3. Eine weitere Möglichkeit stellt natürlich die Realität selbst dar. Es wird auf einen Mythos und überhaupt auf Fantastisches verzichtet, denn die (mögliche) Realität ist bereits Horror genug.
Ich finde das Verhältnis zum Hier und Jetzt auch beim übernatürlichen Horror wichtig. Was z.B. Delta Green in meinen Augen gegenüber dem klassischen Cthulhu-Setting in den 20er Jahren auszeichnet - und die Autoren werden nicht müde das zu betonen -, ist der Versuch, das Geschehen so nah wie möglich an unsere Welt heranzuholen. An Entwicklungen, die wir in den Nachrichten verfolgen, an echte Orte, die wir in Google Earth finden oder besuchen könnten, an den Alltag von Menschen, von denen uns nicht knappe 100 Jahre trennen, sondern die wir in unserer Nachbarschaft oder im Urlaub (für deutsche Spieler(innen) wahrscheinlicher
) treffen könnten, an denen extreme berufliche Belastungen, Existenzängste, Familienstreitigkeiten oder Todesfälle nicht spurlos vorbeigehen. Alles Dinge, die moderne Filmdramas wie Force Majeure oder Serien wie die Sopranos, Breaking Bad oder True Detective auszeichnen und die man mit Drama-Rollenspielen wie Hillfolk ohne Weiteres spielen kann. Aber Horror ist diese Realität wenigstens für mich nicht. Da kann sie noch so furchtbar sein. Sie ist nur ein vertrauter Hintergrund, auf dem sich der eigentliche Horror umso stärker abzeichnen kann.
Was würde geschehen, wenn so ein Abenteuer auf das fiktive Element verzichten würde? Wenn es einfach darum geht, einen Fahrstuhl mit heiler Haut wieder zu verlassen, in dem ein paar Leute so lang eingeperrt sind, bis sie in Panik völlig die Kontrolle über sich verlieren? Wäre das nicht viel eindrücklicher, als irgendwelche albernen Monster zur Erklärung heranzuziehen?
Filme wie Panic Room, 127 Hours oder Buried machen vor, wie das aussehen kann. Eher Thriller als Horror, würde ich sagen. Der Kontrollverlust kann natürlich - übrigens auch beim oben genannten Drama [Filmbeispiel: Take Shelter] - auch in Richtung psychological und/oder personal horror gehen.
Ein gutes Beispiel für ein echtes Horror-Rollenspiel ohne übernatürliche Elemente ist Sorensens The Farm.
Was die Farm auszeichnet - und da komme ich wieder darauf zurück, was das
übernatürliche Element eigentlich soll, z.B. in Delta Green - ist, dass die Umstände ihrer Existenz und die sogenannten Headmaster vollkommen im Unklaren bleiben und es kein Entkommen gibt für die Protagonist(innen). Darauf kommt es meiner Meinung nach in einer Horror-Geschichte an und im Falle von Cthulhu/Delta Green kommt diese fundamentale Unsicherheit eben durch das Übernatürliche ins Spiel. Tentakel sind höchstens eine Nebenwirkung und stören mich dementsprechend nicht. Die "albernen Monster" dienen nämlich nicht der Erklärung. Ganz im Gegenteil.
Ehrliches Caveat: Diesen Effekt verliere ich natürlich, wenn die Spieler(innen) in einem Call of Cthulhu Szenario die Mythos-Kreatur schon nach dem ersten Clue als Byakhee identifizieren oder die Darstellung besonders klischeehaft, berechenbar oder unfreiwillig komisch ist. Das wiederum hängt mit davon ab, inwieweit die Gruppe bereit ist, sich auf das ganze Spiel einzulassen.
Andererseits hat die Realität für das Schaffen von Unsicherheit auch ihre Tücken. Das war die Frage bei SF-Horror. Naturwissenschaftliche Erklärbarkeit und so.
Eine fast perfekte Intensität in beide Richtungen hatte btw der Film Upstream Color von Shane Carruth. So muss ein Delta Green Szenario aussehen.