Aufbau die Gebiete ost- und westseitig der Rhône sowie die Mittelmeerküste. Hintergrundinformationen zu den wichtigen Städten wie Bevölkerungszahlen, Kultverteilung oder Warenherstellung werden dabei in einem Factsheet übersichtlich dargestellt.
Kernpunkt ist jedoch Toulon mit seinen fünf Bezirken: Cour Argent, das Herz von Hamzas Macht, Ferrallies, das Zentrum der Schrotter, Terres Putain, ein Schmelztiegel verschiedener Kulte und Kulturen, Port Lagagne, der Hafen, und Saint Chenil, das Armenviertel. Die Viertel werden jeweils mit ihren wichtigen Örtlichkeiten beschrieben und mit äußerst stimmungsvollen Bildern, welche die jeweiligen Besonderheiten des Stadtteils sehr gut einfangen, illustriert. So wirkt Cour Argent warm und lebendig, Ferrallies laut und geschäftig, Terres Putain abenteuerlich, aber interessant und Saint Chenil armselig.
Anschließend folgt eine zweiseitige Übersicht zu den Kulten in Toulon und das Kapitel endet mit einer Timeline der wichtigen Ereignisse in der Geschichte Toulons und mit der Gerüchteküche, die von einem äußerst treffenden Bild eingeleitet wird. Wo trifft man sich denn außer beim Einkaufen auf dem Markt am ehesten, um Klatsch und Tratsch auszutauschen? Beim gemeinsamen Gang zum öffentlichen Donnerbalken natürlich. Ich musste sehr schmunzeln, vor allem, da das Bild weder anrüchig noch auffällig wirkt, sondern sehr natürlich und ungezwungen und erst beim zweiten Blick offenbarte, was es eigentlich darstellte..
Allein mit diesen über 60 Seiten lassen sich zahlreiche Szenarien und Abenteuer spielen, denn Möglichkeiten gibt es viele. Die Texte sind atmosphärisch gehalten, statt trockener Beschreibungen fühlt man sich mitten im Geschehen. Hier wird ebenso konsequent die mit dem Grundregelwerk eingeschlagene Linie weiterverfolgt. Mit diesem Material kann (und sollte) ein Spielleiter seinen Spielern zunächst einmal die Gegend, die Stadtteile und die verfeindeten Gruppen vorstellen und die Gruppe kann sich dadurch eine Spielbasis schaffen, auf deren Grundlage sich das enthaltene Szenario deutlich einfacher spielen lässt. Zumal sich mit dieser Methode ein deutlich besseres Verständnis der Situation in Toulon entwickeln lässt.
Kapitel 2 – Das Schlangennest
Dieses Kapitel behandelt die sechs Machtblöcke und stellt sowohl ihre Ziele als auch die einzelnen wichtigen Vertreter dar, die allesamt im Szenario eine wichtige Rolle spielen werden. Aber auch für eine davon losgelöste Handlung finden sich hier zahlreiche Ideen und Ansätze für Szenarien.
Es finden sich „Die Herrscher Toulons“ (Hamza Abubakar III. und die Africaner), „Die Eisenbrüder“ (unzufriedene Schrotter, die am Reichtum nicht teilhaben können und sich abgehängt fühlen), „Kommando Requiem“ (die Drahtzieher des Umsturzes), „Die Schwarze Schar“ (Apokalyptiker des Mittelmeeres), „Die Feuervögel“ (quasi die Verschwörung innerhalb der Verschwörung) und den „Kessel“ (alle anderen, wobei zwei Sipplinge eine größere Rolle spielen, die übrigen drei sind eher losgelöst vom Szenario bzw. für danach relevant).
Die NSC-Beschreibungen erfolgen auch hier dem üblichen Muster: es gibt einen Hintergrundtext zur jeweiligen Figur, dann einen mit Spielhinweisen und dann die Werte. An der Seite findet sich ein S/W-Portrait, darunter Besonderheiten wie Ausrüstung oder neue und auf die Figur abgestimmte Potentiale.
Kapitel 3 – Operation Mirage
Und hier beginnt es. Der Bürgerkrieg oder das 72-Stunden-Rennen von Toulon. Dieses Szenario richtet sich aufgrund seines sandkastenartigen Aufbaus und der damit verbundenen Improvisationsmöglichkeiten an erfahrene Spielleiter, jedoch genauso auch an erfahrene Spieler(charaktere), denn die Anforderungen sind hoch.
Damit das bei Kapitel 1 angesprochene Netzwerk der Charaktere auch gut aufgebaut werden kann, finden sich hier mehrere Möglichkeiten, u.a. auch Eindrücke verschiedener Kultmitglieder, denen man begegnen kann. Man kann das Szenario auch an „In Thy Blood“ anschließen oder auch von einem anderen Startpunkt als Toulon beginnen. Ebenso ist es möglich, bei fast allen vorher aufgeführten Fraktionen mitzumischen.
Weiterhin findet sich eine Doppelseite mit Regelübersichten zu für das Szenario wichtigen Elementen wie Erschöpfung, Kugelhagel, Vorsicht, etc. – allesamt kurz und knapp mit Beispielen erläutert.
Der Prolog behandelt Szenen, die am Tag zuvor geschehen und auf den Bürgerkrieg einstimmen oder zumindest ein schales Gefühl hinterlassen. Damit ist dies der perfekte Einstieg in das kommende Geschehen. Hier werden mehrere Szenen geschildert, und je nachdem, wo die Charaktere sich aufhalten oder welchen Fraktionen sie sich zugehörig fühlen, können sie die entsprechenden Szenen erleben. Die Regeln dazu finden sich in den bereits bekannten Seitenspalten.
