Die Kinder der Erde
Langsam ging die Sonne auf und liebkoste das Land mit goldenen, wärmenden Fingern. Die Flüsse und Seen in der weiten Ebene schimmerten wie Silber, und zwischen ihnen wiegte sich das Gras in endlosen grünen Wellen mit dem Wind. Vogelschwärme zogen am Himmel entlang, hoch über ihren Kronen, und Herden äsender Tiere zogen langsam zwischen ihren mächtigen Stämmen hindurch. Und mit ihren langen, starken Wurzeln horchten sie auf den Puls der Erde, ihrer Mutter.
Bis zum Horizont erstreckte sich das weite Feld der Kinder, jedes von ihnen stolz das Haupt in den Himmel reckend. Sie waren alt geworden, sehr alt, denn sie waren die größten Lebewesen von allen, und kein Feind vermochte ihre dicke Borke zu durchdringen, sie mit Krallen oder Fängen zu verletzen. Lange waren die Tage vorüber, da sie als junge Schösslinge um ihr Leben bangen mussten. Nun ragten sie majestätisch in die Höhe, jedes für sich und doch alle miteinander verbunden durch den Schoß ihrer Mutter.
Zeit hatten sie gehabt, so viel Zeit, in der Wind und Vögel in ihrem Geäst spielten, in der die Sonne sie wärmte und der Regen sie erfrischte. Zeit, um zu wachsen, nachzudenken und weise zu werden. Und das größte und weiseste und älteste aller Kinder stand in der Mitte der Ebene, umgeben von Seinesgleichen. Unzählige Winter hatte es schon verschlafen, nackt und kahl, nachdem es sein Laub verloren hatte. Und ebenso oft hatte es mit dem Frühling neue, frische Triebe gebildet, sich in saftiges, starkes Grün gehüllt, das es der Sonne entgegen streckte, wie zu einem stummen Gebet, ehe es Blatt für Blatt der herbstlichen Erde zurückgab, in allen Farbtönen schillernd.
So war es immer gewesen, so weit die Kinder zurückdenken konnten. Doch nun war alles anders geworden. Wesen waren gekommen, wie sie die Kinder noch nie zuvor gesehen hatten. Winzig klein, nackt und hässlich, ohne Fell, ohne Klauen oder Flügel, ohne Hufe oder jegliches andere Geschenk der Natur, waren sie erschienen. Hässlichen, bleichen Maden gleich wirkten sie, als seien sie nicht fähig, auch nur vom Sonnenaufgang bis zum abendlichen Dunkel zu überleben.
Aber sie hatten überlebt. Und sie waren in Scharen gekommen und hatten begonnen, die Tiere zu töten oder einzufangen. Sie hatten die Erde aufgerissen, um die kleinen Brüder und Schwestern der Kinder zu zwingen, dass sie nach ihrem Willen wuchsen, und um dem Leib der Mutter zu entreißen, was sie in der Tiefe fanden. Sie hatten das Wasser der Flüsse getrübt und die toten Leiber der Brüder und Schwestern zu Tempeln des Todes aufgeschichtet, in denen sie zu Füßen der Kinder hausten.
Und schließlich hatten die Kinder zu spüren begonnen, dass ihre Frevel die Mutter selbst krank machten. Nach und nach, Tag für Tag, Mondlauf für Mondlauf waren die stärkenden Säfte aus ihrem Schoß spärlicher geflossen, und nun drohten sie zu versiegen. Immer weiter und immer tiefer hatten die Kinder ihre Wurzeln ausgestreckt, um zu überleben, unfähig zu begreifen, wie diese kleinen, hässlichen, weichen und wehrlosen Maden es verstanden hatten, sich alle anderen Geschöpfe untertan zu machen und sogar die Mutter selbst zu schänden.
Das älteste aller Kinder stand noch immer in der Mitte der Ebene. Noch immer ragte seine Krone in den Himmel, und noch immer war sein Stamm der mächtigste und schönste weithin. Noch immer blickte es aus luftiger Höhe auf die hässlichen Maden hinab, die unter ihm auf ihren zwei dünnen Beinchen umher krochen. Doch tief in seinem Herzen ahnte es, dass die Zeit vorüber war, in der es den Wind, die Sonne und den Regen über sich ziehen lassen konnte, eins mit der Mutter, um im Winter sorglos und frei dem Morgen entgegen zu schlummern. Und als dann, eines Tages, eine unübersehbare Horde der hässlichen zweibeinigen Maden zu Füßen seines Stammes erschien, da wusste es: Die Zeit der Maden war angebrochen. Ihnen gehörte das Morgen, und sie würden das Antlitz der Mutter verändern.