Ich habe den Band jetzt schon etwas länger, aber bisher keine Punkte vergeben, weil ich mit dem Setting einfach überhaupt nicht warmgeworden bin -- was mich selbst einigermaßen überrascht hat. Ich denke aber, mir wird inzwischen klar, woran das liegt:
Bergungskreuzer Möwe ist in gewisseri Hinsicht schlicht eine gewaltige Mogelpackung.
Was ich damit meine, läßt sich netterweise gerade an dem Satz "Wir schreiben das Jahr 1982" festmachen. Der mag zwar insofern rein technisch gesehen stimmen, daß die Kalender im Setting gerade auf dieser Jahreszahl stehen. Aber er könnte sich genausogut auch auf 1942 oder 1962 beziehen, ohne daß sich dadurch etwas Wesentliches an seiner Bedeutung ändern würde; mit den achtziger Jahren, an die ich mich persönlich so erinnere, hat die Welt des Bergungskreuzers praktisch nichts gemein. Kein kalter Krieg mit nuklearem Wettrüsten, weil die beiden Weltkriege ja erst gar nicht stattgefunden haben; weite Teile der Technik der 80er haben sich nie entwickelt (wo keine Computer, da wahrscheinlich auch keine Mikrochips und integrierten Schaltkreise; vernachlässigte Luftfahrt heißt kein schneller Flug nach Sonstwohin in die Ferien; und was die Abwesenheit von Satelliten bedeutet, machen sich heutzutage wohl die Wenigsten noch klar); und die sich gerade um diese Zeit in der Realität so allmählich -- gerade auch in Deutschland -- entwickelnden Ansätze von Umweltbewußtsein werden im Setting statt dessen vom allwissenden Erzähler explizit als haltlose Spekulationen abgekanzelt.
Also genug davon; Bergungskreuzer Möwe präsentiert, zumindest soweit es mich betrifft, definitiv keine "alternativen 80er". Wie finde ich aber dann den nötigen "Zugang" zum Setting?
Nun...da ist mir gerade heute eine etwas verrückte Idee gekommen: Bergungskreuzer Möwe ist statt dessen die Vision eines (deutschen und natürlich nationalpatriotischen) Zukunftsromanschreibers aus der Zeit von 1900 oder unmittelbar danach. Die Flugscheibe, die vom Himmel kommt, binnen kürzester Zeit den Meeresspiegel ansteigen läßt, und dann natürlich nur von der kaiserlichen Marine im letzten Moment noch besiegt werden kann? Klassisches SF-Motiv im Stil von Independence Day, Armageddon oder Krieg der Welten, nur halt mit deutschem statt amerikanischem bzw. britischem Lokalpatriotismus. Die politische und technische Entwicklung? Schlichtes Weiterschreiben dessen, was der Verfasser aus seiner Gegenwart schon kennt, natürlich mit ein bißchen Spekulation versetzt -- was er sich nicht vorstellen kann oder seinen Lesern nicht zumuten will, ob nun superschnelle Rechenmaschinen oder ein demokratisch regiertes Deutschland, taucht auch nicht auf.
Ich muß mir das Buch noch einmal irgendwann in Ruhe aus diesem Blickwinkel durchlesen. Vielleicht gebe ich dann doch noch eine Punktzahl ab.
Davon abgesehen, das jeder seinen eigenen Geschmack hat und es einem entweder gefällt oder nicht:
Das ganze hat doch an sich nichts mit Mogelpackung zu tun, sondern nur damit, das du dir keine 80er auf der Basis der alternativen (Vor)geschichte vorstellen kannst?
Außerdem habe ich irgendwie das Gefühl, du hast es dir gar nicht richtig angeschaut:
"Computer befinden sich gerade in der Entwicklung, gelten als Geräte für Exoten und niemand traut ihnen eine große Zukunft zu." - sprich, es gibt erste Computer.. Aber genau wie bei der Luftfahrt lagen die Prioriäten halt woanders.
Dann geht man halt einfach in Gedanken in der Geschichte der jeweiligen Teilbereiche etwas weiter zurück von der Entwicklung - und bei anderen (der Seefahrt, Windkraft, Gezeitenkraftwerke, etc.) deutlich weiter nach vorne. Soviel geistige Flexibilität sollte vorhanden sein.
