Das ganze Gerede über
Gamism und „Spielen mit Absicht“ (im
Big Model Thread) hat mir eine Runde auf der NordCon 2004 ins Gedächtnis zurück gerufen. Diese Runde war meiner Meinung nach eine schöne Demonstration von kohärentem Spiel. Soll heißen, alle Beteiligten haben dasselbe Spielziel („Creative Agenda“) verfolgt, und das war sicher einer der Gründe, warum diese Runde so viel Spaß gemacht hat.
Tyria Tom und SireThomas hatten eine gemeinsame Runde am Samstagmorgen angesetzt. Tyria-Setting, Osiris-Regeln. Doppel-SL. Juhanito und ich waren gerade frisch eingetroffen, und nachdem Ludovico irgendwohin abschwirrte und wir noch was zum Spielen suchten, ließen wir uns von SireT direkt anwerben. Projekt Odyssee ist ja eh immer eine gute Adresse.
Es waren nur insgesamt vier Spieler da, die anderen beiden waren ein Mann und eine Frau, die sich offenbar ebenfalls kannten. Tom und SireT boten uns an, das Abenteuer als Vierer-Gruppe zu spielen statt als zwei konkurrierende Gruppen, aber wir entschieden uns, zwei Zweier-Teams zu bilden. Luxus pur! Zwei SLs für nur vier Spieler. Damit war auch klar, dass die Charaktere gegeneinander antreten würden, und somit war ein wichtiger Parameter für das nachfolgende Spiel schon mal explizit und von Missverständnissen ausgeschlossen.
Gleichzeitig war es nahe liegend, dass es eine „Aufgabe“ zu lösen geben würde. Und alle Spieler haben dabei auch von Anfang an mitgezogen (soweit ich das beurteilen kann, habe nicht alles vom anderen Spieltisch mitgekriegt). Niemand hat also versucht, „ein anderes Spiel zu spielen“ als vorgesehen.
Tom gab uns eine Einführung in das Setting. All sein Herzblut steckt in Tyria, und das merkt man auch. Er blühte richtig auf, als Juhanito ein paar Kommentare zur Architektur abgab und sich generell interessiert zeigte. Unserer Charaktere lebten alle auf einer großen Insel, deren Namen ich leider vergessen habe, die zu einem Südsee-mäßigen Archipel gehörte, jedoch komplett bebaut war von einer frühindustrialisierten Gesellschaft mit Steampunk-Elementen. Ein gigantisches Rohrpost-Netz, dampfbetriebene Automobile („Ypsomobile“), Fabrikschlote und abgerissene Arbeiterviertel voll halbverfallener Backsteinkasernen.
Wir wählten dann Charaktere. Juhanito spielte einen heruntergekommenen Casanova und Hochstapler, ich spielte einen ehemaligen Seemann und Preisboxer. Die anderen beiden hatten eine ähnliche Fähigkeitenverteilung: Der Mann spielte eine hübsche Frau, offenbar ebenfalls eine Betrügerin, die Frau spielte den „Großen“, einen Hünen von Kerl und offenbar ebenfalls ein Nahkämpfer.
Wir begannen das Spiel, indem wir ein bisschen die Lebensumstände unserer Charaktere in den Armutsvierteln der Insel beleuchteten. Diejenigen, die sich für GNS interessieren, werden jetzt vielleicht schreien: „Ha! Simulationismus! Inkohärenz!“ Das ist eine wichtige Sache, die dieses Beispiel vielleicht besser zeigt als jede abstrakte Erklärung: Exploration gehört zum Rollenspiel dazu. Sie ist Teil jeder Creative Agenda. In diesem Fall haben wir ein bisschen Setting und Setting-Color „exploriert“. Aber jede kritische Entscheidung, und ich meine jede, die wir zu treffen hatten, haben wir als Gamisten getroffen. Leistung, Risiko, Belohnung. Wir haben auf Plausibilität geachtet, darauf, nichts völlig Charakter-untypisches zu tun. Aber das war bloß Teil der Leistung! Wir haben zu keiner Zeit eine ineffiziente Entscheidung getroffen, weil es „cool“ gewesen wäre oder weil es „besser zu unserem Charakter gepasst hätte“. Kein Simulationismus weit und breit in Sicht. Wir sprechen hier von High Exploration Gamism, mit ausgeprägtem Wettbewerb auf Spieler- und Charakterebene.