Diese Vorgehensweise wird weiterhin verfolgt: Es werden die einzelnen Elemente der Handlung dargestellt und beschrieben, fast schon in Prosaform, so dass es sich auch für den Spielleiter sehr spannen liest. Während es zu Beginn noch mehrere verschiedene Optionen und Handlungsmöglichkeiten gibt, verdichtet es sich nach und nach zu einem einzigen Handlungsstrang.
Das ist zum einen eine große Stärke des Buches, denn man findet den Ablauf dicht und kompakt vor, andererseits muss man als Spielleiter entsprechend improvisieren, wenn die Charaktere sich mit einer anderen als der vorgesehenen Seite verbündet haben oder sogar Teil der Operation geworden sind. Das verlangt viel Vorbereitung seitens des Spielleiters, aber sowohl die Szenen als auch die vorherigen Hintergründe sind entsprechend gut beschrieben, so dass es kein allzu großes Problem darstellen sollte. Zumal kann bei dieser offenen Form sowieso kein für jede Spielgruppe allgemeingültiger Ablauf vorgegeben werden. Damit ist diese Vorgehensweise eigentlich recht geschickt. Der „ideale“ Ablauf des Geschehens wird beschrieben und kann entsprechend angepasst werden.
Das Kapitel versteht es auf beängstigend gute Weise, das Chaos und die Verwirrung eines städtischen Bürgerkriegs mit ständig wechselnden Fronten, Informationen und Bündnissen wiederzugeben. Unerwartete Wendungen, neue Enthüllungen, viel Mysteriöses im Hintergrund („Wer greift hier eigentlich an und warum?“) sorgen für Spannung und treiben Puls und Adrenalin in die Höhe. Den Charakteren wird alles abverlangt, und das ist sind nur die ersten 48 Stunden...
Kapitel 4 – Der Tag des Phönix
Der dritte Tag bringt den tragischen Höhepunkt der Ereignisse und hier verdichtet sich die Prosaform des Ablaufes noch einmal, so dass der Spielleiter entsprechend vorbereitet sein muss.
Ohne zu viel zu verraten – das Ende ist ein heftiger Hieb in die Magengrube. Auf dem vermeintlichen Höhepunkt des Triumphes wartet nur noch der tiefste Fall. Wow. Das war echt heftig und ich vermag mir mögliche Reaktionen von Spielern und Charakteren gar nicht vorstellen. Allerdings ist es gerade hier durch verschiedene Aktionen seitens der Charaktere auch möglich, ein anderes Ende als das geplante herbeizuführen, was aber logischerweise nicht denselben heftigen Effekt hätte.
Abschließend gibt es noch den Epilog, der die Handlungen der letzten 72 Stunden zu einem Ende führt sowie ein Abschnitt „Der Tag danach“, der weitere Fäden aufnimmt und weiterspinnt, unter anderem auch das Rätsel aus „In Thy Blood“ um Jehammeds Scheibe.
Hierbei wirkt auf mich das Geschehen um einen alten Preservisten allerdings wie ein Fremdkörper, da es neben all den anderen Dingen passiert, allerdings zum Hintergrund der Region passt und ich vermute, dass es in späteren Publikationen wieder aufgegriffen werden wird.
Eine Übersicht zu Erfahrungspunkten für einzelne Szenen und Erreichtes sowie Übersichten zu generischen Gegnern, Ausrüstungsgegenständen samt Wertetabellen und einer Zeitleiste des Szenarios runden das Kapitel ab und beenden das Buch.
Abschluss
Allein schon die Regionalbeschreibung ist sehr atmosphärisch und bietet zahlreiche Möglichkeiten, sich im Süden Frankas ordentlich auszutoben. Das Szenario ist heftig und intensiv, richtet sich aber deutlich an erfahrene Spielleiter und Spieler.
Sixmorevodka ist hier etwas Besonderes gelungen, denn waren die Africaner zunächst Plünderer und Eroberer, zumindest wurden sie oft so dargestellt, sind sie hier ernstgemeinte Heilsfiguren und Hamza (stellvertretend für alle anderen) ein großartiger Sympathieträger. Demgegenüber steht die Barbarei der vermeintlich zivilisierten europäischen Kulte. Diese Verschiebung der Sympathien ist ein geschickter Schachzug, gerade nach der sonst doch sehr borcisch orientierten Sichtweise, was die Kulte betrifft. Umso mehr verstört das Ende dieses Bürgerkrieges.
Ebenso gefällt die Verbindung mit anderen Veröffentlichungen. Nicht nur werden Storyfäden aus „In Thy Blood“ weitergeführt, auch das Szenario aus dem Grundregelwerk wird wieder aufgegriffen, denn der Blechschmied hatte einen Bruder...
Ebenso wird durch immer wieder auftauchende kleine Fingerzeige auf das möglicherweise nächste Hintergrundbuch angespielt, denn sowohl Briton als auch Britain werden wiederholt genannt, außerdem fehlt zu Jehammeds Scheibe noch ein Teil und der Blechschmied hatte ja auch noch einen dritten Bruder.
Also, die Hoffnung auf „Black Atlantic“ wird wieder mächtig angeheizt.
Insgesamt also eine definitive Empfehlung, nicht nur aufgrund des sehr fordernden und packenden Szenarios, auch die Regionalbeschreibung und die zahlreichen, sehr atmosphärischen Bilder können für die Sümpfe Frankas begeistern.