Wie versprochen habe ich am Samstagvormittag „Am Scheideweg“ geleitet. Mitspieler waren Kamillo, Tobias und (anfangs) Leonie. Da wir nicht sofort nach dem Frühstück anfingen, blieben uns nur ca. 2 Stunden. Die erste Stunde ging drauf für Regelerklärung (ich musste auch ein paar Sachen nachlesen) und Charaktererschaffung. Die zweite Stunde war Spiel. Als Setting wählten wir London.
Tobias spielte den Vorstand einer Stiftung, die Nachwuchskünstler förderte, der seine Stellung missbrauchte, um junge Künstlerinnen flachzulegen. Seine Vorsehung war Kunst, sein Verlangen Sex.
Kamillo spielte einen gealterten Kriegsreporter und Fotografen, Vorsehung ebenfalls Kunst, Verlangen Geltungssucht. Im Gegensatz zu Tobias’ Charakter hatte dieser seinem Verlangen aber bisher widerstanden.
Leonie spielte ein naives, streng gläubiges Landei, das in die Stadt kam, um die Menschen zur Erlösung zu führen (also zum Glauben zu bekehren). Vorsehung: Erlösung, Verlangen: Genuss.
Vielleicht können die Spieler noch die genauen Werte ihrer Charaktere posten. Es schien mir, die Vorsehung machte allen Spielern mehr Probleme als das Verlangen. Vielleicht liegt es ja an unserer sittenlosen Zeit. Vielleicht sind die Beispiele aber auch nicht so griffig bzw. sprechen den Leser nicht so an. Vielleicht müsstest du da noch ein bisschen überlegen, was für Beispiele in einem abgestumpften Menschen von heute noch den Idealisten wecken könnten.
Ich fing dann an, mit den einzelnen Charakteren ihre „Offenbarungsszenen“ auszuspielen und versuchte, dabei jeweils eine eigene und zum Charakter passende Färbung reinzubringen, wobei die erste Szene (Kamillo/Dämon) noch etwas blass blieb, ich mich aber steigern konnte und natürlich Tobias’ Verlangen eine Steilvorlage für mich war. Kamillos Dämon war eine mysteriöse Frau, die ihm sein Gesicht am Picadilly Circus versprach. Tobias’ Engel war ein kleines, unschuldig wirkendes Mädchen, das ihn überraschte, nachdem er gerade eine seiner Jung-Künstlerinnen missbraucht hatte, die dabei zu weinen anfing. Leonies Engel war ein zum Leben erwachtes Marienbild in einer abgeschiedenen, verbauten kleinen Kirche. Tobias’ Dämon war eine ziemlich heiße Frau in einer ziemlich verruchten SM-Bar.
Zwischendurch spielten wir auch 3 normale Szenen, einmal waren Tobias und Kamillo auf einem Presseball und bemerkten zum ersten Mal, dass sie andere Auserwählte spüren konnten. Danach wurde Kamillo von dämonischen Hunden angefallen, die er jedoch besiegte. Und schließlich kam es nach einer seltsamen Taxifahrt zu einem Kampf mit zwei Möchtegern-Rockern, denen die Charaktere ebenfalls eine blutige Nase verpassten und die sie dann zu einem Treffen der Feuerspringer bei einem verlassenen Dock einluden.
In diesen Szenen wurden auch Karten gespielt, es gab mehrere Konflikte und auch ein Veto: Als Kamillos kriegserprobter Alt-Revoluzzer den aufschneiderischen Rockern gleich mit der Faust ins Gesicht wollte, war Tobias dagegen. Ich warf jedoch eine Karte zu Kamillos Gunsten in die Waagschale, und so blieb es dabei.
