Hallo Mann ohne Zähne!
Ich habe einen Kommentar zu diesem Text auf deinem Blog gepostet, aber ich denke, es kann nicht schaden, ihn hierher zu kopieren, da dieses Thema noch nicht ganz erkaltet ist und ich inzwischen selbst einige neue Einsichten gewonnen habe. Ich möchte noch mal auf den Kern deiner Spielweise zurückkommen:
Rollenspiel als Katalysator echter Gefühle.
Ich bin ein Tagträumer. Ich mache es nicht mehr so häufig wie früher, als ich noch ein Teenager war. Aber manchmal passiert es mir noch heute, dass ich in heller Aufregung in meiner Wohnung auf und ab laufe, von einem Zimmer ins andere, manchmal gar einen Luftsprung mache, während ich mir in meinem Kopf Dinge erträume. Hunderte von Lebenswegen habe ich auf diese Weise eingeschlagen, habe Filme und Fernsehserien gedreht, unglaubliche Abenteuer erlebt und nicht selten auch Rollenspielcharaktere bei ihren Abenteuern verfolgt. Ganz alleine.
Rollenspiel als „aristotelisches Spiel“ ist gleichsam die Gruppenvariante dieser Tagträumerei. Sie erlaubt es, auf eine halbwegs erwachsene, nicht-peinliche Art, diese Träume miteinander zu teilen und sich von der Begeisterung der anderen Mitspieler inspirieren und tragen zu lassen.
Oft wird angenommen, „immersives Spiel“ setze voraus, dass der Spieler eins mit dem Charakter wird und vergisst, dass er zugleich Autor der Geschichte ist. Teilweise klingt das bei dir auch so, andererseits räumst du jedoch ein, dass man den Charakter durchaus noch aufgrund von Spieler-Motiven („ich will Trauer erleben“) steuert. Ich sage: Auf die Identifikation mit einem einzigen Charakter kommt es nicht an, sondern auf das Eintauchen in den Traum.
Nimm meine Tagträume. Ich bin der einzige, der sie erträumt. Ich habe keinen Spielleiter, der mir „Full Customer Service“ leistet und es mir erlaubt, eine einzige Rolle zu übernehmen und alles andere von außen serviert zu bekommen. Dennoch bin ich in der Lage, ganz in diesen Träumen zu versinken, bis zu dem Grad, dass Tränen der Freude oder der Wehmut über mein Gesicht laufen. Daher behaupte ich: Totale Identifikation mit einem bestimmten, einzelnen Charakter ist nicht Voraussetzung dafür, dass Rollenspiel echte, tiefe Gefühle in einem Spieler wachruft. Im Gegenteil hilft es dem Spieler oft, wenn er sich nicht einfach nur zum Spielball des Spielleiters und des Zufalls macht, sondern das Geschehen gezielt beeinflusst, um bestimmte Situationen herbeizuführen, die er gerne erleben möchte. Ebenso wie ja, um die Metapher aufzugreifen, der Kanufahrer sich nicht nur treiben lässt, sondern sein Paddel in die Wellen taucht.
Das Problem mit den Forge-Spielen, die du meinst, ist nicht Narrativismus. Vergiss den verdammten Narrativismus. Es hat auch nichts mit Spiel und Spielzeug zu tun. Das Spiel ist „aristotelisches Rollenspiel“, das Spielzeug heißt Everway oder WuShu oder Setting XY.
Das Problem mit PtA, Dogs und anderen Spielen ist, dass sie formell sind. Die Macht eines Spielers, Dinge in der gemeinsamen Fiktion passieren zu lassen, stützt sich stark auf abstrakte Regeln und Prozeduren, sodass der Spieler, wenn er die Fiktion verändern, den Traum weiterspinnen möchte, gezwungen ist, sich von eben dieser Fiktion, dem Traum, abzuwenden und sich zunächst mit den Regeln und Prozeduren zu beschäftigen. Im klassischen, sogenannten „immersiven“ Spiel hingegen wird sich der Spieler der Fiktion zuwenden, um auf der Grundlage der etablierten fiktiven Inhalte und der inneren Logik des Traums diesen weiterzuspinnen. Die Regeln sind dann erst der zweite Schritt, um ggf. zu bestimmen, was dabei herauskommt. Bei den Forge-Spielen jedoch sind die Regeln oft der erste Schritt, und dann erst wird der Bezug zur Fiktion hergestellt. Dadurch entsteht die von dir bemängelte Distanz, die auch mich stört.
Die gleiche Distanz entsteht aber auch dann, wenn beispielsweise ein umfangreiches und abstraktes Kampfsystem in Aktion tritt und dich zwingt, in Sonderfertigkeiten, Initiativboni und Abzügen für multiple Aktionen zu denken, statt einfach zu sagen, was dein Charakter in der Situation, die du dir lebhaft vorstellst, tun möchte. Also immer dann, wenn die Regeln nicht an die Fiktion anknüpfen, sondern umgekehrt.