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1. Your Game Will Vary (YGWV): RollenspielautoritätenIm ersten Regelwerk, das wir in die Finger bekommen, steht eine Erklärung drin, was Rollenspiel eigentlich sei und wie man das zu machen habe. Wir bekommen ein paar Beispiele, wie das Rollenspiel in der Praxis aussehen könnte, und am Ende oder als separates Produkt noch ein Beispielabenteuer, mit dessen Hilfe wir gleich mal ausprobieren können, wie das Beschriebene konkret umzusetzen ist.Erstmal läuft alles gut. Bis zu der Begegnung mit anderen Spielenden oder dem Regelwerk eines anderen Rollenspiels. Plötzlich müssen wir feststellen, dass Rollenspiel ganz anders definiert und erklärt wird, und die entsprechenden Beispielabenteuer sehen völlig anders aus als das, was wir ursprünglich kennengelernt haben. Nun ist die Frage, war die Definition in unserem ersten Regelwerk falsch, oder stimmt die nicht, die wir danach andernorts gehört/gelesen haben?Rollenspielende erzählen unheimlich gerne über ihr Hobby, so wie sie es spielen. Sie tun dies als Autor*innen von Regelwerken und Handbüchern, als Bloggende, Forist*innen, Youtuber, Teilnehmende an Stammtischen, Conventions oder -- heutzutage nahezu ausgestorben -- Abhängende in entsprechenden Fachgeschäften. Unter ihnen schwirren unzählige Definitionen, Vorlieben und Spielweisen herum. Es ist ein sehr vielseitiges, buntes Hobby, das sehr viele Bedürfnisse und Geschmäcker bedienen kann. Deshalb kann es nicht die eine richtige Definition oder Spielweise geben.Der Rollenspielverlag Chaosium hat deshalb für seine Produkte die Devise YGWV (Your Game Will Vary) eingeführt. Es ist hilfreich, wenn wir gleich zu Beginn, wenn wir uns mit unserem ersten Regelwerk beschäftigen, schon im Hinterkopf haben, dass das, was da drinsteht, womöglich nicht allgemeingültig ist für das ganze Hobby. Und für uns und unsere Spielgruppe ist es nur insofern gültig, als wir mit dieser Definition und Spielweise Spaß haben. Ganz gleich, wie geschwollen, überzeugt, bildhaft oder eloquent solche Erklärungen in Regelwerken oder anderswo auch vorgetragen sein mögen, es gibt keine Rollenspielautorität, die das alleinige Deutungsrecht hätte. Wir können und sollen probieren und experimentieren, um herauszufinden, was für uns passt und was nicht. Und am Ende wird unser Spiel immer zumindest etwas anders sein als das der anderen oder als das, was im Regelwerk beschrieben ist.2. Wie eigentlich?1974 kam in kleiner Auflage eine Schachtel mit einem Spiel auf den Markt, Dungeons & Dragons. Zum allerersten Mal bot ein Spiel ein Regelgerüst, um Figuren in einer Fantasywelt zu erschaffen, zu "verkörpern" und mit ihnen Abenteuer zu erleben. 1974 gab es weder Internet noch Youtube. Die meisten Leute, die sich Rollenspiele in den 70er-Jahren gekauft haben, arbeiteten sich durch die Regelhefte und standen vor der Frage: Wie zum Henker soll das denn gehen? Denn es gab noch keine jahrzehntelange Rollenspieltradition, noch keine Foren, Blogs, Youtube-Filme. Alle Neuspielenden waren zunächst mal Einzelkämpfer und mussten das Spiel so spielen, wie sie dachten, dass es gespielt werden könnte, und wie es ihnen am meisten Spaß machte.Dungeons & Dragons wurde innerhalb weniger Jahre zu einem Massenphänomen, und viele andere Rollenspiele folgten, der Markt explodierte. Sprich: die Leute, die alle irgendwie nach Gutdünken mal drauflos gespielt hatten, hatten damit offenbar insofern voll ins Schwarze getroffen, als dass sie Spaß hatten. Sie hatten es also anscheinend nicht "falsch" gemacht.Heute gibt es eine jahrzehntelange Rollenspieltradition, es gibt viele unterschiedliche "Schulen", es gibt unzählige Anleitungen, Tipps und Tricks, Foren, Blogs etc. Heute kann man sich monatelang damit beschäftigen, sich von anderen erklären und zeigen zu lassen, wie man Rollenspiele tatsächlich spielt. Das ist einerseits ein Luxus, andrerseits kann das aber auch zu Erwartungshaltungen und Erfolgsdruck oder gar Verwirrung führen. Die Masse an Spieltipps und Anleitung kann überwältigen.Allerdings spricht nichts dagegen, es genau so zu machen wie die Pioniere in den 70ern: So, wie man denkt, so, wie man am meisten Spaß hat. Sich rantasten, seinen eigenen Weg suchen, verwerfen, was nicht klappt, beibehalten, was klappt. Wenn die Pioniere ohne Anleitung durch alte Hasen zu begeisterten Rollenspielenden wurden, dann können wir das theoretisch heute auch.