Es ging also los, wir erhielten einen Job von einem Hehler, mit dem wir zusammenarbeiteten. Die Tochter eines reichen Kerls war verschwunden, wir sollten sie aufspüren. Recht schwache Motivation, nicht übermäßig glaubwürdig, aber wen juckt das? Aufgabe ist Aufgabe. Wir sind also ein bisschen recherchieren gegangen und fanden heraus, dass sie beim Bordell-Papi war. Ja ja, da hat sich der gute Tom von der DSA-Andeutungs-Wut anstecken lassen. Puff Dady war in Town. Die Ureinwohner des Archipels, die „Pygs“, hatten nämlich eine sehr eigene Musik mit Trommeln und Sprechgesang. Und einige der Gruppen erfreuten sich beim Pöbel großer Beliebtheit. So residierte Bordell-Papi im teuersten Hotel der Stadt, und unsere Zielperson war ein Groupie.
Wir entwickelten also Pläne, sie da rauszuholen, wobei wir auch gelegentlich mit dem anderen Team zusammentrafen, das denselben Auftrag hatte, und keine Gelegenheit ausließen, uns gegenseitig in die Scheiße zu reiten. Juhanito und ich übertrumpften uns gegenseitig mit unseren Einfällen. Wir fanden einen Weg, als Feinkosthändler getarnt in das Hotel einzudringen, und verbündeten uns mit Papis dicker Mama, die für die kleine weiße Schlampe nichts übrig hatte. Später gingen wir auf ein Konzert der Band – wieder ein gehöriges bisschen Exploration ohne Sim – und neutralisierten uns mit dem anderen Team gegenseitig.
Es wurde während des gesamten Abenteuers sehr wenig gewürfelt. Keiner von uns kannte das System oder verstand es gut genug, um die Werte seines Charakters wirklich effektiv einzusetzen. Siehe da: Man braucht keine Regelfuchserei, um gamistisch zu spielen. Leistung, Risiko, Belohnung, all das spielte sich in diesem Fall auf der In-Game-Ebene ab, und nicht auf der Regel-Ebene. In beiden Fällen wird das „System“ im Forge-Sinne bemüht. Doch die einzige Regel, die wir in diesem Falle geritten haben bis zum Anschlag, war die Regel der In-Game-Kausalität.
Am Ende hatten wir die Frau und die Knarre, das gegnerische Team war unbewaffnet, uns jedoch dicht auf den Fersen. Wir sprangen gemeinsam in ein Ypsomobil und flohen vor Polizei, Hotelpersonal und wütenden Pygs. Da die Zeit fortgeschritten war und die Runde zum Ende kommen musste, boten wir den anderen einen Handel an und teilten die Belohnung. Ich fand, Juhanito hätte ihnen ruhig etwas weniger als die Hälfte anbieten können. Schließlich war offensichtlich, das wir gewonnen hatten.
Wir hatten es geschafft, unsere Aufgabe zu lösen, ohne dass irgendwelches Blut geflosssen war, und hatten dabei unsere Charaktere immer „gut gespielt“. Wenn das keine Leistung war. Ich hatte riesigen Spaß und auch Juhanito war begeistert. Für mich immer noch eine der schönsten Arten, Rollenspiel zu machen: Straighter sauberer Gamismus, mit wenig Regel-Crunch und viel Exploration und Color, viel Tempo, solidem Wettbewerb auf Spieler- und Charakterebene, aber ebenso solidem Fairplay unter den Beteiligten.