Tobias spielte einen König aus und wählte eine Vorsehungs-Kraft, wobei er nicht so recht wusste, was er nehmen sollte und schließlich auf meinen Vorschlag bei einem nicht näher spezifizierten Kampf-Dingens landete. Da er Vorsehung bisher nicht steigern konnte, konnte er diese Kraft aber noch gar nicht anwenden, und dabei blieb es auch für den Rest der Sitzung. Andererseits wollte er sie nach der doch recht heißen Szene in der SM-Bar auch gar nicht mehr haben, sondern Verlangen hochsetzen, was aber wiederum nicht ging mangels Buben. Ein paar Überlegungen zum System:
- Wenn ich es richtig verstanden habe, nehme ich eine Kraft auf Stufe 1 (Vorsehung/Verlangen), und die bleibt dann auch Stufe 1, egal wie viele Punkte ich drin habe. D.h. ich muss haufenweise Buben ausspielen, um die auf einen höheren Level zu bringen, wo sie einen brauchbaren Bonus bringt, aber sie bleibt eine „kaum wahrnehmbare Kraft“. Wäre es nicht vielleicht netter, wenn die Stärke der Effekte mit den Punkten, die man in der Kraft hat, zunimmt? Schließlich soll es doch ein „oh yeah, ich habe Kewl Powerz“ Spiel sein und kein „ich habe irgendwie so Powerz aber die machen eigentlich nicht viel“ Spiel.
- Wir hatten Schwierigkeiten, auf eine zur Vorsehung passende Kraft zu kommen. Hier wären Beispiele gut, z.B. zu jedem Beispiel-Verlangen und jeder Beispiel-Vorsehung ein paar Beispiel-Kräfte. Oder eine Reihe Kräfte mit Beispielen passender Vorsehungen/Verlangen.
- Wir haben jetzt nur kurz gespielt, aber in einer Stunde Spiel wanderten bei SL + 2 Spieler vielleicht, lass mich nicht lügen, 10-12 Karten über den Tisch. Wenn man das hochrechnet, wird das Blatt nach ca. 4-5 Stunden aufgebraucht, d.h. in einer Sitzung gibt’s im Schnitt 2 Buben pro Charakter. Und wenn ein Spieler Pech hat, für seinen auch mal gar keinen. Scheint mir eine zu langsame Charakterentwicklung zu sein. Klar, für Vampire-mäßige Mammutkampagnen vielleicht nicht unangebracht, aber wenn man ehrlich ist, wird „Am Scheideweg“ doch wohl hautpsächlich für One Shots oder Kurzkampagnen eingesetzt werden, und dann wäre eine schnellere Progression gut. Ich würde vorschlagen, z.B. die Asse als weitere Steigerungs-Karten zuzulassen.
- Nicht ganz klar war uns, welche Karte für den Konfliktausgang maßgeblich ist: Der Bube, oder die nachgespielte Karte? (Wir haben dann letzteres angenommen.)
- Grundsätzlich finde ich die Idee toll, dass man frei darin ist, durch das Ausspiel einer Karte die Verlangen/Vorsehung-Skala zu beeinflussen, und eben selbst entscheiden muss, wann und warum man es tut. Unser Testspiel hat aber an dieser Stelle eher frustriert, weil die passende Karte dann eben nicht zur Hand war. Das wird verschärft durch die „Bube und nachgespielte Karte der gleichen Farbe“ Regel. Tobias hatte eine Kraft gekauft, konnte aber Vorsehung nicht hochsetzen. Und als er dann nach der Sex-Szene die Kraft direkt wieder streichen und Verlangen auf 1 setzen wollte, was echt cool gekommen wäre, ging das auch nicht. Außerdem: Du willst ja, wie ich aus dem Hintergrund entnehme, einen langsamen Aufstieg der Charaktere, und kein wildes Schwanken. Also, hm, vielleicht doch eher so eine Art „Hierarchie der Sünden“ wie bei Vampires Humanity? Und dann wird rauf/runter gesetzt, durch den Spieler? Die anderen können ja immer ein Veto einlegen... Oder einfach am Ende jeder Sitzung oder jeder zweiten Sitzung einen hoch? *grübel*
Vom Hintergrund/Leiten her habe ich mich ziemlich auf meine Intuition verlassen und einfach irgendwelche stimmungsvoll-mystischen Dinge auf die Charaktere geschmissen. Das war für eine Stunde ganz okay, aber früher oder später hätte ich halt NSCs mit Zielen gebraucht. Dazu konnte ich ehrlich gesagt aus dem „rudimentären Hintergrund“ nicht viel ziehen, das war alles doch eher vage bzw. die ausgearbeiteten zwei Gruppierungen waren mir zu klischeehaft. Und: Ich hab nicht richtig verstanden, was die wollen/sollen, so im heiligen Krieg. Ich fänd’s cooler, wenn Gruppierungen auf Stufe 1 eigentlich nur ein paar unorganisierte planlose Spinner sind und nicht irgendwelche streng hierarchischen Organisationen.