Ansonsten empfiehlt es sich, sich eher auf Rollenspielsysteme wie DSA4.1 zu schauen, da ist dank der bücherschrankfüllenden Abhandlungen über jeden Furz der Raum für Fantasie und eigene Ideen entsprechend überschaubar gehalten. Allerdings finde ich dann gerade die Formulierung von wegen "allwissender Erzähler" sehr verwirrend und widersprüchlich - darüber hinaus, was bitte soll der Autor dieses Settings / Bandes denn bitte sonst machen als dir sein Setting vorzustellen? Das musst du mir erklären.
Und das es keinen kalten Krieg, keine Weltkriege gab etc pp. und all das was du beschreibst - das ist es doch, was die meisten so faszinierend und reizvoll an diesem Setting finden. Zumindest die, die auf Alternativweltgeschichte stehen. Das war doch denke ich für die meisten so der große Wow-Effekt - und sowohl das Jahr des Erstkontaktes (vor beiden Weltkriegen) als auch das Jahr in dem das Setting spielt (nahe genug, das man aus dem eigenen Leben bzw. Filmen ein paar Inspirationen ziehen kann und weit genug weg von der OT-Gegenwart, um nicht in Versuchung zu kommen das zu sehr aufs jetzt umzubiegen) ist super und sicher ganz bewusst vom Autor so ausgewählt worden sind.
Und alles andere - aber das ist vermutlich halt auch wieder ein Fimmel von mir und anderen Fans von Alternativweltgeschichte - lässt sich recht leicht erarbeiten, ein bisschen technisches Verständnis und Wikipedia vorausgesetzt. Keine Satelliten bedeutet in dem Setting vor allem, kein GPS. Aber Langstreckenfunknavigation, die zusätzlich zu GPS auch heute noch, im Einsatz ist und sehr genau funktioniert:
https://de.wikipedia.org/wiki/Funknavigation#Langstrecke oder auch hier:
https://aobauer.home.xs4all.nl/Navigati.pdf und vermutlich wäre das deutsche Kaiserreich auch auf Karl Hans Janke aufmerksam geworden statt ihn ins Irrenhaus zu stecken:
Die Idee des satellitenbasiertes Ortungssystem GPS ist schon ca. 70 Jahre alt und hat eine „wahnsinnige“ Vorgeschichte.[7] Im Jahr 1939 meldete in Berlin der deutsche Ingenieur Karl Hans Janke ein Patent für ein „Standortanzeiger, insbesondere für Luftfahrzeuge“ an. Das Patent wurde am 11. November 1943 erteilt und war dem GPS damals schon sehr ähnlich. Allerdings war die Zeit noch nicht reif für die Erfindung. Wegen zunehmender „chronisch paranoider Schizophrenie“ wurde der Wissenschaftler Janke, der auch viele andere Erfindungen hervorbracht hatte, 1949 wegen „wahnhaften Erfindens“ in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wo er bis zu seinem Tod 1988 verblieb. - wäre ein super NPC für die Möwe.. Aber ich verlier mich schon wieder in Ideen. (Das machen Fate-Settings aus mir, sonst wär ich bei DSA geblieben.)
Die Mogelpackung, bei der ich das Werk sofort weggelegt hätte, wäre der gewesen: "Bergungskreuzer Möwe ist die Vision eines (deutschen und natürlich nationalpatriotischen) Zukunftsromanschreibers" - wäh, nur ein Buch. Man spielt ein Buch im Spiel und hat schon von vornerein kein echtes was-wäre-wenn Gefühl und ich käme äußerst schwer rein.
Schreib nächstes mal einfach, dir gefällt das Setting nicht.
Aber bei einem Satz wie "schlicht eine Mogelpackung" musste ich jetzt diesen Thread leider wieder aufwärmen, das wird als Endpunkt dem ganzen nicht gerecht und geht irgendwie auch über das Kundtun persönlichen Geschmacks hinaus. Hättest es halt wieder zurückgeschickt sonst.