Auch ging ich eigentlich eher von so was bliblisch-mystizistischen aus, wozu dann aber so Sachen wie die Kreatur in der Kanalysation von Paris, so cool sie auch sein mag, nicht so passen wollten. Oder auch diese Dämonenhunde: Ich habe sie jetzt verwendet, aber was sind die eigentlich, und
warum greifen sie niedere Auserwählte an?
Was das Spiel doch braucht, ist ein stimmiges Geflecht aus Wesenheiten und Organisationen in verschiedenen Schichten, mit nachvollziehbaren Zielen. Obendrüber der heilige Krieg selber und worum es dabei geht. Und dazwischen die Individuen mit ihren eigenen, von Vorsehung oder Verlangen diktierten Machenschaften. Und dann muss man die Charaktere da halt irgendwie reinziehen, aber das wie, das ist mir auch noch nicht ganz klar. Daran krankt m.E. auch Unknown Armies. Das ist ja alles schön geheimnisvoll und so, aber wenn man mir nicht sagt, was
wirklich abgeht, kann ich damit keine Abenteuer vorbereiten.
Also ich würde mir mal ein paar Beispiel-Szenarien wünschen, damit das klarer wird. Ich könnte mir was relativ freies, Bass-Playing-mäßiges vorstellen, aber andererseits lese ich da von Kommandomissionen... ja wie jetzt? Die Charaktere als Team? Und was, wenn sich der eine für Vorsehung und der andere für Verlangen entscheidet? Oder sollen sich alle für das gleiche entscheiden? Kommandomissionen mit den Charakteren als Team sehe ich eher nicht bzw. wüsste ich nicht, wie ich das als SL einfädeln sollte. „Kommen ein Tremere, ein Toreador, ein Brujah und ein Caitiff in ne Bar...“ Ähm, nee.
Okay, das war jetzt hart. Also ich denke, in Sachen Hintergrund/Core Story bist du noch am Schwimmen. Ich sehe aber nach wie vor viel viel Potential in dem System und der Sache mit den Karten. Und auch dieses atmosphärische Grundding, ein Dämon offenbart dir dein Verlangen und ein Engel deine Vorsehung, ist cool, mit dieser oldschool „God’s Army“-mäßigen biblisch-okkulten Mystik. Da kann jeder sofort was mit anfangen, das ist doch das Schöne. Nur darf man es eben dann nicht mit weiteren Klischees überfrachten, sondern im Nachklapp muss dann was Originelleres kommen.
Fazit: Die „Offenbarungs“-Szenen waren cool und haben uns viel Spaß gemacht, Konflikte und Veto funktionieren gut, Steigerung zu schleppend, Veränderung der V/V-Skala durch Karten ist vielleicht zu überdenken, aber System sieht trotzdem gut aus! Bessere Beispiele für Vorsehung und überhaupt Beispiele für Kräfte wären noch schön. Hintergrund: Noch mal von vorne anfangen.